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Rom 1961
Wann war sie jemals zu spät gekommen?
Luigi konnte sich nicht erinnern, dass es irgendwann einmal passiert war. Jeden Morgen kam sie in seine Bar, um ihren ersten Espresso des Tages zu trinken.
Simonetta de Rosa, die es geschafft hatte, sich innerhalb von elf Jahren gegen Paris und seine Modestars wie Coco Chanel, Balenciaga und Yves Saint Laurent durchzusetzen. Ihre Kreationen zierten die Cover der internationalen Modemagazine.
La Simonetta, wie die Römer sie liebevoll nannten. Durch sie war Rom Italiens Modestadt Nummer eins geworden und hatte Florenz in dem heimlichen, aber erbitterten Wettstreit um diesen Titel geschlagen. Rom war stolz auf seine Simonetta de Rosa.
Luigi wurde unruhig. Durch die Tür beobachtete er seine beiden Kellner, die die Tische auf dem Gehsteig vor der Bar aufstellten, die Stühle aufklappten, Kissen darauflegten und Aschenbecher mit Luigis Logo auf den Tischen platzierten. Auch Luigi hatte es geschafft. In den Jahren nach dem Krieg war es ihm gelungen, aus einer kleinen Kneipe die angesagteste Bar Roms zu machen. Er hatte sie eröffnet, als die Via Veneto noch eine unbekannte Straße gewesen war und die Fotografen noch nicht Paparazzi hießen.
Heute fuhren sie auf ihren knatternden Vespas oder in offenen Cabrios bei ihm vorbei, immer auf der Lauer, immer bereit, ein Foto zu schießen, das Geld und Anerkennung brachte, und unter den vielen unbekannten Filmsternchen, die sich ab Mittag hier vor Luigis Bar drängelten, einen wirklichen Star zu entdecken. Oder am späten Abend eine skandalöse Affäre aufzuspüren.
Jetzt kam Mario herein, sein ältester Kellner, und legte die drei wichtigsten Boulevardzeitungen auf den Tresen. Schweigend gab er Luigi mit dem Kopf einen Wink, einen Blick darauf zu werfen. Simonetta de Rosa auf allen Titelseiten - und direkt daneben ein Foto mit einer grellen Überschrift. Luigi erstarrte, als er sie überflog.
Genau in diesem Moment kam sie herein. Hastig ließ Luigi die Zeitungen unter dem Tresen verschwinden. Hatte Simonetta es bemerkt, kannte sie bereits die Titelstory, die heute die Boulevardpresse beherrschte? Kam sie deswegen zu spät?
Sie trug ein schmales weißes Kleid, um den Kopf hatte sie sich einen schwarzen Chiffonschal geschlungen. Mit dieser glamourösen Art, ein Tuch zu tragen, hatte sie vor einigen Jahren einen Trend gesetzt. Fast alle italienischen Filmstars trugen jetzt ein Tuch um den Kopf, es sah modisch und auch ein wenig dramatisch aus. Und es gab jeder Frau diesen gewissen Hauch Glamour.
Simonetta begrüßte Luigi und lehnte sich an die Theke, ohne sich auf einen der Hocker zu setzen. Dann drehte sie sich zur Seite und nickte wie an jedem Morgen dem Mann am hinteren Ecktisch zu, der immer bereits dort saß, wenn Simonetta kam. John Tailor, ein englischer Drehbuchautor, der nur bei Luigi schreiben konnte, nur hier seine Inspiration fand. Er verfasste Drehbücher für bekannte Regisseure und pendelte zwischen Luigis Bar und den Filmstudios in Cinecittà hin und her.
Als Luigi den Espresso vor Simonetta auf den Tresen stellte, versuchte er, seine Stimme unverfänglich klingen zu lassen.
»Vorsicht, der Espresso ist sehr heiß, Signora.«
Sie nickte, pustete ein paarmal und trank die Tasse schnell aus. Und schon wandte sie sich lächelnd wieder zum Gehen. »Ich bin spät dran«, erklärte sie noch, und: »Ciao, bello.« Sonst nichts, der Gruß klang wie immer.
Luigi holte die Zeitungen wieder unter dem Tresen hervor und legte sie für andere Gäste auf die Theke. Allmählich füllte sich die Bar, Geschäftsleute, Leute vom Film, alle kamen sie zu ihm. An den Tischen unter den Bäumen draußen auf dem Gehsteig würden gegen Mittag Touristen sitzen und sich neugierig umsehen, ob sie in dieser berühmten Bar vielleicht einen Filmstar entdeckten. Sie mischten sich unter die vielen jungen Leute, die sich dort in Szene setzten, wenn ein Paparazzo mit umgehängter Kamera vorbeifuhr. Und träumten davon, von Federico Fellini für seinen nächsten Film entdeckt zu werden.
Abends drängelten sich hier die Stammgäste. Fotografen war dann der Zutritt verboten, die Prominenz wollte unter sich bleiben. Manchmal kam auch Simonetta noch einmal schnell vorbei, trank ein Glas ihres Lieblingsweißweins und hastete zurück in ihr nahe gelegenes Haute-Couture-Haus, in dem die teuersten und kostbarsten Luxusmodelle entstanden. Kleider und Kostüme, die nicht nur von den reichen und elegantesten Frauen der High Society getragen wurden, sondern auch die Mode beeinflussten. Modegeschichte schrieben, wie die Vogue es nannte.
»Und? Hast du es gelesen?« Mario band sich die lange weiße Schürze um und beobachtete seinen Chef scharf.
Luigi nickte nur. »Eine Katastrophe, wo ist das passiert?«
»Im Fontana di Trevi, der Paparazzo muss das Foto durchs Fenster des Lokals geschossen haben.«
»Simonetta wollte ein sattes Grün, und was ist das? Apfelgrün, ein hässliches Apfelgrün!«
Paolo, Simonettas Assistent, riss das halb fertige Kleid vom Ständer und hielt es Ettore vors Gesicht, sodass er zurückwich. Ettore war seit Jahren zuständig für Ablauf und Organisation der Kollektionen. Erschöpfung und Gereiztheit machten sich breit.
»Simonetta geht nicht ans Telefon!«
Antonia, die zweite Assistentin im Team, legte den Hörer auf und wandte sich an die anderen, die sie anstarrten und für einen Moment den falsch bestellten Stoff vergaßen. Sie alle waren müde, hatten die Grenze der Belastbarkeit überschritten, und das hatte sie empfindlich werden lassen. Nur Carla, die Chefdirektrice, behielt die Nerven. Sie war vierundsechzig Jahre alt und begleitete Simonetta seit Beginn ihrer Karriere. Sie besaß die große Begabung, Simonettas Ideen durch ihre Schnitte in die Realität umzusetzen. Das sei eine Kunst, betonte die Modeschöpferin. Sie brauche jemanden wie sie. Simonetta probierte an den Mannequins ihre Ideen aus, rutschte vor ihnen auf dem Boden herum, steckte den Stoff, drapierte, schnitt, steckte wieder. Carla stand dann ruhig und konzentriert dabei, um anschließend Simonettas Visionen und Ideen zu realisieren.
Manchmal klagte Simonetta über dieses Manko, nicht zeichnen zu können, den Beruf nicht gelernt zu haben. Dann aber befand Carla nur lakonisch, jeder wisse, dass auch Coco Chanels Kreationen auf diese Weise entstanden. »Du bist in guter Gesellschaft, nicht alle Modeschöpfer können so wunderbar zeichnen wie Balenciaga oder Hubert de Givenchy.«
Jetzt sah Carla mit großer Gelassenheit die Kollektionsteile auf dem Kleiderständer durch. Auf jedem Bügel hing der Schnitt, das halb fertige Teil, manches auch erst für eine Anprobe in Nessel gefertigt. An dem Schnitt steckte das Foto mit den Maßen des Mannequins, das bei der Modenschau das jeweilige Modell tragen würde.
»Heute sollte Modell Lucretia zur Anprobe fertig sein, und was haben wir? Nur diesen hässlichen grünen Fetzen.«
Paolo wollte sich nicht beruhigen. »Und du, Carla, was sagst du dazu?«
Carla zuckte mit den Schultern. »Warten wir ab, bis Simonetta kommt.«
»WENN sie kommt. Die Anprobe war für halb neun angesetzt, jetzt ist es fast zehn Uhr. Man kann Suzy nicht warten lassen. Sie ist ein Starmannequin, läuft bei Pierre Balmain und .«
»Paolo, das wissen wir.« Ungeduldig schnitt Carla ihm das Wort ab. »Wo steckt Suzy überhaupt?«
»Sie sitzt im Innenhof und raucht.«
»Ihre Maschine nach Paris geht erst um drei Uhr. Also, Paolo, noch kein Grund, durchzudrehen.«
June, eine junge Amerikanerin und verantwortlich für Accessoires, versuchte, ihn ein wenig zu provozieren. Die beiden mochten sich nicht. Der junge schöne Assistent von Simonetta mit den dunklen glatten Haaren und dem zarten Teint fand Junes Aufmachung grell und geschmacklos. Die Dreißigjährige hatte rot gefärbte Haare und war stets schwarz gekleidet. Ihre Fingernägel lackierte sie nach der neuesten Mode perlmuttgrün, und an den beiden Armgelenken klirrten silberne schmale Armreifen. Paolo verstand nicht, dass Simonetta sie bei allen Besprechungen dazubat. Nur widerstrebend und wenn er gut gelaunt war, gab Paolo zu, dass sie ein außergewöhnliches Gespür für Accessoires, Schmuck, Hüte und Schuhe besaß.
June saß auf der Kante des langen Tisches im Atelier, nachdem sie Berge von Skizzen und Stoffmuster zur Seite geschoben hatte. »Ich denke«, meinte sie in die Runde, »Simonetta wird vielleicht gar nicht kommen, nachdem sie die Schlagzeilen von heute gelesen hat.«
In stummer Beunruhigung sahen sie einander an.
Dann aber schüttelte Ettore den Kopf. »Simonetta hat es immer verstanden, ihr Privatleben und den Beruf zu trennen. Im Übrigen«, kam er auf Paolos Angriff zurück, »hat Simonetta den grünen Stoff gestern Nacht noch gesehen. Kein Wort davon, dass Carla ihn heute Morgen nicht zuschneiden und zur Anprobe richten soll.«
»Sie nimmt nur Rücksicht auf dich«, erklärte June, bevor sie in einen Apfel biss, ihr einziges Frühstück, wie alle wussten. »Du bist vergesslich geworden«, setzte sie mit der Gleichgültigkeit der Jugend hinzu.
Ettore wurde blass. In Junes Augen schien er offenbar nur ein alter Mann zu sein. Nicht mehr belastbar, stets nervös und fahrig. Jeder im Couture-Haus hatte es in den vergangenen Monaten bemerkt. Nur Simonetta sah über seine Fehler hinweg und gab ihm das Gefühl, alles sei in Ordnung.
Carla schob sich die Brille auf die Nase und sah ihn mit zugekniffenen Augen an. Er spürte, dass er beobachtet wurde, fuhr sich durch die Haare und wischte sich mit dem Einstecktuch des Anzugs den...
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