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Auf den ersten Blick scheint der Begriff der Volkssouveränität zu jenen klassischen Begriffen der Demokratietheorie zu gehören, die in der gegenwärtigen Gesellschaft keine mögliche Realität mehr bezeichnen. Dies gilt nicht nur für den Begriff im ganzen, sondern auch für seine Bestandteile. »Souveränität« scheint durch die Tatsache widerlegt zu sein, daß politische Entscheidungsprozesse zunehmend mit ihren gesellschaftlichen Regelungsbereichen in einer Weise vernetzt sind, daß eindeutige Zuständigkeiten und Verantwortlichkeiten überhaupt nicht mehr ausfindig zu machen sind. Erst recht kann dem Volksbegriff angesichts der heutigen Regionalisierung und Pluralisierung aller gesellschaftlichen Problemlagen und der fortgeschrittenen Entwicklung zu einer multikulturellen Gesellschaft keine kompakte Bedeutung mehr zugeordnet werden. Schließlich entbehrten Konzeptionen des »Volkswillens« – ohne die eine Theorie der Volkssouveränität nicht auskommen kann –, soweit sie ein kollektives Entscheidungssubjekt unterstellen, schon immer der gesellschaftlichen Grundlage. Sie waren aber, was noch zu untersuchen ist, auch in den klassischen Demokratietheorien der Aufklärung so nicht gemeint.
Es scheint jedenfalls der aktuellen gesellschaftlichen Situation zu entsprechen, daß der Begriff der Volkssouveränität einem kollektiven Verdrängungsprozeß unterliegt – ein Phänomen, das innerhalb der bundesrepublikanischen Diskussion in konservativen und linken bzw. »alternativen« Stellungnahmen gleichermaßen beherrschend ist. Typisch für die in der Bundesrepublik entwickelte Rechts- und Verfassungstheorie ist die Auffassung, daß die Geltung einer positivrechtlichen Verfassung die Existenz jedes Souveräns, auch eines demokratischen Souveräns, ausschließe und Volkssouveränität nur als Prämisse der geltenden Verfassung zu verstehen sei.?[1] Volkssouveränität wird so auf einen einmaligen Akt der verfassunggebenden Gewalt des Volkes reduziert, der sich in dieser eher symbolischen Bedeutung erschöpft und eine Verfassung konstituiert, 23der zunehmend selbst »Souveränität« zugeschrieben wird.?[2] Diese herrschende Verfassungstheorie kennt weder den gesellschaftlichen »Ort« noch das Subjekt der Souveränität und entspricht in dieser Hinsicht den faktischen Vernetzungen und der systemischen Zirkularität der heutigen politischen Entscheidungsprozesse. Sie folgt der gleichen Logik, mit der Niklas Luhmann formuliert, daß nicht mehr einzelne Entscheidungssubjekte und gar nicht mehr »das Volk« als »Träger von Willen« in Betracht zu ziehen seien, sondern nur noch das politische System in seiner Gesamtheit.?[3] Während diese konservativen Fassungen des Problems darauf hinauslaufen, eine unterdeterminierte Souveränität den institutionalisierten und systemisch strukturierten Organisationskomplexen insgesamt zuzuordnen, denen gegenüber der einstige demokratische Souverän zum »Publikum« degeneriert,?[4] das aus einem autonomen, vom konkreten Konsens unabhängigen System heraus mit unzurechenbaren Entscheidungen versorgt wird, wiederholen alternative Konzeptionen die gleiche Dichotomie aus umgekehrter Perspektive.?[5]
Der Protest gegen die selbstreferentielle Verselbständigung politischer Entscheidungsprozesse wurde von den neuen basisdemokratischen Bewegungen bezeichnenderweise nicht als Ausübung von Volkssouveränität verstanden, sondern kleidete sich in das Gewand des Widerstandsrechts oder des bürgerlichen Ungehorsams. Damit ist keineswegs ein nur terminologischer Unterschied bezeichnet. Während die Demokratietheorie der Aufklärung eine umfassende Handlungskompetenz des »souveränen Volkes« begründete, die das Volk gleichzeitig als Hüter der bestehenden Verfassung und als permanent wirksame verfassunggebende Gewalt einsetzte,?[6] also 24die Entscheidung über Fortbestand und Innovation an der gesellschaftlichen Basis verortete, setzen Widerstand bzw. Ungehorsam ein lediglich reaktives Verhalten von »Rechtsadressaten« auf vorgefertigte rechtliche und politische Entscheidungen voraus. Gegen Innovationen von oben mobilisieren sich Widerstand und Verweigerung von unten. Dieses alternative Konzept enthält darum nicht wesentlich mehr, als die Systemtheorie der gesellschaftlichen Basis ohnehin noch zubilligt. Es nähert sich jener Residualkategorie »basaler Souveränität«?[7] an, die Luhmann zufolge lediglich die Möglichkeit bezeichnet, sich in alltäglichen Interaktionen auf vorgegebene Rechtsentscheidungen zu beziehen oder nicht zu beziehen. Ebenso nehmen sich »Widerstand« und »Ungehorsam« lediglich die – wenn auch unalltäglich und demonstrativ vertretene – Freiheit, gesetztes Recht nicht anzuerkennen. Die von Luhmann bezeichnete Dichotomie zwischen einer systemischen Entscheidungssouveränität und einer lediglich negatorischen basalen Souveränität liegt darum auch den gegenwärtig vorherrschenden alternativen Konzepten zugrunde.
In ähnlicher Weise konvergieren die alternativen Selbstbeschreibungen des Ungehorsams mit der herrschenden Rechts- und Verfassungstheorie, deren Exorzismus jeglicher Volkssouveränität im Zeichen der Rechts- und Verfassungssouveränität ganz offenkundig ist. Auch wo basisdemokratische Initiativen tatsächlich nach Prinzipien der Volkssouveränität verfahren, indem sie politische Innovationen und Rechtsänderungen aus der Perspektive »von unten« zu bewirken suchen, subsumieren sie ihr Selbstverständnis und oft auch ihre Praxis der herrschenden justizstaatlichen Doktrin. Selbst genuin liberale rechtswissenschaftliche Argumentationen, die bereit sind, diese Basisbewegungen zu unterstützen, verstärken diesen Effekt. So läuft die Praxis vieler Protestbewegungen darauf hinaus, durch symbolische Regelverstöße eine gerichtliche Klärung der Rechtslage zu bewirken; und die unterstützende juristische Theorie definiert schließlich »die Bereitschaft, sich einem Gerichtsverfahren zu stellen, ?[als ein] wesentliches Element 25des zivilen Ungehorsams«.?[8] Auf diese Weise sind Widerstand und bürgerlicher Ungehorsam nicht auslösende Momente eines demokratischen Willensbildungsprozesses, der zu einer generellen Gesetzesänderung führte, sondern erschöpfen sich darin, den »Rechtsweg« einzuleiten.?[9] Die gerichtsförmige Bearbeitung einer solchen Konfliktlage führt aber, sofern nicht gleichzeitig eine öffentliche Diskussion in Gang gesetzt wird, die ihrerseits demokratische Entscheidungen bewirkt, weder zu einer Rechtsänderung noch zu einer »Klärung« des Rechts. Angesichts des gegenwärtigen Methodenkanons der Rechtsprechung, der äußerst situative Abwägungen zuläßt und es den Gerichten erlaubt, vergleichbare Fälle als je neue zu definieren,?[10] betrifft eine gerichtsförmige Entscheidung immer nur den vorliegenden Einzelfall. Gleichzeitig kommt es zu einer Juridifizierung der basisdemokratischen Aktivitäten, zu dem erklärten Versuch, bürgerlichen Ungehorsam wiederum »an Regeln zu binden«?[11] – Regeln, die in jeder einzelnen Situation von den Gerichten neu bestimmt werden können.
Nur die extreme Situativität in der gegenwärtigen Verrechtlichung von zivilem Ungehorsam und Widerstand trennt aber diese noch von einer schlichten Wiederbelebung des Widerstandsrechts als eines feudalständischen Rechtsinstituts. Was Volkssouveränität von Widerstandsrecht, das sie einmal historisch ablöste, unterscheidet, ist gerade die Tatsache, daß sie sich nicht aus bestehendem Recht oder einer geltenden Verfassung ableitet, sondern der gesamten Rechtsordnung vorausliegt und diese erst begründet. Souveränität bedeutete auch in der Konnotation der »Volkssouveränität« eine legibus-solutus-Position, die die Aufklärungsphilosophie in der Forderung permanenter Verfassungsrevision durch das »Volk« artikulierte und in der Formel erläuterte, daß in dieser Hinsicht nur die Regierung, nicht aber das Volk an die Verfassung gebunden 26sei.?[12] Das mittelalterliche Widerstandsrecht dagegen war tatsächlich ein Rechtsinstitut, bezeichnete also eine institutionalisierte, kodifizierte und justitiable Funktion und bezog sich auf eine prinzipiell unverfügbare Rechtsordnung. Hier war jede gesellschaftlich-politische Aktion nur aus der vorgegebenen Rechtsordnung ableitbar, die sowohl zu ihrer Interpretation wie zu ihrer Exekution Gerechtigkeitsexpertokratien begründete.?[13] Unter Berufung auf dieses Widerstandsrecht wurde bekanntlich altes Privilegienrecht gegen aufkommende absolutistische Innovationen verteidigt. Gerade die Tatsache, daß seit dem Hochmittelalter Gesetzgebungsansprüche der Herrscher sich ankündigten,?[14] machte Widerstand im Namen eines Rechts plausibel, das Priorität vor jeder Handlung und Entscheidung beanspruchte. Auch der ständestaatliche Kompromiß, in dem später die absolutistischen Tendenzen zur souveränen Rechtssetzung mit Institutionen zur Wahrung des alten Rechts und der privilegierten Freiheiten zusammengeschaltet wurden, ließ nur die Idee der Priorität des Rechts vor der Souveränität der Rechtssetzung zu. Weil nämlich in diesem widersprüchlichen Kompromiß Ort und Subjekt der Souveränität nicht zu bestimmen waren, erhielt sich die tradierte mittelalterliche Vorstellung einer Souveränität der Gesamtheit der politischen Institutionen und einer Souveränität der Rechtsordnung als solcher aufrecht.?[15] So argumentierte noch Coke in den englischen Konflikten des 17. Jahrhunderts anläßlich seiner generalisierenden Interpretation der feudalen...
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