Schweitzer Fachinformationen
Wenn es um professionelles Wissen geht, ist Schweitzer Fachinformationen wegweisend. Kunden aus Recht und Beratung sowie Unternehmen, öffentliche Verwaltungen und Bibliotheken erhalten komplette Lösungen zum Beschaffen, Verwalten und Nutzen von digitalen und gedruckten Medien.
Es war ein ungewöhnlich warmer Sommer, aber die über der East Bay brütende Hitze schickte bereits fahle Nebelfinger bis in die Stadt. Anna spürte es auf ihrer Haut, spürte die kühle Liebkosung, die sie «Kerzenwetter» nannte. Seit ihrer Zeit als Hausbesitzerin in Russian Hill hatte sie keinen Kamin mehr gehabt, aber für sie brachte auch der richtige Einsatz von Kerzenlicht all das mit, was die archaische Behaglichkeit eines Lagerfeuers ausmachte.
Sie griff nach dem lila Stabfeuerzeug aus Plastik, das auf der Anrichte im Wohnzimmer lag. Allerdings machten ihre Beine nicht richtig mit, und sie suchte einen Augenblick Halt, stand albern verkrümmt da, die Hand auf der Hüfte wie Joan Crawford als Gangsterliebchen in den Vierzigern. Das Ding in ihrer zittrigen alten Hand sah einer Pistole tatsächlich beängstigend ähnlich, inklusive Abzug und Trommel.
Denk nicht an eine Pistole. Stell dir lieber einen Zauberstab vor.
Sie zielte mit dem Anzünder auf den Docht der Kerze, einer stattlichen Säule, deren Rand vom Gebrauch schon wellig war, konnte sich jedoch nicht daran erinnern, sie schon einmal gesehen zu haben. Sie fragte sich, ob im besten Fall ihr Mitbewohner Jake sie in seinem Zimmer benutzt hatte.
«Stopp!» Jake hatte über den Rand seiner Zaubertafel hinweg gesehen, was sie vorhatte, und sprang vom Sofa auf. «Die da nicht!» Die Bestürzung in seiner Stimme ließ an jemanden denken, der in letzter Minute vor der Gaskammer auftaucht und die Aussetzung der Exekution durch den Gouverneur verkündet.
Anna gehorchte auf der Stelle und ließ den Arm mit dem Feuerzeug sinken. «Tut mir leid, mein Lieber. Ist die für jemand speziellen?» Das war ein bisschen bösartig, denn Jake war leicht in Verlegenheit zu bringen, aber ihr gefiel die Vorstellung, dass er vielleicht jemanden getroffen hatte, der ihm etwas Kerzenlicht wert war.
«Sie ist für dich», sagte er sanft und beschämte sie mit seiner würdevollen Teddybärart. «Habe sie heute morgen bei Pottery Barn gekauft.»
«Aha, wie aufmerksam.» Dieser angeschmolzene Rand verwirrte sie immer noch.
«Ich kann noch mehr besorgen, wenn sie dir gefällt.»
«Ja . doch.» Sie hoffte, dass es ehrlich klang; was konnte man über eine schlichte weiße Kerze schon sagen? «Und warum darf ich sie nicht anzünden?»
Er nahm die Kerze in die Hände, fummelte an der Unterseite herum und brachte sie von Innen zum Leuchten - wie eine Kerze. «Woalla!», krähte er.
«Meine Güte.» Mehr fiel ihr dazu nicht ein. Gab es nichts auf dem großen weiten Erdenrund, das dieses Kind nicht durch etwas rätselhaft Elektronisches ersetzen konnte?
«Du sollst sie nicht anzünden», sagte er. «Und du sollst sie nicht auspusten.»
Anna riss theatralisch die Augen auf. «Und du sollst das Haus nicht in Brand stecken.»
«Das auch, genau.» Jake lächelte, ohne etwas von seiner elternhaften Entschlossenheit zu verlieren - eine echte Leistung, wenn man bedachte, dass er fast sechzig Jahre jünger war als sie. Wie könnte sie ihm ernsthaft vorwerfen, dass er sich deswegen Sorgen machte? Schließlich war er im letzten Winter, kurz nach dem ersten Kälteeinbruch, eines Nachmittags aus dem Fitnessstudio nach Hause gekommen und hatte sie schlafend in ihrem Stuhl gefunden, während die Reste einer violetten Kerze über den Rand des Beistelltischchens tropften wie eine Uhr von Dalí. Sie hatte nicht mitbekommen, dass es mit der Kerze zu Ende ging.
«Und jetzt die gute Nachricht.» Er strahlte sie beharrlich an. «Es gibt einen Timer! Den kannst du so einstellen, dass er sich ein- und ausschaltet, wann immer du willst. Spitzenmäßig - was?»
Sie hatte sein ständiges «spitzenmäßig» etwas über, ließ es ihm aber durchgehen; sein Eifer bei dieser Aktion rührte sie. Sie vermutete nichts als Freundlichkeit, bis sie seinen Blick bemerkte. «Also das ist dann das Ende des Kerzenlichts?»
Er zögerte. «Na ja . wenn du es so formulieren willst.»
«Wie sollte ich es deiner Meinung nach denn formulieren?»
«Himmel, Anna . das Ende des Kerzenlichts? Es geht einfach nicht mehr, dass du etwas anzündest, wenn ich nicht hier bin, sonst nichts.»
«Ich verstehe», sagte sie gefasst und meinte es auch so; ein paar ihrer Spielsachen bedurften jetzt elterlicher Aufsicht. Ihre Tage waren inzwischen voller kleiner Gesten der Kapitulation - warum sich darüber aufregen? Man konnte das als Verlust sehen oder aber als Vereinfachung. Ihre Tochter Mona hätte dieses zenartige Loslassen als Vertrauensbeweis bezeichnet. Anna zog es vor, darin ein «Abtreten wie eine Dame» zu sehen.
«Ich habe der Flamme Lebewohl gesagt», deklamierte sie und ließ die Hand mit einer theatralischen Geste durch die Luft fahren, in der Hoffnung, damit jeglichen Anschein von Melancholie zu überspielen. «Noch ein Gepäckstück weniger für die Reise.»
Er seufzte erleichtert. «Danke, aber . du musst oder was auch immer. In deinem Leben wird es noch eine Menge Flammen geben. Glaub mir.»
Das klang so merkwürdig absichtsvoll, dass sie ganz betroffen war. «Was in aller Welt soll das denn heißen?»
«Nichts.» Jake lief unter seinen Stoppeln rot an und war offenbar beschämt, weil er mehr gesagt hatte, als er eigentlich hatte sagen wollen. Der Junge war seinen Gefühlen wie immer hilflos ausgeliefert und reagierte wie ein Chamäleon. «Das heißt gar nichts», sagte er.
«Ich erwarte keinen Scheiterhaufen», sagte sie.
Er schaute sie finster an. «Das ist nicht lustig.»
«Aber was heißt denn dann ?»
«Das ist einfach - du weißt schon, so eine Redensart.»
Sie wusste, dass Jake viele Qualitäten hatte, aber ein Meister der Metaphorik war er bestimmt nicht.
Wie üblich lasen sie im Wohnzimmer, bis es Zeit war, ins Bett zu gehen. Anna hatte einen alten Freund aus ihrer Kindheit wiederentdeckt: Richard Halliburton's Book of Marvels. Noch immer war es von geradezu biblischen Ausmaßen; als Kind musste es sie überwältigt haben. Sie blätterte die vergilbten Seiten langsam um, ließ düstere Schwarzweißfotos von Machu Picchu, dem Taj Mahal und einem Luftschiff an sich vorüberziehen, das albernerweise an der Spitze des Empire State Building festgebunden war. Die Bebilderung hatte sie nie beeindruckt, aber die rasante Prosa des Autors hatte das mehr als wettgemacht. Seine Beschreibung der Iguatzú-Fälle war selbst ein Wasserfall, eine Sturzflut von Nebensätzen, die sich in einem weißen Gischtnebel über die Seiten ergossen. Mr. Halliburton war bei all seiner Prahlerei doch auch so etwas wie eine Dame gewesen, und vielleicht hatte Anna auf diese unterschwellige Tatsache reagiert, lange bevor sie ihre ganz eigene Art von Damenhaftigkeit herausgebildet hatte.
«Was liest du?», fragte Jake und hob den Blick von seiner Zaubertafel.
«Halliburton.»
Er verzog das Gesicht. «Dick Cheneys Firma?»
«Nein.» Es schüttelte sie bei dem Gedanken, dass dieser schreckliche kleine Mann etwas mit ihrer geliebten Schwarte zu tun haben könnte. «Der Abenteurer. Richard Halliburton.»
Von Jake kam keine Reaktion.
«Du weißt doch - der Mann, der sich selbst als Schiff bezeichnet hat, um durch den Panamakanal schwimmen zu können?»
Er schüttelte den Kopf. «Nie gehört.»
«Er war sehr attraktiv.» Sie starrte auf das Bild eines sonnenverbrannten Blonden, der rittlings auf einem Kamel saß. «Er ist mit nicht einmal vierzig gestorben.»
«Was ist passiert?»
Anna zuckte mit den Schultern. «Er segelte 1939 auf einer chinesischen Dschunke von Hongkong zur Weltausstellung auf Treasure Island. Sie gerieten auf See in einen Taifun. Man hat sie nie gefunden.»
«Sie?»
«Er hatte einen Kapitän und eine Mannschaft mit an Bord. Und einen Liebhaber, Paul soundso, mit dem zusammen er die Bücher schrieb. Sie haben gemeinsam die ganze Welt bereist. Eine hochromantische Angelegenheit, könnte man sagen, oder? Zwei schwer verliebte Männer, verschollen auf See.»
«Woher weißt du, dass sie schwer verliebt waren?»
«Das kann ich ihnen nur geraten haben.»
«Was meinst du?»
«Na ja, sonst wäre das doch absurd. Eine chinesische Dschunke? Was in aller Welt sollte das Ganze? Es ging nicht mal um einen Weltrekord. Sie waren einfach nur lebenslustig.»
Er warf ihr ein schräges Lächeln zu. «Aber nicht, wenn sie verliebt waren.»
«Es wäre ganz hilfreich», stellte sie fest. «Ich wäre dann wesentlich weniger ungnädig mit ihnen.» In ihrem Alter war es schwierig, nicht wenigstens ein bisschen pikiert über jeden zu sein, der sich verabschiedete.
Jake schwieg ein paar Augenblicke. «Wie lange hast du dieses Ding schon?»
Er meinte das Buch. Sie strich mit der Hand darüber, als würde sie einen alten Köter streicheln. «Seit bevor ich ich wurde», sagte sie. Sie hob das Buch an ihre Nase und sog den Geruch ein, der sich in den Buchdeckeln festgesetzt hatte: Ein Hauch von Rosenwasser vermischt mit dem Desinfektionsmittel Lysol, der wie der Geist aus der Flasche die Blue Moon Lodge heraufbeschwor. Dieses Buch war wie eine Kurzfassung von Winnemucca, das einzige ihrer Besitztümer, das sie immer noch zuverlässig von hier nach dort befördern konnte.
Ich wette, dein Buch kann so etwas nicht, dachte sie.
Aber sie wusste ja, dass Jake gar kein Buch las. Das verräterische Schnattern seines Lieblingsspiels war ihr nicht fremd, das mit den bösen Vögeln und den Schleudern. Das Geräusch...
Dateiformat: ePUBKopierschutz: Wasserzeichen-DRM (Digital Rights Management)
Systemvoraussetzungen:
Das Dateiformat ePUB ist sehr gut für Romane und Sachbücher geeignet - also für „fließenden” Text ohne komplexes Layout. Bei E-Readern oder Smartphones passt sich der Zeilen- und Seitenumbruch automatisch den kleinen Displays an. Mit Wasserzeichen-DRM wird hier ein „weicher” Kopierschutz verwendet. Daher ist technisch zwar alles möglich – sogar eine unzulässige Weitergabe. Aber an sichtbaren und unsichtbaren Stellen wird der Käufer des E-Books als Wasserzeichen hinterlegt, sodass im Falle eines Missbrauchs die Spur zurückverfolgt werden kann.
Weitere Informationen finden Sie in unserer E-Book Hilfe.