Schweitzer Fachinformationen
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Kapitel 1
Take The »A« Train
(Duke Ellington)
»Getrennt oder zusammen?« Marie legte die Rechnung auf das runde, weiß lackierte Cafétischchen. Zwei Kännchen Earl Grey Tee, eine Portion Apfeltorte mit Sahne, ein Stück Käsekuchen und zwei Gläschen Sherry. Das Pärchen am Tisch blickte hoch, und der Mann, dessen schlohweiße Haare einen interessanten Gegensatz zu seinem gebräunten, von Falten durchzogenen Gesicht bildeten, lächelte Marie an. »Zusammen natürlich, liebes Fräulein. Für meine Herzdame ist mir nichts zu teuer.«
Seine Begleiterin, eine etwa siebzigjährige Dame in einem eleganten hellblauen Kostüm und mit Perlenkette, errötete wie ein junges Mädchen. »Du bist wirklich ein Kavalier, mein Lieber. Aber nenn die jungen Frauen nicht immer >Fräulein
»Ach, ist schon in Ordnung«, sagte Marie, während sie dem Mann das Wechselgeld herausgab. Viele der Gäste nannten sie »Kindchen«, »Liebchen« oder eben »Fräulein«, und sie hatte wirklich nichts dagegen. Die meisten Cafébesucher hatten die Siebzig bereits deutlich überschritten und sahen in ihr wahrscheinlich eine Art Enkelersatz. Sie strich sich eine Strähne ihrer dunklen, lockigen Haare hinters Ohr und lächelte die zwei alten Leute an. »Ich wünsche Ihnen noch einen schönen Tag.«
Der Mann legte ein großzügiges Trinkgeld auf den Tisch, dann stand er auf und bot der Dame galant seinen Arm. »Reich mir die Hand, mein Leben«, sagte er zärtlich zu seiner Begleiterin.
»Du und dein Don Giovanni«, seufzte sie, aber ihre Augen strahlten, und der Blick, mit dem sie ihn ansah, versetzte Marie einen Stich. Sie schaute den beiden nicht nach, sondern nahm die gebrauchten Teller und Tassen und trug sie hinter den Tresen. Aber sie hatte das Geschirr zu nachlässig gestapelt, sodass eine Kaffeetasse ins Rutschen geriet und zu Boden fiel. Mit einem lauten Knall zerbarst das Porzellan, und der Kaffeerest bildete eine braune Pfütze auf den Steinfliesen. »Verflixt«, rief Marie, und eine Sekunde lang hätte sie am liebsten die zweite Tasse samt den Tellern hinterhergeworfen. Doch weil die wenigen anderen Gäste schon erschrocken guckten - bis auf Frau Petersen, die ihr Hörgerät mal wieder nicht eingeschaltet hatte - beherrschte Marie sich. Sofort kam Gitta mit Kehrbesen und Schaufel an. »Nichts passiert! Guten Appetit die Herrschaften«, rief sie in die Runde und lachte ihr unschuldiges Gitta-Lachen, das wie ein Sonnenstrahl nach einer Sturmbö wirkte. Die Cafébesucher widmeten sich beruhigt wieder ihren Kaffees und Kuchenstücken, während Marie Gitta den Handbesen abnahm. »Alles okay mit dir? Du bist seit ein paar Tagen schon so nervös«, fragte Gitta leise, und der besorgte Ton in ihrer Stimme hätte Marie beinahe den Rest gegeben. Sie bückte sich hastig, sodass ihr das Haar ins Gesicht fiel und kehrte die Scherben zusammen. »Alles bestens. Ich hab nur nicht gut geschlafen.«
Gitta nickte mit ernster Miene. »Verstehe. Es ist wegen Steven, stimmt's?«
Marie zuckte zusammen, aber Gitta fuhr fröhlich fort. »Es macht mich bei meinem Göttergatten auch immer rasend, wenn er die ganze Nacht schnarcht. In dem Augenblick beneide ich die Frauen, die ihr Bett für sich alleine haben.«
Marie verzog das Gesicht zu einem gequälten Lächeln. Ungewollt hatte Gitta Salz in Maries Wunde gestreut. »Steven ist nicht da. Er besucht seine Familie.«
»In England?«
»Nein, in Papua-Neuguinea. Man hat ihn nämlich als Kind aus dem Dschungel entführt und nach Cornwall verschleppt.«
»Echt?«
Marie sah Gittas ehrlich verblüffte Miene und seufzte innerlich. Sie vergaß immer wieder, wie immun ihre Kollegin gegen jegliche Ironie war. Gitta glaubte an das Gute im Menschen, und Sarkasmus war ihr völlig fremd. Marie holte tief Luft. »Nein, war nur ein Witz. Ich bin heute einfach . Ich weiß auch nicht.«
Doch natürlich wusste Marie ganz genau, warum sie am liebsten mit Geschirr um sich geschmissen und aus dem Café gerannt wäre. Steven war seit fünf Tagen weg, und Marie vermisste ihn schrecklich. Sie schrieb jeden Tag ellenlange Kurznachrichten an ihn, wobei sie sogar Grüße an Stevens Schwester ausrichtete - und an seine Eltern, obwohl sie und ihr Schwiegervater nicht gerade beste Freunde waren. Das lag unter anderem daran, dass sein Sinn für Humor ebenso unausgeprägt war wie der von Gitta, wobei deren sympathisch-naive Art ihm völlig abging. Sein Tonfall, den er seiner Frau und sicher auch manchmal seinen Kindern gegenüber anschlug, erinnerte Marie leider weniger an Mister Bean als an Mussolini. Trotzdem bemühte sie sich um ein gutes Verhältnis, denn sie war mit Steven verheiratet. Und wenn die Patels ihn nicht tatsächlich als Säugling heimlich adoptiert oder in der Klinik vertauscht hatten, dann mussten seine Eltern wenigstens ein bisschen von Stevens Charme, seiner Wortgewandtheit und seiner unnachahmlichen Art, Witze zu machen, in den Genen haben, oder?
Dummerweise schien die kühle britische Art im Familienurlaub auf Steven abzufärben. Er hatte auf Maries lange Nachrichten zwar zurückgeschrieben, immerhin. Genau zwei Mal. Knappe, freundliche Nachrichten und auch das »Love, Steven« am Ende hatte nicht gefehlt. Trotzdem hatte Marie sich nicht richtig darüber freuen können und war sich vorgekommen wie ein Kätzchen in einem dieser Internetclips, über dessen Tollpatschigkeit man nur müde lächelt. Ein Hauch von Gleichgültigkeit schien ihr aus dem Handy entgegenzustrahlen, wenn Steven schrieb, dass es ihm gut ging und er die Ruhe und die Zeit mit seiner Familie genoss.
Gleich darauf hatte Marie sich selbst jedes Mal energisch ermahnt, dass sie Gespenster sah. Bestimmt war Steven einfach froh, einmal nicht schreiben zu müssen, sondern auf langen Spaziergängen oder beim Essen mit seiner Familie den Kopf freizukriegen. Sein Alltag als Journalist für ein überregionales Magazin bestand darin, die wirtschaftliche und politische Weltlage zu analysieren und in möglichst kluge Zeilen zu verpacken. Oft kam er spät abends gestresst nach Hause. Seine dunkelblonden Haare waren dann noch zerzauster als am Morgen, wenn er das Haus verlassen hatte, und er regte sich beim Essen nicht nur über korrupte Wirtschaftsbosse, sondern auch über unfähige Politiker aus der ganzen Welt auf. Steven war nicht bereit, etwas zu schreiben, wovon er nicht überzeugt war. Diese Haltung unterstrich er, indem er sich weigerte, bei wichtigen Terminen immer angemessene Kleidung zu tragen. So hatte er es tatsächlich fertiggebracht, eine Pressekonferenz, bei der mehrere Diplomaten und ein Minister anwesend waren, in Baggyhosen und Flipflops zu besuchen. Samt eines T-Shirts, auf das ein Schimpanse und der Schriftzug »Monkey Business« gedruckt war. Lachend hatte er Marie erzählt, dass er ungerührt »Pressefreiheit« gekontert hatte, als man ihn deswegen der Veranstaltung verweisen wollte. Sie wusste, dass einige den Fehler machten, Steven wegen seines Äußeren zu unterschätzen. Die Leute bereuten es spätestens dann, wenn sie einen seiner scharfzüngigen Artikel lasen. Er besaß ein unglaubliches Gedächtnis für geschichtliche Fakten, und Marie bewunderte ihren Mann sehr dafür. Sie war alles andere als dumm, aber gegen Steven erschien Marie ihre Allgemeinbildung so lückenhaft wie der morsche Zaun, der den kleinen Garten ihrer Erdgeschosswohnung am Stadtrand Hamburgs von dem ihrer Nachbarn trennte. Nicht, dass Marie Steven um seinen Job beneidete. Jeden Tag von den Nachrichten aus aller Welt - und es waren meistens nicht einmal gute - förmlich überschwemmt zu werden, stellte sie sich schon unerfreulich vor. Auch noch unter all den Informationen und Meinungen die wichtigen Fakten wie ein Goldsucher herauszusieben und diese möglichst rasch und aktuell in eine lesbare Form zu bringen, wäre ein Albtraum für Marie. Stattdessen sperrte sie an fünf Tagen die Woche die leicht verzogene Tür zum Café auf, wobei beim Öffnen das Klingeln der Glocke und das leise Quietschen des verzogenen Türrahmens eine lang vertraute Geräuschkulisse waren. Als Erstes riss Marie die Fenster auf, um den scharfen Geruch von Essig und Kernseife zu verscheuchen, den ihre Putzfee Edda allabendlich nach Ladenschluss hinterließ.
Nachdem Marie am Morgen den Laden durchgelüftet und die riesige Kaffeemaschine angeschaltet hatte, fuhr bald darauf einer der Bäckergesellen mit dem Lieferwagen vor und brachte Torten und Gebäck fürs Café. Während Marie die Köstlichkeiten in die Vitrine räumte, steckten schon die ersten Frühstücksgäste die Köpfe herein. Meist waren es Bewohner der nahe gelegenen Seniorenresidenz, die hier Zuflucht vor dem dünnen Kaffee und den faden Weißbrotscheiben des Wohnheims fanden. Marie kam sich oft wie ihre Komplizin vor, wenn die Stammkunden - drei ältere Männer Mitte siebzig - starken Espresso sowie ein herzhaftes Frühstück mit Eiern, Speck und Schwarzbrot bei ihr bestellten. »Die Panzerknacker in Rente«, nannte Marie sie bei sich und beobachtete amüsiert, wie das Trio sich über die Cholesterinbomben hermachte.
Die weibliche Kundschaft dagegen liebte die Törtchen oder Macarons und dazu ein Kännchen Tee.
Eine Dame, die mindestens neunzig sein musste, erzählte Marie immer wieder, dass sie als Kind noch mit Dienstboten und einer eigenen Köchin im Haushalt aufgewachsen war. »Sie hat die besten Zitronentörtchen gebacken, meine Liebe. Da kommt kein Konditor ran«, betonte sie und schob sich geziert einen Bissen von der Tartelette oder dem Schokoladenkuchen in den Mund.
Marie hatte all ihre Gäste ins Herz geschlossen, und es störte sie nicht, wenn Herr Harms seinen Kaffee...
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