1. Kapitel
Möhnesee lag hinter ihr und vor ihr eine ungewisse Zukunft. Merle starrte angestrengt nach vorn. Ihre Finger umklammerten das Lenkrad. War ihr nächtlicher Aufbruch trotz aller Vorsicht bemerkt worden? Seit einer Weile folgte ihr ein hellblauer Lieferwagen. Zum Glück bog er im nächsten Ort an einer Kreuzung ab.
Die Eindrücke der letzten Tage ließen sie nicht los. Vor ihrem geistigen Auge sah sie die beiden Umzugskartons mit ihren Habseligkeiten, die im Hausflur gestanden hatten, die großzügigen Zimmer, die nun gähnend leer waren, und der Blick in den von ihr liebevoll gepflegten Garten aus der Küche. All das würde sie vermissen.
Es goss in Strömen. Der Scheibenwischer zog seine Bahnen über die Windschutzscheibe. Sie fuhr nur ungern bei Dunkelheit, noch dazu bei diesem Wetter. Weil ihr alter Wagen kein eingebautes Navigationssystem besaß, nutzte sie ihr Handy. Hin und wieder schaute sie in den Rückspiegel, um sich zu vergewissern, dass ihr niemand folgte.
Ihr Ziel war Boltenhagen an der Ostsee. Seit einer Ewigkeit war sie nicht mehr dort gewesen.
Alfi schnarchte auf seiner Kuscheldecke auf dem Beifahrersitz. Merle schmunzelte. Sie hätte nie gedacht, dass ein kleiner Hund so laut schnarchen konnte.
Alfi war ein Geschenk zu ihrem dreiunddreißigsten Geburtstag. Merle schluckte. Die Tage davor gehörten zu den traurigsten in ihrem Leben. Die Geburtstagsfeier hatte sie ausfallen lassen, weil die Möbel ausgeräumt waren. Noch immer schmerzte die Erinnerung daran.
Es ist Zeit, dein altes Leben hinter dir zu lassen und nur noch an die Zukunft zu denken.
Auf der Fahrt regnete es ununterbrochen. Dennoch hob sich Merles Stimmung mit jedem Kilometer, den sie sich von Möhnesee entfernte. Nach einer Weile knurrte ihr Magen. Vor lauter Aufregung hatte sie seit dem Frühstück nichts mehr gegessen.
Sie entschied, eine kurze Pause einzulegen. Auf einem Schild wurde auf die Raststätte hingewiesen, in der sie als Kind auf den Urlaubsfahrten mit den Eltern gegessen hatte. Sie nahm die Ausfahrt und hielt vor dem Gebäude, dessen Fassade jetzt viel moderner aussah, mit Leuchtreklame und dem Logo einer Gastronomiekette. Merle hatte der rustikale Stil von damals besser gefallen. Ein kurzer Blick zu Alfi verriet, dass er tief schlief. Er hob nicht mal den Kopf, als sie ausstieg.
Entschlossen stieß sie die Glastür der Raststätte auf und trat ein. Bis auf zwei Tische und den Kassentresen war der Gastraum leer. Es roch nach Frittierfett und Würstchen wie in einem Schnellimbiss. Auch waren die fröhlichen Kellner von damals zugunsten einer Selbstbedienung abgeschafft worden. Selbst die Bonbonniere mit den Karamellen neben der Kasse existierte nicht mehr. Schade.
Sie kaufte sich ein belegtes Brötchen und einen Cappuccino zum Mitnehmen. Sie wollte zurück sein, bevor Alfi ihre Abwesenheit bemerkte und zu bellen begann.
Als sie den Deckel auf den Pappbecher drückte, sah sie sich in der Scheibe der Brötchenvitrine. Himmel! Mit dem strähnigen Haar, dem blassen Teint und dem verlaufenen Kajal sah sie aus wie eine Wasserleiche. Das war nicht mehr die attraktive und taffe Frau, nach der sich die Männer reihenweise umdrehten. Ihre Markenkleidung hatte sie verkaufen müssen und gegen billige eingetauscht, weil sie sich schicke Teile nicht mehr leisten konnte. Ihren letzten Friseurtermin hatte sie auch aus finanziellen Gründen absagen müssen. Wenigstens war ihr Blond Natur und damit gratis.
Während ihrer Ausbildung zur Köchin hatte sie alles, was sie erübrigen konnte, für Mode und Styling ausgegeben. Nachdem sie ihren Job in einer Restaurantküche gekündigt hatte, war es oft vorgekommen, dass sie je nach Laune ihre Haarfarbe gewechselt hatte. Heute spürte sie, dass sie sich selbst gesucht hatte. Sie hatte immer gewusst, was sie wollte, bis sie viel zu oft mutterseelenallein und unglücklich in ihrem Haus gesessen hatte. Doch sie war zum Teil selbst schuld an ihrer Situation gewesen. Sie hätte durchaus etwas dagegen unternehmen können, Henny hatte ihr oft genug Vorschläge unterbreitet. Aber sie hatte sich lieber in ihrer Küche eingeschlossen.
Was hatte sie für Träume gehabt, von einem liebenden Mann, einem hübschen Haus und einer Schar Kindern. Leider würde sich das nicht erfüllen. Mit vierunddreißig war sie zwar noch jung genug, aber sie würde sich nicht mehr so schnell auf einen Mann einlassen.
Seufzend öffnete Merle ihren Wagen. Im selben Augenblick schlug Alfi die Augen auf. Er schnüffelte und starrte begehrlich auf die Brötchentüte.
»Du hast deine Portion für heute schon bekommen, mein Lieber«, erklärte sie ihm. Alfi neigte den Kopf und begann zu winseln, als sie ins Brötchen biss. Wer konnte schon dem flehenden Blick schwarzer Knopfaugen widerstehen? Der Malteser und sie waren Leidensgenossen, die ihr Schicksal teilten. Von heute auf morgen obdachlos.
»Aber nur ein winziges Stück.« Sie rupfte ein Stück Wurst ab und reichte es ihm in den Hundekorb. Gierig verschlang Alfi den Bissen und leckte sich das Mäulchen ab. Auf seine unnachahmliche Weise neigte er wieder den Kopf zur Seite und sah sie auffordernd an.
»Nein, Alfi, mehr bekommt dir nicht.«
Enttäuscht legte der Hund seinen Kopf auf die Pfötchen und sah sie traurig an.
Während Merle im Wagen ihr Brötchen aß, schaute sie hinaus in die Dunkelheit. Sie fühlte sich einsam und allein wie damals nach dem Tod der Eltern. Wieder musste sie neu beginnen. Sie wischte sich den Mund ab, bevor sie den Kopf ans Lenkrad lehnte und ihren Kummer hinausweinte.
Nach einer Weile begann Alfi zu kläffen, als hätte er genug von ihren Tränen. Schniefend sah Merle ihn an.
»Du hast ja recht. Das Heulen hilft auch nicht weiter. Wir wollen positiv in die Zukunft schauen.«
Sie startete den Motor und kehrte auf die Autobahn zurück.
Als Merle am nächsten Morgen erwachte, wusste sie erst nicht, wo sie war. Ach ja, sie hatte die Nacht im Wagen auf einem Parkplatz verbracht. Alfi saß schwanzwedelnd im Hundekorb und sah sie auffordernd an.
»Ich weiß, du musst.« Merle war hundemüde.
Sie reckte sich und gähnte. Was hätte sie jetzt für eine Tasse schwarzen Kaffee und ein Buttercroissant von Henny gegeben. Das hätte ihre Sinne belebt. Sie stieg aus dem Wagen und ließ Alfi nach dem Anleinen hinaus. Sofort begab sich der Hund auf Entdeckungstour. Seine Lebendigkeit hob Merles Stimmung ein wenig. Ohne Alfi wäre sie in den letzten Wochen verzweifelt. Sie verließen den Parkplatz und betraten eine abschüssige Wiese.
Die aufgehende Sonne übergoss die Landschaft mit rotgoldenem Schimmer. Merle blieb stehen, um den Anblick zu genießen. Irgendwo da hinten am Horizont lag das Meer.
Plötzlich verspürte sie den Wunsch, mit Alfi am Strand entlangzuspazieren.
»Komm wieder ins Auto, Alfi, ich möchte dir etwas Besonderes zeigen.«
Nachdem Alfi wieder in seinem Körbchen auf dem Beifahrersitz Platz genommen hatte, fuhr Merle in Richtung Meer. Sie ließ das Fenster ein Stück herunter und genoss die salzige Luft. Während sie dem Strand entgegenfieberte, saß der Hund ruhig neben ihr. Merle war gespannt, wie er reagieren würde, wenn er das erste Mal das Meer sah.
Wenig später hielt sie auf einem leeren Parkplatz an, der nur wenige Schritte vom feinen Sandstrand entfernt lag. Merle stieg aus und genoss den Anblick der kobaltblauen Ostsee. Die Wellen glitzerten leicht in der Morgensonne. Die sanfte Brise umschmeichelte ihr Gesicht. Am Horizont glitt ein riesiges Schiff auf dem Wasser. Hier war der perfekte Ort für einen Neuanfang. Sie leinte Alfi an und ging mit ihm hinunter zum Meer. Sprang er anfänglich euphorisch herum, wurden seine Schritte immer langsamer, als sie sich dem Wasser näherten. Obwohl es kühl war, zog Merle Schuhe und Strümpfe aus, um den Sand zu spüren. Wie damals als Kind. Dann rannte sie zum Wasser. Die Wellen rollten sanft über den Sand. Alfi blieb stehen und beobachtete ängstlich das Wellenspiel. Er stemmte seine vier kräftigen Beinchen in den Sand, als sie ihn zum Wasser ziehen wollte.
»Du wirst sehen, es wird dir Spaß machen«, redete sie ihm gut zu. Aber Alfi blieb skeptisch und rührte sich nicht von der Stelle. Merle erkannte, dass es keinen Zweck hatte, ihn dazu zu zwingen.
»Wenn du nicht willst, Pech gehabt. Ich liebe das Meer.«
Kurzerhand nahm sie ihn auf den Arm, trat in die kalte Wellenauslaufzone und drehte sich wie damals im Kreis. Auf ihrem Arm begann Alfi aufgeregt zu bellen, bis sie damit aufhörte. Behutsam beugte sie sich mit ihm zum Wasser hinunter. Sie benetzte sein Fell. Zitternd drückte Alfi sich an sie. Erst als eine Möwe neben ihnen durch den Sand hüpfte, sprang er Merle vom Arm, um den Vogel zu vertreiben. Dabei störte ihn das Wasser nicht, das seine Beinchen umspülte, als er der Möwe hinterherhetzte. Merle lachte. Als der Vogel sich in die Luft erhob, kehrte Alfi zu ihr zurück und wollte wieder auf den Arm.
»Nein, mein Lieber. Deine Pfoten sind ganz sandig, und das Wasser hat dir nichts ausgemacht. Nun kannst du neben mir hergehen.« Sie klinkte die Leine wieder in sein Geschirr und spazierte mit Alfi den Strand...