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Am Mittwoch, den 13. November 2024, bin ich am frühen Abend mit Sahra Wagenknecht in Berlin Mitte zu einem Gespräch für dieses Buch verabredet. Das Café, in dem wir uns sehen, liegt im Zentrum des Regierungsviertels und ist als Treffpunkt für Politiker, Publizisten und Journalisten bekannt. An diesem Tag kommt es mir vor, als säße Sahra Wagenknecht in einem Bühnenbild jener krisenhaften Lage, in der sich Deutschland gerade befindet. Der Status quo ist ein Land in der Regierungskrise, das auf einen harten Winterwahlkampf und vorgezogene Neuwahlen am 23. Februar 2025 zusteuert. Seit einer Woche hat Deutschland eine rot-grüne Minderheitsregierung, die in ihren letzten Amtstagen um Mehrheiten für letzte Gesetzesprojekte kämpfen muss. Ein ähnliches Ringen um Mehrheiten droht auch in Sachsen und Thüringen nach den Landtagswahlen im September 2024. Seit einer Woche ist zudem klar, dass Donald Trumps Wiederwahl das transatlantische Bündnis auf die Probe stellen wird und die von Russland angegriffene Ukraine nachlassende Unterstützung durch den Westen befürchten muss. Kurzum, es ist eine Zeit schwerer politischer Erschütterungen, und das wird für mich an der Szenerie, auf die ich treffe, erkennbar.
Als ich das Café betrete, sitzt am Tisch in der hinteren Ecke Marco Buschmann, der bis vor einer Woche noch FDP-Justizminister in der gescheiterten Ampelregierung war. Er kommt gerade aus dem Parlament, wo der Kanzler mit seiner Regierungserklärung den Wahlkampf eingeleitet hat. Der Ton war scharf. Am Nachbartisch ist der Unions-Außenpolitiker Norbert Röttgen mit dem Historiker Timothy Garton Ash ins Gespräch vertieft. Sie reden über die Rückkehr Trumps ins Weiße Haus, das dritte Kriegsjahr in der Ukraine und die politische Lage in Deutschland.1 In der Mitte des Raumes sitzt Sahra Wagenknecht im roten Kostümkleid und trinkt grünen Tee mit Honig. Auch sie war eben noch im Parlament und hat in ihrer Rede ein »verunsichertes Land«2 beschworen, dem sie sich selbst als politische Lösung verspricht. Die Chefin des »Bündnisses Sahra Wagenknecht«, das sich Anfang 2024 aufgemacht hat, Mehrheitsverhältnisse zu verändern, scheint ihre Umwelt kaum wahrzunehmen. Auch die anderen grüßen sie nicht.
Sie sei »gekommen, um zu bleiben«3 - das war die Ansage, mit der Wagenknecht Anfang 2024 jene Partei an den Start brachte, in der sie Name, Gesicht und Programm ist: das »Bündnis Sahra Wagenknecht«. Das Gründungsjahr war eine rasante Erfolgsgeschichte. 6,2 Prozent holte das BSW bei der Europawahl; bei den drei ostdeutschen Landtagswahlen im Herbst wurde es aus dem Stand zweistellig. Doch schon am Ende des Jahres schwächelt die junge Partei wieder in den Umfragen. Bei der Bundestagswahl 2025 geht es für Wagenknecht nun um alles. Etabliert sich die Partei als Bundestagsfraktion, könnte sie die Tektonik im Parlament und in der Parteienlandschaft verschieben. Scheitert sie an der Fünfprozenthürde, könnte Wagenknechts riskantes Parteiprojekt schon nach einem Jahr wieder Geschichte sein.
Was also will diese Frau, die schon seit über 30 Jahren in der deutschen Politik ist, aber noch nie in Regierungsverantwortung war? Wie weit werden die ersten Erfolge sie tragen? Kann Sahra Wagenknecht die Hoffnungen, die sie bei vielen Menschen geweckt hat, erfüllen? Oder muss Deutschland Angst haben vor der Wut, die sie schürt und dem Widerspruch, den sie einsammelt?
Seit 2020 kenne ich Sahra Wagenknecht. Als Hauptstadtkorrespondentin des ZDF bin ich ihr zuerst in ihrer Rolle als Politikerin der Linkspartei begegnet, dann als ihre Spalterin, und schließlich als Gründerin einer linkskonservativen Protestpartei, die ihren Namen trägt. Von den ersten Planungen im Sommer 2023 bis zu den Erfolgen bei den ostdeutschen Landtagswahlen im Herbst 2024 haben meine Kollegin Christiane Hübscher und ich das Parteiprojekt für die 5-teilige ZDF-Dokumentation »Inside Bündnis Wagenknecht« exklusiv begleitet.4 Was wir dort über ein Jahr vor und hinter den Kulissen erlebt haben, ist Teil dieses Buches. Hinzu kommen zahlreiche weitere Gespräche mit Vertrauten, politischen Weggefährten, Gegnerinnen und Gegnern, die ich bis Mitte Dezember 2024 geführt habe. Auch mit ihrem Ehemann Oskar Lafontaine habe ich mich für dieses Buch unterhalten. Keiner meiner Gesprächspartner hat das Buch vor Erscheinen gelesen oder konnte Einfluss nehmen.
Klar ist für mich: Sahra Wagenknecht ist ein politisches Phänomen, das einerseits aus ihrer Person und Geschichte heraus erklärt werden kann und andererseits untrennbar verbunden ist mit den multiplen Krisen und erschütterten Gewissheiten unserer Zeit. Sie pflegt ein politisches Außenseitertum, zielt aber gleichzeitig ab auf Popularität und Aufmerksamkeit. Sie hat alleine geschafft, wofür andere im modernen Medienzeitalter teure Imageberater engagieren: Sie hat aus ihrer Person eine Marke gemacht und aus dieser Marke eine Partei. Sahra Wagenknecht behauptet, die Stimme einer Bevölkerung zu sein, die sich in der politischen Landschaft der Bundesrepublik nicht mehr repräsentiert sieht. Ihre Gegner dagegen nennen sie die »Putin'sche Stimme in Deutschland«5. Im dritten Kriegsjahr nach Beginn der russischen Großoffensive in der Ukraine hat Wagenknecht das Wort »Frieden« vereinnahmt und Wählerstimmen gesammelt gegen eine weitere militärische Unterstützung des angegriffenen Landes. Bei alldem strebt sie weniger die Macht in Form von Ämtern und realpolitischer Verantwortung an als die Macht über Diskurse. Indem sie mit Wut und Widerspruch die Debatten bestimmt, will sie Mehrheiten verschieben und andere Parteien vor sich hertreiben. Wut und Widerspruch sind dabei aber vor allem Krisensymptome; Lösungen für die großen Zukunftsfragen unserer Zeit sind sie nicht.
Der Tag, der bei meinem Treffen mit Wagenknecht erst eine Woche zurückliegt und sinnbildlich für viele der politischen Erschütterungen steht, ist der 6. November 2024: Am Morgen wird klar, dass Donald Trump als US-Präsident wiedergewählt ist. Am Mittag lässt das BSW in Sachsen die Sondierungsgespräche mit CDU und SPD platzen und das Land steuert auf eine Minderheitsregierung zu. Am Abend feuert Olaf Scholz seinen Finanzminister Christian Lindner, die Bundesregierung ist damit gescheitert. Es ist ein Tag, dessen internationale und nationale Folgen noch lange nachwirken werden. Die Thüringer BSW-Spitzenkandidatin Katja Wolf wird die Ereignisse dieses Tages mir gegenüber später als einen Grund nennen, warum sie den Machtkampf mit Parteichefin Wagenknecht um eine Koalition mit CDU und SPD in Thüringen aufgenommen hat: »Das war ein Tag, wo wir früh wach geworden sind mit dem Trump-Ergebnis, und wo man abends gedacht hat: Was war das für ein Irrsinn heute?«, sagt sie, »Trump in den USA, keine Koalition in Sachsen und das Ampel-Aus in Berlin. Meine Mutter schrieb mir abends: >Jetzt brauchen wir wenigstens in Thüringen Stabilität.< Wir hatten alle das Gefühl, die Welt gerät gerade aus den Fugen. Und für mich war dann klar: Jetzt haben wir tatsächlich noch mal eine andere Verantwortung für Thüringen.«6
Wagenknecht selbst ist am Abend des 6. November 2024 mit ihrem Ehemann nach Berlin zum 70. Geburtstag von Klaus Ernst eingeladen. Oskar Lafontaine hält die Festrede auf den langjährigen politischen Weggefährten, mit dem er 2007 die ostdeutsche PDS und die westdeutsche WASG zur Linken vereinigt hat, der wie er Parteichef der Linken war und nun bayerischer Landeschef und stellvertretender Gruppenvorsitzender in der neuen Partei von Sahra Wagenknecht geworden ist. Lafontaine hat einen anderen Blick auf die Wiederwahl von Donald Trump als Katja Wolf. Er sieht darin ein politisches Anti-Establishment-Phänomen, für das er und seine Frau auch Sympathien haben. Von allen Ereignissen dieses Tages habe ihn Trumps Rückkehr ins Weiße Haus am wenigsten überrascht, sagt Lafontaine zu mir: »Dass Trump gewählt wurde, war für mich keine so große Überraschung, weil ich schon seit Jahren beobachte, dass Trump etwas getroffen hat, was die Arbeiterschaft anspricht. Er ist der Gegenpart zu dem Establishment, das jahrelang regiert hat und das von den Arbeitern als verlogen und abgehoben abgelehnt wird.«7
Ein Gegenpart zum Establishment will auch Sahra Wagenknecht mit ihrer neuen Partei sein und dabei zugleich: eine Alternative zur »Alternative für Deutschland«, zu jener Partei also, die bisher am erfolgreichsten Anti-Establishment-Politik gemacht hat. Die Konkurrenz, in die sie sich so begibt, ist riskant. Sie sucht Auseinandersetzung und Abgrenzung - und es ist noch nicht klar, ob sie Bollwerk gegen die Rechtspopulisten ist, oder deren »Vorfeldpartei.«8
Auch der Soziologe Andreas Reckwitz sieht »einen tiefer liegenden Zusammenhang« im Zusammentreffen von Trumps Erdrutschsieg und dem Ampel-Aus am 6. November 2024: »Den Wahlsieg von Trump kann man nicht mehr als Betriebsunfall der Geschichte abtun. Dahinter steckt eine soziale Dynamik, die sich in anderer Weise auch beim Zusammenbruch der Ampel gezeigt hat.«9 Reckwitz erkennt...
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