Schweitzer Fachinformationen
Wenn es um professionelles Wissen geht, ist Schweitzer Fachinformationen wegweisend. Kunden aus Recht und Beratung sowie Unternehmen, öffentliche Verwaltungen und Bibliotheken erhalten komplette Lösungen zum Beschaffen, Verwalten und Nutzen von digitalen und gedruckten Medien.
Die Farbe, die ich mit Bay City verbinde, ist ein trübes Blasslila. Die Farbe trauriger Sonnenuntergänge über den Dächern von Fertighäusern, von geklonten Blechhäusern, verziert mit mickrigen, erst gestern gepflanzten Bäumchen. Ich sehe dieses schmutzige Blasslila, das sich über Stunden hinzieht, noch immer vor mir. Ein Blasslila, das friedlich über dem schnurrenden Schicksal der Kleinfamilien verdämmert. Punkt fünf Uhr nachmittags, sobald die ersten Autos sich wieder in den Garagen einfinden, wird in den Küchen losgelegt. Die Fernseher kreischen, die Mikrowellen laufen heiß. Grills zischen und stöhnen, Skateboards geilen sich auf, stoßen mit angeschwollenen Rollen lüstern gegen Fahrräder, Basketbälle prallen gegen Wände und lassen die Langeweile eines ganzen Kontinents durch die Straßen hallen.
Kaum ist in Bay City der Tag vorbei, wird hektisch der Abend begangen, während man sich auf den traumlosen Schlaf der Nacht vorbereitet. In Bay City sind meine Albträume blau, und mein Schmerz hat noch keinen Namen.
Ich weiß nicht einmal, ob es tatsächlich eine Bucht gibt in dieser Kleinstadt in Michigan, in der ich 18 Jahre meines Lebens verbracht habe, vor allem die endlosen Sommer meiner Jugend. Ich weiß nicht einmal, ob eine Promenade am Wasser entlangführt, ein Weg, auf dem die amerikanischen Haushalte am Sonntagnachmittag spazieren gehen oder Sparky, den dicken blonden Labrador, zum Laufen antreiben, nachdem sie den viertürigen Oldsmobile auf dem Parkplatz am Ufer abgestellt haben. Ich weiß nicht, ob der Winter auf dem Huronsee an eine längst vergangene, vergessene Eiszeit erinnert und ob es beängstigend ist, sich auf das veilchenblaue gefrorene Wasser hinauszuwagen, wenn die Stürme, die von West nach Ost über die Prärien fegen, verzweiflungsschwere Flocken mit sich führen. Ich weiß nicht, ob der Geist der native americans noch immer ein unberührtes Ufer heimsucht und ob das Wort Pontiac mehr bedeutet als eine Automarke.
Bay City ist mir fremd. Ich kenne nur den K-Mart am einen Ende der Veronica Lane, das Haus meiner Tante am anderen und die Autobahn in der Ferne, ein gewaltiges Meer, über das wir samstagmorgens zur mall von Saginaw segeln, um unsere Einkäufe zu erledigen. Und den Himmel, diesen bitteren blasslila Himmel, in dem ich für mich keinerlei Bestimmung sehe.
4122 Veronica Lane. Dort habe ich gewohnt. Veronica Lane, eine Straße mit geschichtslosem Namen, eine Straße der Zukunft. Ich sage mir oft: »Ja, das war die Adresse, 4122 Veronica Lane, Bay City, Michigan, United States of America.« Dort habe ich gewohnt. Genau so war's. Aber ich kann es einfach nicht glauben. Mein Onkel und meine Tante hatten das metallisch blaue Haus, über dessen Dach abends die Sonne erstarb, 1960 gekauft. Babette war damals schwanger mit meinem Cousin. Victor kam ein paar Wochen nach mir zur Welt, weil meine Mutter und ihre Schwester sich abgesprochen hatten, um gleichzeitig schwanger zu werden, um brandneuen Amerikanern das Leben zu schenken, die sie das Wüten und Rasen des kriegerischen Europas vergessen ließen. Das Haus war in einer Fabrik in Flint zusammengesetzt worden. Ein riesiger Lastwagen hatte es eines Tages am Ende der Veronica Lane abgesetzt. Die Blechkonstruktion wurde mit einem Rumms auf dem Boden abgestellt. Dann fuhr der Lastwagen zurück nach Flint, um die nächste Ladung aufzunehmen, die andere Straßen Amerikas besiedeln würde. Damals wurden fast alle Häuser bei uns in der Nähe gefertigt, während Millionen von Autos in Flint von General Motors und in Dearborn von Ford montiert wurden. Die Fabrikschlote stießen einen widerlich braunen Rauch aus, der dem Himmel über Michigan an Sommerabenden und Winternachmittagen seine blasslila Tönung verlieh. Im Frühjahr 1960 also wurde unser Haus in der Veronica Lane abgestellt. Bald kamen ein paar kümmerliche Bäume hinzu. Im Laufe der Zeit sollten sie dem Bungalow einen Hauch von Natur verleihen, ein gewisses Ambiente, ein bisschen Flair. Die Rosen, die meine Tante rund ums Haus pflanzte, um die Hintern der die Fenster blockierenden, brummenden Klimageräte zu kaschieren, sollten unserem kobaltblauen Haus mit den Jahren ebenfalls etwas Menschlichkeit verleihen. Ich erinnere mich noch gut an die blaue Geschwulst am Ende der Veronica Lane, an die Blechhütte, die etwas von einem Bunker hatte. Das war unser Zuhause. Es schien eher das Überbleibsel irgendeiner Apokalypse zu sein als das Versprechen einer verheißungsvollen Zukunft. Nach und nach breiteten sich an unserer Straße weitere Blechtumore aus. Der Krebs der Häuslichkeit bildete Metastasen, er wurde zu unserer vertrauten Umgebung, unserer komfortablen Geißel.
Mein Cousin und ich werden 1961 geboren. Ich erblicke im Sommer das Licht der Welt, in der veilchenblauen Hitze, in dem Jahr, als meine Mutter, meine Tante und mein Onkel unter dem Haus einen Keller graben lassen, den wir basement nennen werden. Dort spiele ich im Moder der Tage mit meinem Cousin Cowboy und Indianerin und später Tischtennis. Dort malt mein Onkel Bilder in kräftigen, grellen Farben, die ihn an das »primitive Leben in seiner Heimat erinnern«, wie meine Tante und meine Mutter spotten. Unter dem Haus gibt es also diese dunkle Höhle, in der wir uns als Kinder gegenseitig erschrecken und in der wir groß werden, während die Waschmaschine polternd den nächsten Gang in Angriff nimmt und der Trockner unsere T-Shirts, Laken und Handtücher durcheinanderwirbelt. Im basement riecht es immer muffig. Dagegen kann man nichts tun. Nicht einmal der Geruch der Ölfarben meines Onkels vermag den Hauch von Verwesung zu überdecken, der uns den Atem verschlägt, sobald wir die Holztreppe hinuntersteigen, und der durchs ganze Haus zieht. Im Sommer wird mir davon besonders übel, obwohl meine Tante versucht, ihn zu vertreiben, indem sie großzügig Glad-Spray mit Frühlingsfrischearoma versprüht, das uns, meinem Cousin und mir, zwei asthmatischen, mürrischen Kindern, die Lungen verätzt. Im Dezember 1961 wird das basement fertig. Da werde ich gerade aus dem Krankenhaus von Chicago entlassen. Die ersten Monate meines Lebens verbringe ich in diesem Krankenhaus. Atembeschwerden bei der Geburt haben mich von Bay City und von Detroit, wo ich zur Welt gekommen bin, ferngehalten. Ich werde in einer Spezialklinik in Chicago behandelt. Meine Mutter kommt mich nicht besuchen und legt keinen Wert darauf, mich selbst abzuholen. Mein Onkel wird beauftragt, das Baby, also mich, nach Hause zu holen. Am Steuer seines Chevrolet bewältigt er die Fahrt von Bay City nach Chicago und zurück in zwölf Stunden. Die Bauarbeiten für das basement halten damals das ganze Haus auf Trab. Mein Cousin ist vor Kurzem geboren. Niemand hat wirklich Zeit, sich um ein Kind zu kümmern, das von Anfang an ohnehin nur Ärger macht. Meine Überlebenschancen sind gering. Es heißt, ich sei etwas zurückgeblieben wegen Komplikationen bei der Geburt, als ich fast erstickt wäre. Meine ganze Kindheit über wiederholt meine Mutter, ich sei schwachsinnig, ich hätte mich nie von meiner Geburt erholt, man brauche mich doch nur anzusehen. Sie weint oft in den Armen ihrer Schwester Babette, während sie mir beim Großwerden zusieht, und beteuert, lieber wäre ihr eine weitere Tochter auf dem Friedhof, wie ihre erste, Angèle, die Totgeborene, die schon bei ihrer Ankunft vom Nichts Verschlungene, als ein debiles Balg wie mich. Meine ersten Lebensjahre sind also in ständiger Trauer erstarrt, außer wenn ich mal wieder Dummheiten mache, mich blamiere oder wir mit der ganzen Familie den Friedhof von Bay City besuchen, wo wir allwöchentlich am Grab meiner großen Schwester weinen.
Ich erinnere mich an eine allergische, bronchitische Kindheit, an erstickende, sauerstoffarme Jahre, durchsetzt von Krankenhausaufenthalten, bei denen man davon ausgeht, dass ich nicht überleben, dass ich endlich dorthin zurückkehren werde, wo ich hergekommen bin. Man sagt über mich, ich sei bläulich und färbte mich manchmal blasslila oder violett. Meine Gesichtsfarbe ist wie der Himmel über Michigan. Ich bin ein Veilchen, eine Blume aus Fabrikrauch. Ich erinnere mich an den Hass meiner Mutter, an den Sauberkeitsfimmel meiner Tante, an die Freundlichkeit meines Onkels, der sich grämt, dass er einen Sohn bekommen hat, und mich manchmal weinend in den Arm nimmt, und daran, dass meine Tante mir die Liebe ihres Mannes übelnimmt. An große graue Autos, an Prügeleien mit meinem Cousin, an Schneestürme, in denen mein schmächtiger kleiner Körper ein wenig auflebt, an alle möglichen Krankheiten, Fieber, Husten, rote Pusteln, an Geflüster an meinem Bett, an grauenhafte Geschichten aus dem Zweiten Weltkrieg, Verstecke für die Kinder, Straßengräben, an Gräben hinter dem Haus, in denen ich mich im Sommer verkrieche, um stundenlang den leeren blasslila Himmel über Bay City zu betrachten, und vor allem an den Fernseher, der mich über alles hinwegtröstet.
1965 verstecke ich mich im Sommer und Winter in einem Baumhaus hoch oben in einer Tanne hinter unserem Haus. Von dort habe ich einen weiten Blick. Auf die Autobahn, die drei Kilometer entfernt an...
Dateiformat: ePUBKopierschutz: Wasserzeichen-DRM (Digital Rights Management)
Systemvoraussetzungen:
Das Dateiformat ePUB ist sehr gut für Romane und Sachbücher geeignet - also für „fließenden” Text ohne komplexes Layout. Bei E-Readern oder Smartphones passt sich der Zeilen- und Seitenumbruch automatisch den kleinen Displays an. Mit Wasserzeichen-DRM wird hier ein „weicher” Kopierschutz verwendet. Daher ist technisch zwar alles möglich – sogar eine unzulässige Weitergabe. Aber an sichtbaren und unsichtbaren Stellen wird der Käufer des E-Books als Wasserzeichen hinterlegt, sodass im Falle eines Missbrauchs die Spur zurückverfolgt werden kann.
Weitere Informationen finden Sie in unserer E-Book Hilfe.