Schweitzer Fachinformationen
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Die Limmat lag wie ein träges Reptil in ihrem Bett. Eine schwüle Hitze hing über dem Tal. Nico Vontobel kratzte sich am Kopf. Er spürte den Schweiß, der im schütteren Haar klebte, wischte sich die salzigen Tropfen aus den brennenden Augen. Dann ließ er seinen Blick schweifen, betrachtete mit einigem Stolz die akkurat gestutzten Laubwände seiner Rebzeilen und die tiefblauen Trauben, die prall gefüllt in der Sonne hingen und wie gemalt erschienen.
Bei genauerer Betrachtung sah man aber auch die Schattenseite des schwülfeuchten Herbstes. Auf manch einer Traube hatten sich Fäulnisnester gebildet, ebenso fand der Falsche Mehltau ideale Bedingungen vor, sodass die betroffenen Blätter wie mit Mehl bestäubt schienen.
Der pensionierte TV-Produzent, der sich den Traum des Hobbywinzers erfüllt hatte und nunmehr stolzer Pächter von 200 Rebstöcken der Sorte Blauburgunder war, erkannte, dass seine Trauben keine weitere Woche dem Infektionsdruck standhalten konnten. Er musste handeln, wollte er nicht alles verlieren. Argwöhnisch betrachtete er den Himmel und die mächtigen Kumuluswolken, die sich im Osten gegen die Alpen schoben. Ein Gewitter zu diesem Zeitpunkt wäre verheerend, schon ein starker Regen könnte die Trauben beschädigen, wusste er. Wieder und wieder prüfte er die verschiedenen Wetter-Apps auf seinem Handy. Alle kamen zum gleichen Schluss: Heute Nacht würde es trocken bleiben, ebenso morgen, aber dann würde eine Kaltfront von Westen herziehen.
Er öffnete seinen Rucksack, holte einen transparenten Messbecher heraus und stapfte in die Rebzeilen hinein. Er griff mal hier, mal dort nach einer Traube und füllte das Plastikgefäß mit rund 100 Beeren. Zurück beim Sträßchen zerquetschte er die Beeren mit einem hölzernen Mörser. Dann griff er erneut in den Rucksack und förderte ein Kästchen zutage. Er öffnete es und betrachtete das zylindrische Gerät, als wäre es ein wertvolles Fernrohr aus dem 18. Jahrhundert. Für ihn besaß es auch annähernd so viel Wert, konnte es doch mittels Lichtbrechung den Zuckergehalt bestimmen.
Nico träufelte ein paar Tropfen des frisch gepressten Traubensaftes auf das ovale Glas des Refraktometers. Dann klappte er das transparente Deckelchen zu und blickte hindurch. 94 Grad6! Der Neowinzer biss sich auf die Zähne. Er wusste, dass man in früheren Jahren schon sehr zufrieden war, wenn man 85 Öchslegrade erreichte. Doch seit dem legendär heißen Jahr 2003 war man Rekorde gewöhnt. Und 100 Öchsle waren in den letzten Jahren ab und an erreicht worden. Somit war dieses Ergebnis gut, aber kein Grund zur Euphorie. Wenigstens war die befürchtete Invasion der Kirschessigfliege ausgeblieben, sodass die Ernte nicht ganz so aufwendig werden würde wie damals im Jahr 2014, als man jede Traube chirurgisch sezieren musste.
Ihm war klar, der morgige Samstag musste genutzt werden. Erstaunlich viele Freunde aus früheren Jahren hatten ihre Hilfe angeboten. Bei seiner kleinen Menge reichten jedoch fünf bis sechs motivierte Helfer bei Weitem. Weniger ist häufig mehr, dachte Nico. Im Leben wie beim Ernten. Außerdem war sein Team seit geraumer Zeit bestimmt, und seine Leute warteten nur auf das Signal, um loslegen zu können. Bevor er sie per SMS aufbieten konnte, musste aber zuerst die Weiterverarbeitung gesichert sein. Auch die war im Grunde geregelt, dennoch wollte er auf Nummer sicher gehen.
Auf einem ausgewaschenen Weg spazierte er ins Dorf hinunter und erreichte kurze Zeit später den Hof der Familie Rathgeb. Das Weingut war verglichen mit den anderen eher klein, aber zweckmäßig eingerichtet. Es bestand aus einem Haupthaus und einem Anbau, in dem sich die Traubenannahme und der Keller befanden. Eine matt silbern schimmernde, pneumatische Presse bildete den unbestrittenen Blickfang, davor stand die Abbeermaschine mit ihrer spiralförmigen Walze. Alles war bereit für die Ernte. Walter Rathgeb, den alle im Dorf nur Walti riefen, und seine Frau Ursi kelterten auf ihren vier Hektar sieben verschiedene Weine. König war zwar der Blauburgunder, doch Walter wusste auch aus der alten Zürcher Sorte Räuschling einen ungemein spritzigen Weißwein zu keltern, der viele Liebhaber fand. Weil sie nicht expandieren konnten oder wollten, waren sie auch gefragte Lohnkelterer und wurden von einem halben Dutzend Nebenerwerbs- oder Hobbywinzern mit deren Traubengut beliefert.
Nico traf den Winzer bei der Reinigung der Gärtanks an. Walter trug eine lange ledrige Schürze und war gleichwohl bis zum Scheitel nass, sodass die mittellangen, braunen Haare am Kopf klebten.
»Hallo Walti, wie geht's?«, fragte Nico, als der Angesprochene sein Hochdruckspritzgerät ausgeschaltet hatte.
Der Angesprochene verzog keine Miene und reichte seine Hand, die sich schwammig anfühlte.
»Bin froh, wenn die Ernte beginnt«, meinte der Winzer, »dann mache ich endlich wieder was Gescheites und muss nicht nur putzen.«
Nico grinste verständnisvoll. »Deswegen komme ich. Habe eben geöchselt. Meine Blauburgunder haben über 90 Grad. Das Wetter schont7 morgen. Können wir am Nachmittag die Trauben liefern?«
Der Winzer, der aufgrund der letzten Jahrzehnte wusste, dass es während der Erntezeit keine Wochenenden gab, nickte und schob seinen Gast gleichsam zum Haupthaus, wo sich ein kleiner Besuchs- und Degustationsraum befand. »Komm, wir gehen rüber. Magst du was trinken?«
Kurze Zeit später saßen die Männer am massiven Tisch und tranken ein Glas des letztjährigen Räuschlings.
»Respekt, gehaltvoller Tropfen!«, lobte Nico.
»Ja, kann man allerdings sagen. Über 13 Volumenprozent! Ist schon fast zu viel für diese Sorte. Musste glatt mit der Säure etwas nachhelfen. Aber dafür hat er viel Stoff und Fülle.«
»Ja, erinnert schon fast an einen Weißburgunder.«
Walter sah ihn fragend an: »Dann habe ich etwas falsch gemacht! Aber wie gesagt, es war auch ein verrücktes Jahr.«
»Verrückter als heuer? So tropisch war es doch noch nie!«
Walter fuhr sich über seine Wange und blickte in die Ferne, ehe er fast flüsternd anfügte:
»Ja, die Welt ist aus den Fugen geraten. Nicht nur beim Wetter.«
Nico wunderte sich über Walters Stimmung. Er kannte ihn eigentlich als fröhlichen und geerdeten Menschen, keiner, der gleich auf Weltuntergang machte.
»Wenn du die allgemeine Weltlage, insbesondere die Amerikaner meinst, stimme ich dir zu«, meinte Nico amüsiert und nippte am Glas. Doch der andere schüttelte fast unmerklich seinen Kopf.
»Was noch?«, fragte der Journalist besorgt nach.
Walter seufzte, stand auf und holte ungefragt den Marc8 samt zwei Gläschen, schenkte den Schnaps ein, stellte ein Glas vor Nico hin, kippte das seinige in einem Zug weg und füllte es erneut. Dann stand er wortlos auf, begab sich zum Bauernbuffet, das in der Ecke des rustikal eingerichteten Degustationsraums stand, öffnete eine Schublade. Er griff nach einem Foto, kam zu Nico zurück und setzte sich wieder.
»Hier, das ist ein Schnappschuss aus dem Jahr 2013. Kurz bevor Tariq seine Winzerlehre abgeschlossen hätte. Er ist der Sohn meiner Schwester Anita.«
»Tariq? Auch kein alltäglicher Name für einen Hiesigen.«
Über Walters Gesicht huschte ein Anflug von Resignation:
»Ja, meine Schwester hat manchmal wirklich eine Schraube locker. Aber der Junge kann ja nichts für seinen Namen. Auch nicht, dass er seinen Vater nicht kennt. Er ist das Resultat eines Techtelmechtels zwischen Anita und einem Tunesier. Eine ziemlich schwierige Geschichte. Die aber Gott sei Dank seit Jahren vom Tisch ist.«
Nun hob Nico seine Augenbrauen und betrachtete das Bild genauer. Es zeigte Walter, seine Frau Ursi und zwischen ihnen einen groß gewachsenen Mann mit kräftigen Augenbrauen, einem dunklen Dreitagebart und schwarzem, lockigem Haar. Alle lächelten zufrieden in die Kamera. Obschon der Junge fremdländische Züge aufwies, wirkten die drei wie eine Familie. Was Nico in Erinnerung rief, dass Rathgebs keine eigenen Kinder hatten. Wohl nicht ganz freiwillig, wie er nun vermutete.
»Tariq war ein guter Typ, ihm hätte ich unseren Hof übergeben«, Walters Stimme klang melancholisch, »bis, ja, bis .«
Nun wurde Nico neugierig. Vorsichtig fragte er: »Ist er gestorben?«
»Fast.«
Nico verstand nicht und machte ein entsprechendes Gesicht.
»Er . er ist im Gefängnis. Seit bald drei Jahren.«
»Oh. Und warum?«
Nico hätte vieles erwartet, aber nicht das, was ihm Walter nach und nach erzählte. Tariq soll anlässlich des traditionellen Winzerfestes im Juni 2013 eine minderjährige Frau zuerst sturzbetrunken gemacht und dann vergewaltigt haben. Nach der Tat habe er sie liegen gelassen und daher in Kauf genommen, dass sie in der Folge an ihrem eigenen Erbrochenen erstickte.
Nun war es Nico, der zum Schnapsglas griff und es in einem Zug leerte.
»Merkwürdig, von diesem Fall weiß ich gar nichts«, sagte er dann.
»Dann bist du der Einzige. Hier im Dorf sind sie völlig durchgedreht damals. Wahrscheinlich hätten sie Tariq gelyncht, wäre er nicht von der Polizei abgeholt worden.«
»Wer war denn das Opfer?«
»Eine Winzertochter aus Maienfeld. Tariq hat sie wohl während seines zweiten Lehrjahres in der Bündner Herrschaft kennengelernt. Danach blieb der Kontakt lose bestehen. Fatalerweise fuhr sie ihm an diesem Junitag nach, war wohl verliebt gewesen in ihn, was nicht verwundert. Alle Mädchen sind auf Tariq...
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