Schweitzer Fachinformationen
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»Kein Ruhetag« - so steht es auf der Tafel am Eingang. Ilijas Eltern betreiben eine Gastwirtschaft in Bayern. Er hilft schon als Kind in der Küche, wächst mit Pommes und Fritteusen auf. Wenn das Restaurant nicht mehr läuft, eröffnen die Eltern woanders ein neues.
Weil sein Vater gerne Tennis spielt, ermöglicht er seinem Sohn Tennisstunden. Im Verein findet Ilija neue Freunde und will wie sie aufs Gymnasium. Sein Leben entkoppelt sich zunehmend von dem seiner Eltern, besonders als sein Vater nach Kroatien zurückgeht. Doch etwas begleitet ihn durch die Jahre: »Es riecht nach Pommes, Ilija kommt!« Der Satz eines Mitschülers, der ihn bis heute nicht mehr loslässt, wird zum Ausgangspunkt einer Selbstbefragung: Verrät der Geruch die eigene soziale Herkunft?
Ilija Matusko verknüpft in seinem Debüt persönliche Erinnerungen mit soziologischen Beobachtungen. In zehn essayistischen Kapiteln erzählt er die Geschichte eines Bildungsaufsteigers - mit wachem Blick für die feinen Unterschiede, mit Witz und literarischer Schlagkraft.
Eintauchen, herausnehmen, eintauchen.
Immer wieder habe ich diesen Geruch in der Nase.
Auf meinem Laptop eine Dokumentation über eine Gaststätte im Schwarzwald, Titel: Feuer und Flamme. Harald Wohlfahrt, der Küchenchef, sitzt zurückgelehnt im leeren Gastraum und erzählt von seinem Beruf. Schnitt auf Auszubildende, die durchs Bild huschen, sie rühren, schlagen, wenden, schneiden. Es herrscht Unordnung, auf eine geordnete Art. Das Bild, das ich suche, das Gold, ist in den Aufnahmen nicht zu finden.
Dunstschwaden, die sich unter der Abzugshaube sammeln, bevor sie sich auflösen.
Ein Geruch, der an meinen Haaren, Kleidern, meinen Möbeln und an den Wänden meines Zimmers haftet, beißend und schwer hat er sich schon vor Jahren in allen Winkeln meines Lebens festgesetzt.
Ich liege im Bett, die Vorhänge sind zugezogen, durch einen Spalt kann ich nach draußen sehen. Tagsüber fällt kaum Licht in meine Wohnung. Die Wände im Haus sind dünn, die Nachbarsfamilie ist zu hören. Neben meinem Bett steht ein kleines Gläschen mit einem dicklichen braungelben Sirup.
8Wenn ich den Geruch genauer beschreiben müsste, dann wäre ich schnell auf verlorenem Terrain. Ich habe keine feine Nase, auf meinen Riecher ist kein Verlass. Dabei geht es nicht um den Geruch an sich, um seine chemische oder molekulare Zusammensetzung, eher um die Zusammensetzung einer Person durch einen solchen.
Erinnerung an einen Galeriebesuch in Berlin-Wedding: Die Räume sind bis auf eine Mitarbeiterin menschenleer. Ventilatoren - es sind genau 22 - zeigen in verschiedene Richtungen. In kurzen Texten wird die Geschichte der Gegend (Arbeiter- und Industriebezirk) anhand des Geruchs nachgezeichnet. Die Ventilatoren verteilen Gerüche im Raum und sind interaktiv mit Sensoren an Standorten im Freien verbunden. Bei Wind draußen werden die Maschinen aktiviert und Duftstoffe freigesetzt. Die Künstlerin, Sissel Tolaas, ist studierte Chemikerin und hat die Gerüche - zuvor im Feld aufgespürt und lokalisiert - synthetisch nachgebaut. Ich halte meine Nase in die Luftströme. Stadt, Abgase, Geruch nach »Draußen«. Mein erster Gedanke: stinknormale Luft.
Beim Lesen des Ausstellungstextes bleibe ich an einem Wort hängen: Geruchszeugen.
Ich komme ins Gespräch mit einem anderen Besucher, der nach mir die Galerie betreten hat. Er kommt aus dem Wedding, ist Turbinenhersteller bei Siemens und hat die Ausstellung zufällig entdeckt. Ich frage ihn, wie er die Gerüche des Ortes wahrnimmt, an dem er aufgewachsen ist. »Gar nicht. Mein Tom-Ford-Parfüm legt sich über alles«, sagt er und lacht.
Die Künstlerin hat auch ein sogenanntes »Smell Me9mory Kit« erfunden, mit dem man Erlebnisse mit Gerüchen verknüpfen und im Gedächtnis behalten kann. Man trägt eine kleine Ampulle bei sich, öffnet sie und riecht daran, wenn man einen besonderen Moment erlebt. So wird die Erinnerung an den Augenblick mit dem Geruch verbunden.
Im Gewirr der Zeichen und Erinnerungen leuchten wiederkehrend einzelne Dinge auf, Gegenstände und Szenen, die zusammengehören, die sich verknüpfen lassen, ohne in einer direkten Verbindung zu stehen.
Mein Notizbuch (Moleskine-Fake), kein fester Einband, kein elfenbeinweißes Papier.
Mein Duschvorhang von POCO Domäne, mit den Ringen aus Plastik, die sich ständig lösen.
Meine guten Wanderschuhe, die ich besitze, seitdem ich 17 bin. Und der über Jahre bestehende und erst kürzlich aufgedeckte Irrglaube, sie seien hochwertig und daher besonders sorgsam zu pflegen.
Die Sachbearbeiterin im Jobcenter, die mich maßregelt, weil ich zehn Minuten zu spät komme (»Wenn Sie nicht einmal pünktlich sein können, wie wollen Sie dann ein normales Leben führen?«).
Das Haus eines Freundes, sein Vater war Manager in einem Pharmaunternehmen. Warme Fliesenböden, Kunst an den Wänden, ein Esszimmer, viel Platz, viel Licht, ein fußballfeldgroßer Garten.
Meine Mutter, die über mein Soziologie-Studium wissen wollte, ob ich später »mit Behinderten« arbeiten würde.
Das Wohnzimmerregal bei uns zu Hause, in dem kei10ne Bücher standen, sondern Straßenkarten und Gläser mit Münzen.
Mein Schock, als dem Hund eines anderen Freundes (sein Vater war Arzt) mittags Reis zum frischen Fleisch gekocht wurde.
Meine Scham, wenn mich meine Mutter im alten Opel Kadett bis vor die Schule kutschierte.
»Es riecht nach Pommes .«
Ich durchforste Vergangenes, suche Erlebnisse noch einmal auf, taste sie ab, schnüffle daran herum. Die Auswirkungen meiner Erkundung sind deutlich zu spüren, ich traue meiner eigenen Wahrnehmung und Erinnerung nicht mehr. Wenn ich mich zu verlieren drohe, immer wieder ein Fund, mehr zufällig als geplant, eine Stimme im Radio, mit der ich zurück auf festen Boden gelange. »Kochgerüche, die sich in den beengten Wohnverhältnissen in der Kleidung festsetzen, gelten als typisch für Unterschichten.« (Deutschlandfunk)
Fettgeruch.docx
Herkunft_Aufstieg_Entfremdung.docx
Meine-Eltern-und-ihre-Arbeit.docx
Pommes.docx
Der Name der Datei, in der meine Textfragmente abgelegt sind, ändert sich von Woche zu Woche.
Ein Fernsehinterview mit Pierre Bourdieu. Er sitzt auf einem Sessel, vorn am Rand der Sitzfläche, so als rechnete er jeden Moment damit, flüchten zu müssen, und beantwortet die Fragen eines Journalisten. Der Soziolo11ge spricht über kulturelles Kapital und Habitus. »Aufsteigern sieht man das Klettern an«, sagt er und macht eine Geste, bei der sich seine Hände verkrampfen.
Der Soziologe, »selbst aus einfachen Verhältnissen kommend und zum Wissenschaftsstar geworden«, so die Erzählstimme im Interview, sieht dem Fragensteller kaum in die Augen. Er wirkt fahrig und nervös. Manchmal kommt sein Blick zur Ruhe, fokussiert auf einen Punkt jenseits des Bildausschnitts, als würde dort eine Person sitzen, der er voll und ganz vertraut.
Auf einem Foto, das zwischendurch eingeblendet wird, um verschiedene Arbeitsmilieus zu illustrieren, sieht man die Rücken einiger Kellnerinnen mit weißen Schleifen über den schwarzen Röcken.
Ich sitze am Küchentisch und lese eine Geschichte des Geruchs des französischen Historikers Alain Corbin: »Der Gestank des Armen [ist] in erster Linie eine Folge der Imprägnation [.].« Und: »[.] sie verströmen einen unverkennbaren Gestank, der ihre wahre Herkunft verrät.«
Daneben liegt eine Broschüre aus dem Internet, die ich mir in Farbe ausgedruckt habe: »Frittierte Speisen sind wegen ihres hohen Genusswertes, der Knusprigkeit und der goldgelben Färbung bei gleichzeitiger Saftigkeit des Frittiergutinneren beliebt.« (Optimal Frittieren: Auswahl der Frittieröle und -fette, Deutsche Gesellschaft für Fettwissenschaft)
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12Es gab zwei Schilder im Fenster unserer Wirtschaft. »Kein Ruhetag« und »Durchgehend geöffnet«. Mein Vater in Arbeitskleidung, eine weiße Kochjacke und schwarz-weiß karierte Hose. Immer ein flatterndes Küchentuch auf der Schulter, als hätte er es darauf dressiert. Seine Schnelligkeit beim Schneiden der Zwiebeln, sein konzentriertes Gesicht, rot und glühend von der Hitze, mit leicht geöffnetem Mund, als bekäme er zu wenig Luft. Die Küche ein einziges Zischen und Rauschen. Manchmal stiegen Stichflammen in die Höhe.
Ich lernte sehr früh, den Grad seiner Anstrengung zu deuten, bevor ich meinen Vater ansprach, in seinem Gesicht, in seinem Blick, in den Mundwinkeln. Wie ein Raum im Raum, den ich nicht betreten durfte.
Die Oberflächen aus Edelstahl, das kleine Fenster der Durchreiche, die Industriespülmaschine, die doppelte Fritteuse. Das Abzugssystem, dessen Schacht wie eine riesige Raupe aus Stahl unter der Decke hing. Die genoppten Fliesen auf dem Boden, auf die sich im Laufe des Tages ein Film aus Fett legte, sodass man beim Umrunden der Kochinsel ins Rutschen geriet.
Mein Vater kam spätnachts in die Wohnung, ich konnte ihn durch die dünnen Wände hören. Er duschte lange und ausgiebig, um den Fettgeruch aus den Haaren zu bekommen.
Meine Mutter mit schwarzem Rock, Kellnerinnenschuhen und einer weißen, steif gebügelten ...
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