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Die Globalisierung ist nur 30 Jahre alt. Die Ursachen der heutigen Krise reichen jedoch weiter zurück. Das moderne Leben hatte seit jeher auch seine Schattenseiten. Die Globalisierung hat diese verschärft. Wie die Charakterzüge einiger Menschen sich im Alter verhärten, so verdeutlichen sich jetzt auch die Merkmale der Moderne. Nähert sie sich ihrem Ende? Die Krise ist epochal. Das Gefährt, welches dem Abgrund zurast, scheint an Schienen gebunden zu sein, denen es nicht entweichen kann.
Wo man mit der Geschichte beginnt, ist eine Ermessensfrage. Alles was passiert, geht aus einer Vorgängerstruktur hervor. Die vielschichtige Krise der Moderne betrifft Strukturen, welche sich am Übergang vom Mittelalter zur Neuzeit herausgebildet haben. Zwei Kapitel befassen sich deshalb mit dem Zeitraum vor der Globalisierung:
1. Eine Auseinandersetzung mit den problematischen Seiten der modernen Entwicklung, welche für die Globalisierung und die heutige Krise von Belang sind.
2. Die Krise der Moderne in den 1960er- und 1970er-Jahren. Eine Reaktion darauf war die 68er-Bewegung. Verschiedene neue soziale Bewegungen kritisierten damals zentrale Aspekte des modernen Lebens. Die Ökologie wurde zu einem politischen Thema. Es entstanden erste Ansätze einer Richtungsänderung.
Alltagssprachlich verwenden wir den Begriff »modern« als Gegensatz zu »altmodisch«. Wir bezeichnen damit eine »fortschrittliche«, Neuerungen gegenüber aufgeschlossene Haltung. Unabhängig davon, wie sie sich diesbezüglich einreihen, dürften die meisten Menschen in den kapitalistischen Kernländern und in den Metropolen überall auf der Welt der Aussage zustimmen, dass sie ein modernes Leben führen. Sich den rasant verändernden Gegebenheiten dieses Lebens anzupassen, ist für die meisten eine notwendige Selbstverständlichkeit geworden. Diese Selbstverständlichkeit hat eine Geschichte. Die moderne Lebensart beruht auf Prämissen, welche sich in philosophischen, sozialen und politischen Kämpfen und Verhandlungen herausgebildet haben. Welche von ihnen sind mitverantwortlich für die heutige Krise? Was muss revidiert werden, wenn der Ausweg aus der Krise gelingen soll?
Unter Moderne verstehe ich das Denken und Handeln in der neuzeitlichen Epoche, in der sich in einigen Weltgegenden die heute global dominierende Lebensweise entwickelt und durchgesetzt hat. Von der Moderne zu sprechen, ist eine furchtbare Vereinfachung. Das gilt für alle Begriffe, welche Eigenschaften von Prozessen zu Substantiven verkürzen. Die Kurzformel Moderne bezieht sich auf diverse und vielfältige Prozesse, die sich unter »modernen« Prämissen ereignet haben und immer noch ereignen. Die moderne Entwicklung kann nicht auf Kapitalismus, Industrialisierung, Nationalstaat, Naturwissenschaft und Technik reduziert werden, obwohl damit die offensichtlichsten Merkmale bezeichnet sind. Was sie eigentlich ausmacht, ist der neue Welt- und Kosmos-Bezug, der sich im ausgehenden Mittelalter mit dem Humanismus und der Reformation herausgebildet hat. Die Menschen gaben sich selbst eine andere Rolle im Kosmos. Salopp gesagt: Analog zu den individualpsychologischen Lebensphasen kamen die »modernen Menschen« in die Pubertät. Viele brachen aus einem geschlossenen, von der Religion vorgegebenen Gesamtzusammenhang aus und setzten sich selbst als bestimmende Akteure ins Zentrum.
Beides ist legitim und möglich: Einerseits die in der Moderne angelegte Maßlosigkeit, Übertreibung und Realitätsverkennung als tiefere Ursachen der heutigen Krise aufzuzeigen und gleichzeitig die modernen Errungenschaften, die zumindest wir Privilegierten nicht mehr missen möchten, zu würdigen. Die Moderne hat nicht nur zur Bedrohung des Ökosystems geführt. Sie hat vielen Menschen Wohlstand, ein leichteres und besseres Leben, persönliche Freiheit, rechtsstaatliche Sicherheit und demokratische Partizipation gebracht. Gleichzeitig bleibt das Elend im Blick, das damit verbunden war: Vormoderne wurden entwertet und ausgebeutet. Sklaverei, Frühkapitalismus, Kolonialismus, Imperialismus, die beiden Weltkriege und die totalitären Systeme in Deutschland und Russland haben viel individuelles und soziales Leid erzeugt. Es gilt, die positiven Errungenschaften der Moderne zu erhalten und zu verteidigen. Die Gefahr besteht, dass die heutige Krise antimoderne Reflexe auslöst. Ihnen kann nicht durch mehr »Modernität«, sondern nur durch bessere »Modernität« entgegengetreten werden.
Individualisierung und funktionale Differenzierung kennzeichnen die moderne Entwicklung. Ins Zentrum moderner Aufmerksamkeit rückte der Mensch als Gattungswesen. Dies kommt im Begriff Humanismus zum Ausdruck. Doch auch dem Individuum selbst wurde ein neuer, höherer Stellenwert zugeschrieben. Das Wort ich erhielt in philosophischen Schriften - z. B. von Descartes und Montaigne - zunehmende Bedeutung. Die neue Weltsicht ging vom Subjekt aus. Als funktionale Differenzierung bezeichnen Soziologen die Aufgliederung der modernen Gesellschaft in Teilsysteme wie Wissenschaft, Wirtschaft, Politik, Religion, Kunst, Recht, Erziehung, Familie. Alle Teilsysteme erfüllen, allerdings aus unterschiedlichen Perspektiven, eine spezielle Funktion für das Gesamtsystem. Jedes Individuum ist auf diverse Art und Weise in diese Teilsysteme einbezogen und von ihnen betroffen.
Wie hängt alles zusammen? Gibt es ein zusammenhängendes Ganzes oder ist das Ganze lediglich die Summe der Einzeldinge? Die Antwort hängt von der philosophischen Richtung ab, die man vertritt. Die substanzphilosophische Strömung geht auf die Substanzenlehre des Aristoteles zurück. Sie war wegweisend für das Denken der Moderne und hat nach wie vor große Bedeutung in der Philosophie. Sie schreibt vor allem einzelnen Dingen und Personen, welche Träger von Eigenschaften sein können, wirkliche Existenz zu. Im Unterschied dazu betont die Prozessphilosophie, eine philosophische Strömung des frühen 20. Jahrhunderts, die Kohärenz, d. h. den Zusammenhang zwischen einzelnen Ereignissen und Dingen. Ausgehend von Ansätzen, die sich schon bei Heraklit, Aristoteles, Platon, Leibniz und Hegel finden, berücksichtigen Autoren wie Pierce, James, Bergson, Dewey und Whitehead die Ergebnisse der Evolutionstheorie und, soweit damals möglich, auch der Quanten- und Relativitätstheorie. Ihr wichtigster Vertreter, Alfred North Whitehead, beschreibt den Kosmos als kreativen Prozess: Die wirkliche Welt ist ein Prozess von hoher Komplexität. Dass sie uns als eine Ansammlung von isolierten Einzeldingen erscheint, ist nur eine Momentaufnahme. In Wirklichkeit ist alles in ständiger Veränderung. Viele einzelne Ereignisse und Dinge interagieren wechselseitig miteinander. In diesen Prozessen entstehen und vergehen die Einzeldinge. Wie ein wirkliches Einzelwesen wird, begründet, was dieses wirkliche Einzelwesen ist. Sein Werden liegt seinem Sein zugrunde. Seine Geschichte prägt sich seiner Existenz ein.9 Die Prozesse, in die wir involviert sind, erleben wir direkt mit. Sie sind für uns primär erfahrbar. Was wir erleben und wie wir erleben sind dabei noch ein einheitliches, nicht analysiertes Ganzes. In der primären Erfahrung gibt es noch kein Subjekt und kein Objekt, keine Trennung zwischen dem, was passiert und dem Material, in dem es passiert. Ein Beispiel dafür ist die Atmung: Der lebende Organismus und die Umwelt sind da in einem ganzheitlichen Prozess miteinander verbunden. Primäre Prozesse, die wir in jedem Moment als Erfahrung miterleben können, sind zu unterscheiden von der Art und Weise, wie wir sekundär diese Prozesse analysieren und interpretieren.10 Aus praktischen Gründen lassen wir täglich hunderte von wahrgenommenen Ereignissen unbeachtet. Durch Denken, Unterscheiden, Definieren wird uns die Bedeutung des in der Primärerfahrung Wahrgenommenen für unser eigenes Leben bewusst. Die Lebensnotwendigkeiten zwingen uns, die wahrgenommenen primären Prozesse im Verstand in unterschiedliche einzelne Teilprozesse und Dinge aufzuteilen und diese zu unterscheiden. Auf diese Weise entstehen auch die Substanzbegriffe, die uns erahnen lassen, was etwas ist.
Die Tendenz zur Inkohärenz, zur Aufspaltung des Zusammenhanges, ist also in unserer Erkenntnisweise und in der Notwendigkeit, erfolgreich zu handeln, begründet. Das Ausmaß der Inkohärenz hängt von der jeweiligen Kultur ab. Insbesondere vormoderne Kulturen sind durch ganzheitliches Denken und Handeln geprägt. Dieses ist von der Vorstellung durchdrungen, dass alles mit allem verbunden ist. Die Vormodernen beschäftigten sich »fortwährend mit dem sorgfältigen Durchdenken der Verbindungen zwischen Natur und Kultur«.11 Sie waren diesbezüglich äußert vorsichtig. Es schien ihnen unmöglich, »die gesellschaftliche Ordnung zu ändern, ohne gleichzeitig die Naturordnung zu verändern und umgekehrt«.12
Im Gegensatz dazu ist die Aufspaltung des Zusammenhanges in isolierte Teilbereiche ein Wesensmerkmal der Moderne. Der französische Philosoph Bruno Latour hat sich, ausgehend von den Forschungen der Sciences Studies (Wissenschafts- und Techniksoziologie), ausführlich mit den Fragmentierungen der Moderne beschäftigt. In der Realität sind Dinge, Lebewesen, Ereignisse und Prozesse netzartig intensiv miteinander verknüpft. An diesem Netzwerk beteiligen sich viele...
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