Schweitzer Fachinformationen
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Wenigstens ein Kaninchenloch müsste es doch geben, dachte sie. Irgendetwas an diesem Hang, das tief vergrabene Erinnerungen weckte und sie zurückbrachte ins verlorene Wunderland - der Blick auf Alcatraz, zum Beispiel, die Nebelhörner oder der Geruch der bemoosten Stufen unter ihren Füßen. Alles hier war ihr vertraut und doch so fremd wie ein Ort, den sie mal im Kino gesehen, aber selbst nie besucht hatte. Sie war diese verwitterten Stufen - wie oft? - na, tausendmal hochgestiegen, doch jetzt gab es nicht den kleinsten Hinweis darauf, dass sie nach Hause kam, nichts, was ihr die alten Zeiten zurückbrachte.
Die Vergangenheit holt uns nicht ein, dachte sie. Sie weicht vor uns zurück.
Auf dem Treppenabsatz blieb sie stehen, um zu verschnaufen. Unter ihr fiel die Querstraße zur Barbary Lane steil hügelab in Richtung Bay, sodass die Perspektiven sich verschoben wie auf einem jener schrägen Escher-Bilder, denen man in den Siebzigern nicht entkommen konnte. Die Bay war heute leuchtend blau, vom harten, grellen Blau einer Gasflamme. Sollte der Nebel schon im Anmarsch sein - die Hörner deuteten darauf hin -, so konnte sie ihn von hier aus nicht sehen.
Auf dem Fußweg am Ende der Treppe blieb sie mit dem Absatz zwischen den Pflastersteinen hängen. Grummelnd ruckelte sie ihn frei und schalt sich dafür, dass sie die Ferragamos nicht im Four Seasons gelassen hatte. Wenn sie sich richtig erinnerte, hatten solche Steine als Ballast in den Schiffen gedient, die um Kap Hoorn hierhergesegelt waren - jedenfalls hatte das einst ihre Vermieterin Mrs. Madrigal behauptet. Zwanzig Jahre später sahen die Granitklötze verdächtig gewöhnlich aus und waren von den Klinkern in ihrer Einfahrt in Connecticut kaum zu unterscheiden.
Als ihr Blick auf das überdachte Eingangstor von Haus Nummer 28 fiel, schoss ein Schwarm wilder Papageien im Tiefflug über die Straße und gackerte dabei wie ein Haufen Waschweiber. Diese oder ähnliche Vögel hatte es hier schon gegeben, bevor sie durch einen populären Dokumentarfilm zu weltweiter Berühmtheit gelangt waren. Sie erinnerte sich daran, wie stolz sie gewesen war, als sie den Film in Darien gesehen hatte, und an das gleichzeitige Gefühl völliger Irrationalität - so als würde sie behaupten, jemanden gut zu kennen, der an der Highschool nur ein entfernter Bekannter gewesen und inzwischen berühmt geworden war.
Aber jetzt gehörten die Vögel in eine andere Welt.
Das überdachte Eingangstor war noch das gleiche wie früher, nur in Neu. Die Dachschindeln aus Redwood waren schon bei ihrem Umzug an die Ostküste in den späten Achtzigern vor sich hin gerottet und gebröckelt. Die neuen bestanden aus Schiefer - oder zumindest einem guten Imitat. Das einst knarrende, aber einladende Tor hatte jetzt ein Schloss und einen Klingelknopf, und oben unter dem Dachvorsprung schien eine Überwachungskamera zu stecken. So viel zu ihrem Plan, mal schnell im Garten herumzuschnüffeln.
Durch ein Loch im Zaun versuchte sie, einen Blick auf das Haus zu erhaschen. Die umlaufende Verkleidung aus Schindeln war offenbar erst vor kurzem erneuert worden. Die Verputzleisten um die Fenster erstrahlten in einem strengen Schwarz. Und wo einmal Mrs. Madrigals Eingang gewesen war, führten jetzt moderne Glastüren in die Wohnung. (Hatte denn keiner einen Gedanken daran verschwendet, diese Tür mit den wunderbaren Buntglaspaneelen zu retten?) Die Zugangstreppe, stellte sie erschaudernd fest, war entweder komplett erneuert oder so verändert worden, dass sie den Erfordernissen des Umbaus in ein Einfamilienhaus Genüge tat.
Damals waren wir eine Familie, dachte sie. Selbst wenn jeder von uns eine eigene Wohnung hatte.
Aus diesem Blickwinkel konnte sie allerdings das kuriose, streichholzschachtelkleine Atelier auf dem Dach nicht sehen, das Mrs. Madrigals Mieter immer «die Dachbaracke» genannt hatten. Angesichts dieses umfassenden Umbaus stand zu vermuten, dass es nicht mehr existierte. Vielleicht war es durch eine Dachterrasse ersetzt worden - oder durch ein komplett neues Stockwerk, und sie war sich nicht sicher, was sie davon halten sollte. Sie hatte zwar schöne, aber auch schreckliche Erinnerungen an diesen Ort.
Zwei Querstraßen weiter stellte sie voller Freude fest, dass es den kleinen Familienbetrieb an der Ecke namens Searchlight Market noch gab, wo sie auch früher schon zu Mittag gegessen hatte. Ihr alter Waschsalon gleich nebenan war allerdings schick renoviert worden und hieß jetzt niedlicherweise Zur verlorenen Socke. Und obwohl Woo's Cleaners, ihre frühere Reinigung, ganz offensichtlich geschlossen hatte, gefiel ihr noch immer die Schaufensterbeschriftung, deren silbrige Lettern aus den dreißiger Jahren stammten. Die Fenster waren mit blauem Einwickelpapier ausgeschlagen, ebenjenem Papier, in dem sie früher ihre Wäsche nach Hause getragen hatte. Auf der Straßenseite gegenüber versuchte sich neben der ehemaligen Schlachterei Marcel & Henry ein Ladengeschäft mit kleinen Kunstobjekten; bei Marcel & Henry hatte sie sich gelegentlich den Luxus einer Pâté geleistet, nur um das Gefühl loszuwerden, sich tatsächlich wie eine Sekretärin zu fühlen.
Und dort war Swensen's, die Eisdiele an der Kreuzung Hyde und Union Street, ihre Rettung in so mancher Nacht, in der sie mit Mary Tyler Moore zu Hause geblieben war. Das hier war der Ur-Swensen's, der allererste Laden, den Mr. Swensen in den späten Vierzigern eröffnet und immer noch selbst geführt hatte, als sie in dieser Gegend lebte. Sie wollte gerade um der guten alten Zeiten willen hineingehen, als sie die Feuerwehrautos auf der Union Street sah.
Um die Ecke herum stieß sie auf ein paar Dutzend Schaulustige unter einem großen, rußigen Loch im ersten Stockwerk eines Hauses. Die Gefahr schien gebannt zu sein, doch es roch beißend nach nasser Asche. Die Feuerwehrleute waren zwar erschöpft, aber schon, wie nach jedem Einsatz, dabei, die ineinander verschlungenen Schläuche zu entwirren. Einer der Jüngeren, ein munterer Rothaariger à la Prinz Harry, schien sich des Publikums aus Müßiggängern deutlich bewusst zu sein und warf sich für die Galerie in die Brust.
Wir lieben unsere Feuerwehrleute wirklich, dachte sie, obwohl sie längst das Recht eingebüßt hatte, sich als Bewohnerin von San Francisco zu fühlen. Sie gehörte genauso wenig hierher wie die teigige Frau in einem «SUPPORT OUR TROOPS»-T-Shirt, die eben an der Kreuzung aus der Cable Car kletterte. Es war schon Jahre her, dass sie mit der Cable Car gefahren war, aber Mary Ann erinnerte sich an jeden Haltegriff und jede Bohle so genau wie an ihr erstes Fahrrad. Die Wagen dieses Zuges trugen an den Seiten hellblaue Schilder, denen man entnehmen konnte, dass sie zur Zweihundertjahrfeier gebaut worden waren - genau in jenem Jahr, als Mary Ann nach San Francisco gezogen war.
Sie wartete, bis die Cable Car weiterfuhr, und dabei ging ihr etwas durch den Kopf, das ihre Schritte schließlich doch in Swensen's Eisdiele lenkte und den nicht mehr ganz so jungen Weißen hinter der Theke ansprechen ließ.
«Ich habe hier immer was gekauft», sagte sie so gewinnend wie möglich, «aber ich weiß nicht mehr, wie es heißt. Ist auch schon dreißig Jahre her, und vielleicht .»
«Swiss Orange Chip.»
«Wie bitte?»
«Schokolade mit Orangenaroma, stimmt's?»
«Genau!»
«Das ist Swiss Orange Chip.»
Sie starrte ihn an. «Wie um alles in der Welt wussten Sie das?»
Er zuckte mit den Schultern. «Das ist die Sorte, an deren Namen sich die Leute nie erinnern können.»
«Oh ., na klar.» Sie schenkte ihm ein säuerliches Lächeln und fühlte sich hoffnungslos durchschnittlich. «Auf jeden Fall schmeckt es richtig gut.»
Sie bestellte eine Kugel in der Waffel und ging, ohne ein einziges Mal daran zu lecken, die paar Meter weiter zur Russell Street, einer Gasse, die von der Hyde abzweigte; dort hatte sich in den frühen Fünfzigern Jack Kerouac eingenistet, um an Unterwegs zu arbeiten. Ihr erster Ehemann, Brian, hatte sie einmal hierhergeschleppt, als es gerade zwischen ihnen anfing, weil dieser Ort eine große Bedeutung für ihn besaß. Er hatte vor dem kleinen Haus mit dem vorspringenden Spitzdach gestanden wie vor der Kathedrale von Lourdes und ihr erklärt, dass dort Neal Cassady gewohnt habe, und sie - der Herr sei ihrer armen Provinzlerseele gnädig - war mit der Frage herausgerückt, ob das ein Bruder von David Cassidy sei. Damals hatte er großzügig darüber hinweggesehen - schließlich wollte er mit ihr ins Bett -, aber in den folgenden Jahren konnte er es nicht lassen, sie immer wieder daran zu erinnern. Es war eine für sie und Brian sehr bezeichnende Situation, und hätte sie ein bisschen besser aufgepasst, dann wäre ihnen beiden vielleicht eine Ehe erspart geblieben, die von Anfang an unter einem schlechten Stern stand.
Inzwischen, so wusste sie von ihrer beider Adoptivtochter, lebte Brian sein eigenes Leben unterwegs, fuhr mit seinem Wohnmobil von Nationalpark zu Nationalpark und nahm das Leben so locker wie nie zuvor. Mit seinen vierundsechzig war er sieben Jahre älter als sie und hatte damit ein Alter erreicht, dem ein Babyboomer nur mit bitterer Ironie entgegentreten konnte. Will you still need me? Will you still feed me?
Sie kehrte dem Cassady-Häuschen den Rücken, ging zurück Richtung Hyde Street und tauchte endlich wieder in den zartbitteren Zitrusgeschmack des Swiss Orange Chip ein. Wie sie vermutet hatte, brachte er mit einem Schlag alle unterschwelligen...
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