Schweitzer Fachinformationen
Wenn es um professionelles Wissen geht, ist Schweitzer Fachinformationen wegweisend. Kunden aus Recht und Beratung sowie Unternehmen, öffentliche Verwaltungen und Bibliotheken erhalten komplette Lösungen zum Beschaffen, Verwalten und Nutzen von digitalen und gedruckten Medien.
Das kann doch nicht wahr sein!
Entsetzt schüttelte Imke den Kopf. Sie hatte ausdrücklich eine naturnahe Apfelskulptur geordert. Aber dieses Kunststoffding vor ihr passte so gar nicht zu dem Gut und dem nostalgischen Ambiente. Sie war bitter enttäuscht.
Vor der Kulisse des alten reetgedeckten Fachwerkhauses mit der aufwendig verzierten Fassade wirkte der mannshohe Apfel, der eigentlich Kunden anlocken sollte, lächerlich, wenn nicht gar billig. Das war Stilbruch, nein mehr, Frevel. Es wäre das Gleiche, wenn Finn in seinem altehrwürdigen Kapitänshaus Plastikstühle um den Esstisch stellen würde.
»Nehmen Sie das sofort wieder mit«, wies Imke den Spediteur an.
Der öffnete den Mund zum Protest. »Aber .«
»Egal was Sie sagen wollen, das Ding da bleibt auf keinen Fall hier. Packen Sie es wieder ein und bringen Sie es zurück.«
Widerwillig winkte er seinen Begleiter herbei, einen stämmigen Kerl mit Keulenarmen, der die Apfelskulptur auf die Ladefläche des Lasters zurückwuchtete.
»So was ist mir noch nicht untergekommen«, murmelte er vor sich hin. Imke ignorierte sein Murren und zupfte stattdessen an ihrem Seidentuch, das sie um den Hals trug.
Der Lkw hatte längst das Gut verlassen, als Imke noch immer auf derselben Stelle verharrte. Da hatte sie extra diesen Platz gleich hinter der Prunkpforte ausgesucht, um Kunden und Festgäste auf das bevorstehende Apfelblütenfest einzustimmen, und nun das! Diese Rasenfläche schrie nach einer Skulptur. Irgendwas musste doch zu finden sein. Imke ließ ihren Blick schweifen, von der weißen Prunkpforte mit den alten goldenen Lettern hinüber zu der riesigen Backsteinscheune, in der sich ihr kleiner, aber feiner Hofladen befand, und den Lagerhallen. Alles war farbenprächtig gestaltet, besonders das Gutshaus mit dem hellblauen Balkon über dem Eingang und den vielen Spruchbändern auf den Holzbalken. Sie hatte sich dazu einen edelwirkenden Apfel im Großformat vorgestellt. Aus Terrakotta oder Marmor oder einem anderen Material, das die Blicke auf sich zog. Was also könnte auf das bevorstehende Fest neugierig machen?
Die Uhr am Glockenturm des Gutshauses schlug sechs Mal und erinnerte sie daran, dass sie zurückgehen und den Laden abschließen musste. Das Ziffernblatt der Uhr zierte eine verhüllte Aphrodite, die einen goldenen Apfel in der Hand hielt. Plötzlich kreisten Wörter in ihrem Kopf - Frühling, Lebenszyklus, Fruchtbarkeit -, die sie auf die Idee brachten, das Bild zum Symbol der Matthiesen-Feste zu erklären. Skulptur hin oder her, eine Art Festlogo war tausendmal besser. Siegesgewiss ballte sie die Hand zur Faust, bevor sie über den gepflasterten Hof zum Laden lief.
Kurz bevor sie bei ihrem Laden angekommen war, um sich ein letztes Mal für heute zu vergewissern, dass sie alles ordnungsgemäß hinterließ, weckte gedämpftes Gelächter ihre Aufmerksamkeit. Sie schaute hinüber zur Lagerhalle und sah Daniel, der mit Okka, einer der Plantagenarbeiterinnen, zusammenstand und flirtete. Imkes Magen ballte sich zusammen. Sie unterdrückte die aufsteigende Enttäuschung und Eifersucht und legte die Hand auf die Klinke der Ladentür.
Seufzend starrte sie auf die Kistenstapel daneben. Die Arbeit lag wie ein Berg vor ihr. Der Vorarbeiter Jens hatte ihn ihr mit dem Hubwagen vor die Hofladentür gestellt, als sie wegen einer Besorgung im Ort gewesen war. Die Verabredung hatte sie glatt verpasst. Bestimmt hätte Jens ihr die Kisten in den Laden getragen. Jetzt musste sie die allein schleppen, denn alle Mitarbeiter waren bereits in den wohlverdienten Feierabend entschwunden. Selbst schuld!
Imke bereute im Stillen, sich so weit aus dem Fenster gelehnt und ihrem Bruder Tom zugesagt zu haben, das Gut während seiner Abwesenheit kommissarisch zu leiten. Zu ihrem Bedauern hatte sie die Aufgabe doch unterschätzt, denn jeder Knochen im Leib schmerzte. Sie fühlte sich ausgelaugt. Ihre Schwägerin Pia hatte sie davor gewarnt, sie könnte sich körperlich übernehmen. Jetzt war es zu spät, und sie musste ihr Bestes geben.
Sie öffnete die Ladentür und trat ein. Kaum hatte sie einen Fuß in den Laden gesetzt, verflüchtigten sich die negativen Empfindungen. Vielleicht lag es auch an dem süßlichen Apfelduft, der in der Luft schwebte, bis in ihre letzte Gehirnwindung drang und ihren Geist nach jedem Betreten auf angenehme Weise umnebelte. Der Laden war quadratisch und nicht größer als ihr Zimmer im Gutshaus. Und er sah wunderbar einladend aus.
Seit drei Uhr morgens war sie auf den Beinen, hatte den Laden von oben bis unten geputzt und die Regale neu eingeräumt, Pappschildchen beschriftet und die Waren mit neuen Preisetiketten versehen. Sie hatte sich keine Pause gegönnt. Luxus, den sie sich nicht leisten konnte. Alles sollte perfekt für das Fest sein, das in gut zwei Wochen stattfinden würde. Weil sie wollte, dass Tom stolz auf sie war.
Seit über fünfzig Jahren wurde das Apfelblütenfest Anfang Mai auf dem Matthiesen-Hof gefeiert. Der Beginn einer neuen Apfelsaison.
Was würde sie in diesem Jahr erwarten? Fast wäre im vergangenen Jahr der erfolgreiche Mariella-Apfel durch ein Unwetter vernichtet worden. Zum Glück hatten ihr Bruder Tom und Schwägerin Pia die Zerstörung der Apfelbäume verhindern können. Tom hatte die Apfelsorte wiederentdeckt, die nach ihrer Tante benannt worden war. Nie hätten sie sich vorstellen können, dass sich diese Apfelsorte zum Erfolgsschlager entwickeln würde.
Durch Pias Werbung war der Zustrom an Kunden stetig gewachsen. Selbst für Touristen war ihr Gut eine Sehenswürdigkeit im Alten Land. Viele von ihnen wurden zum Fest erwartet. Deshalb musste sie sich besonders viel Mühe bei der Festgestaltung geben.
Wenigstens unterstützten Jens und Daniel sie bei der Arbeit auf der Plantage. Beide waren loyal und verlässlich.
Mit der kommissarischen Leitung willst du dich nur beweisen!
Ja, sie wollte ihren Brüdern zeigen, dass sie es schaffen konnte. Alles hätte wunderbar geklappt, wenn Birthe, ihre Vertretung für den Hofladen, nicht gekündigt hätte. Nun musste Imke sich um den Laden kümmern.
Seit zwei Wochen rackerte sie sich ab, und es war nicht abzusehen, wann Tom und die anderen von der Recherchereise zurückkehren würden. Trotz mehrerer Monate Nachforschung gab es noch immer keine Spur von ihrer Schwester Caroline, keinen Hinweis, dass sie tatsächlich lebte. Zermürbende Monate, die ihre Gefühle Achterbahn fahren ließen. Je länger die Recherchen dauerten, desto mehr geriet Imke ins Grübeln, und ihre Befürchtungen verstärkten sich, dass ihre verschollene Schwester vor fünfundzwanzig Jahren vielleicht doch in der Elbe ertrunken sein könnte.
Sie schaute zum Fenster hinaus. Die Dämmerung legte sich wie ein dunkles Tuch über die endlos erscheinenden Apfelbaumreihen. Auf dem Gut war es still.
Keiner würde sie stören, wenn sie die Apfelbestellungen bearbeitete, obwohl sie heute für eine kleine Ablenkung dankbar gewesen wäre.
Ihr Tag endete erst gegen Mitternacht, wenn sie erschöpft ins Bett fiele.
Hör auf, im Selbstmitleid zu versinken!
Sie war ganz steif, als sie sich erhob und zu den Kisten hinauslief.
Während sie sich darüberbeugte, drang ihr der süße Apfelduft in die Nase. Wie auf Kommando knurrte ihr Magen, denn seit dem Vormittag hatte sie nichts mehr gegessen. Eigentlich waren die Früchte zum Verkauf gedacht und abgezählt, aber ihr Hunger war so groß, dass sie gierig einen der rotbackigen Mariella-Äpfel aus der Kiste griff und hineinbiss. Er war saftig und süß. Genüsslich leckte sie den Saft von den Lippen. Der Geschmack kann süchtig machen.
Der köstliche Apfel ließ sie einen Augenblick die strapaziöse Arbeit vergessen. Nachdem Imke ihn komplett verspeist hatte, schnippte sie den Stiel fort und wischte mit dem Handrücken über ihren Mund.
Danach wandte sie sich erneut den zwei Dutzend Holzkisten zu. Vor ihr standen nicht die normalen Kisten, sondern viel größere. Oft genug hatte sie beobachtet, wie Okka und Gesa diese gewuchtet hatten. Es wäre doch gelacht, wenn ich das nicht auch schaffe. Sie streifte sich Handschuhe über und griff nach der obersten Kiste. Die war schwerer als gedacht und brachte sie zum Prusten. Ihre lädierten Handgelenke knackten, und Schmerz durchzuckte ihren Arm. Sie schrie auf und ließ die Kiste los. Das brachte den ganzen Kistenturm ins Wanken. Es half nichts, sie musste es schaffen. Allein.
»Mit Schwung wird es schon gehen«, sprach sie sich selbst Mut zu. Imke holte tief Luft, spannte die Muskeln an, hievte die Kiste hoch und drehte sich keuchend um.
Sie spürte, wie ihre Arme nachgaben und die Last sie nach unten zog. Gleich würde die Kiste auf die Erde knallen, weil sie sie nicht mehr halten konnte, und sie daraufstürzen. Sie biss die Zähne zusammen, verdrängte den Schmerz in den Unterarmen und spannte noch einmal alle Muskeln an, um die Kiste abzusetzen.
»Herrgott, Imke! Das ist doch viel zu schwer für dich.«
Daniel packte zu und hielt die Kiste. Sie spürte seine warmen Finger an ihren.
»Daniel .«, keuchte sie.
»Du kannst jetzt loslassen«, forderte er sie auf. Ihre steifen Finger lösten sich. Langsam stellte Daniel die Kiste auf den Boden.
Ein Prickeln lief durch ihre Hände, das durch seine Berührung ausgelöst worden war.
»Danke«, sagte sie leise.
»Dreißig Kilo in der Kiste . das ist viel zu schwer für dich. Sollen die auch alle rein?« Er deutete auf den Kistenturm. Imke nickte und trat einen Schritt vor.
»Ich mach das«, sagte er bestimmt.
»Okay.«
Während Daniel die nächste Kiste in den Laden schleppte und sie ihm folgte, beobachtete Imke ihn.
Irgendetwas...
Dateiformat: ePUBKopierschutz: Wasserzeichen-DRM (Digital Rights Management)
Systemvoraussetzungen:
Das Dateiformat ePUB ist sehr gut für Romane und Sachbücher geeignet - also für „fließenden” Text ohne komplexes Layout. Bei E-Readern oder Smartphones passt sich der Zeilen- und Seitenumbruch automatisch den kleinen Displays an. Mit Wasserzeichen-DRM wird hier ein „weicher” Kopierschutz verwendet. Daher ist technisch zwar alles möglich – sogar eine unzulässige Weitergabe. Aber an sichtbaren und unsichtbaren Stellen wird der Käufer des E-Books als Wasserzeichen hinterlegt, sodass im Falle eines Missbrauchs die Spur zurückverfolgt werden kann.
Weitere Informationen finden Sie in unserer E-Book Hilfe.