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Es ist besser, ein einziges kleines Licht anzuzünden, als die Dunkelheit zu verfluchen.
Konfuzius
Kristine kam in die Wohnküche des Bauernhauses gestolpert. Hannah, die gerade damit beschäftigt war, die Kartoffeln fürs Mittagessen zu schälen, brauchte ihr nur ins Gesicht zu blicken, um zu wissen, dass etwas Schlimmes passiert war.
»Paul?«, stieß sie ängstlich hervor. »Wo ist Paul, Kristine?«
Doch zu Hannahs Erleichterung winkte Kristine ab. »Er spielt im Hof mit den anderen Kindern. Du musst dich nicht sorgen, es geht ihm gut.« Und nach einer kurzen Pause fügte sie mit bedeutungsvoller Stimme hinzu: »Uns geht es gut, Hannah, und ich hoffe, dass es so auch bleibt.«
Nun legte Hannah die Kartoffel und das Schälmesser zur Seite. Mit zwei Schritten war sie bei Kristine, umfasste ihre Oberarme und verlangte von ihr zu erfahren: »Was ist passiert? Nun sag schon!«
Kristine holte so tief Luft, dass Hannah noch mulmiger zumute wurde. So kannte sie die junge Frau nicht, so bedrückt, sorgenvoll . ängstlich. Kristine war jemand, der auch in schweren Zeiten den Mut nicht verlor und in tiefster Dunkelheit immer noch ein kleines Lichtlein ausmachen konnte. Sie nun so bestürzt vor sich zu haben, erschreckte Hannah zutiefst.
»Lass uns ein paar Schritte gehen«, wich Kristine ihr jedoch aus, erklärte dann aber direkt, warum. »Es muss niemand mitbekommen, was sich allerorts gerade so zuträgt. Erst recht nicht meine Großeltern. Ich will nicht, dass sie sich ängstigen .«
Die beiden Frauen verließen die Wohnküche. Hannah konnte sich gar nicht schnell genug vom Bauernhaus entfernen, damit Kristine ihr endlich sagte, warum sie so außer sich war. Sie hakte Kristine unter und zog sie regelrecht mit sich. Vorbei an dem Hof, wo ihr Sohn Paul, wie Kristine ihr versichert hatte, in sein Spiel mit den anderen Kindern vertieft war. Sie hörte ihn lachen, fröhlich, ausgelassen, und ihr Herz machte einen kleinen Hüpfer. Auch die anderen Kinder, drei Mädchen und vier Buben, hatten ihren Spaß. Etwas, das vor wenigen Tagen noch ganz anders ausgesehen hatte, als sie mit ihren Familien am Ende ihrer Kräfte hier im Dorf angekommen waren und verzweifelt darum gebettelt hatten, dass sie bleiben dürften. Hinter ihnen lag ein langer Weg. Wie Hannah waren sie aus Ostpreußen geflüchtet, nachdem ihnen keine andere Möglichkeit mehr geblieben war. Und wie es Hannah und ihrem Sohn Paul bereits vor Monaten ergangen war, waren sie nach all dem Grauen und Schrecken der letzten Wochen und Monate in ihrer Heimat und auf der Flucht vielerorts nicht mit offenen Armen und erst recht nicht mit offenen Herzen von den Menschen aufgenommen worden. Sie waren Flüchtlinge. Keine Männer von hier, auf deren Rückkehr von der Front so sehr gehofft und gewartet wurde. Nach Hitlers feigem Freitod und einigen letzten irrsinnigen Versuchen seiner Generäle, sich den Gegnern zu widersetzen, hatte Nazideutschland nur noch kapitulieren können, und der Krieg war am 8. Mai 1945 für beendet erklärt worden.
Doch bislang war es nur selten ein schmerzlich vermisster Ehemann, Vater oder Sohn gewesen, der am Ende seiner Kräfte den Weg in sein Heimatdorf gefunden hatte, sondern Flüchtlinge aus Ostpreußen, Schlesien und Pommern. An Körper und Seele verletzt, verlaust, hungrig, schwach - nein, so etwas konnte und wollte man hier nicht haben. Schließlich bedeuteten all die Flüchtlinge, dass man das wenige, das man noch hatte, teilen musste. Mit diesen Fremden. Die man sowieso nicht hierhaben wollte.
Kristine und ihre Großeltern waren einige der wenigen im Dorf, die über so viel Herz und Mitgefühl verfügten, bei sich aufzunehmen, wer auch immer sie darum bat. Doch so langsam waren auch ihre Ressourcen erschöpft. Wo vor wenigen Tagen noch fünf gewohnt hatten, waren es jetzt schon vierundzwanzig. Schwach, ausgehungert . manche von ihnen verletzt oder schwer traumatisiert. Ein Ende war nicht abzusehen. Es hieß, dass sich noch Hunderttausende auf der Flucht befänden.
Sie hatten den kleinen Pferdestall erreicht. Kristine nahm auf einem alten Schemel Platz. Dabei stöhnte sie wie eine steinalte Frau, der das Rückgrat wehtat.
»Wir müssen auf die Ponys und Pferde achtgeben«, erklärte sie leise. »Ich habe gehört, wie eine der Flüchtlingsfrauen zu einer anderen gesagt hat, dass so viele Pferde im Stall, die nur zum reinen Vergnügen da wären, ja wohl nicht angemessen seien, wenn gleichzeitig die Menschen hier Hunger hätten.«
Hannah horchte auf. »Du meinst, sie wollen die Pferde töten . sie essen?« Ein jäher Stich traf sie mitten ins Herz bei dem Gedanken, jemand könnte sich an Belladonna vergehen, ihrer treuen Stute, die sie und Paul auf ihrem Rücken bei eisiger Kälte den ganzen langen und beschwerlichen Weg von Ostpreußen hierhergetragen hatte.
»Ich habe die beiden Frauen zurechtgewiesen und ihnen deutlich zu verstehen gegeben, dass sie sofort ihr Bündel schnüren werden, falls sie auf die Idee kommen, sich den Pferden zu nähern. Das hat, denke ich, gewirkt. Aber es kommen jetzt jeden Tag so viele, und wir können auch niemanden mehr aufnehmen. Vielleicht noch einen Schlafplatz in der Scheune anbieten, nur eben nicht mehr mit Lebensmitteln versorgen. Und wenn der Hunger unerträglich wird, dann wird es uns immer schwerer fallen, die Pferde zu beschützen. Eine der Frauen hat gemeint, ob ein Pferdeleben mehr wert sei als das ihrer hungrigen Kinder. Ich wusste nicht, was ich darauf sagen sollte, und habe ihr einfach nur noch mal damit gedroht, dass ich sie rauswerfe, wenn ich sie auch nur in der Nähe des Stalles oder der Koppeln sehe.«
Hannah nickte, wusste aber zunächst nichts zu sagen. War ein Pferdeleben mehr wert als ein Menschenleben? Ihre Stute Belladonna war ihr nach ihrem Sohn Paul das Wichtigste auf der Welt. Sie kannte die schöne Trakehnerstute von Geburt an, hatte sie die ersten bangen Tage mit der Flasche gefüttert, weil ihre Mutter Ronja schwer erkrankt war. Und als sie mit Paul in anderen Umständen gewesen war und ihre Eltern sie fortgeschickt hatten, war Belladonna an ihrer Seite gewesen. Ohne ihr Pferd wäre sie nirgendwohin gegangen. Ohne Belladonna wäre sie auch später nicht geflüchtet, sie gehörten zusammen - Paul, Hannah und Belladonna. Doch wenn Paul, ihr geliebter Sohn, am Verhungern wäre, wie würde sie dann entscheiden? Hannah wollte nicht länger darüber nachdenken und schüttelte sich, als könnte sie damit das grausige Gefühl, das sie auf einmal überfallen hatte, wieder loswerden.
»Vielleicht sollten Paul, Belladonna und ich weiterziehen«, dachte sie nun laut nach. »Wir haben deine Gastfreundschaft schon viel zu lange in Anspruch genommen, und es war doch sowieso besprochen, dass wir das Ende des Krieges bei deinen Großeltern und dir abwarten und dann weiter nach Lüneburg oder Hannover ziehen, wo sich meine Familie . zumindest meine Mutter aufhalten soll.«
Kristines Augen weiteten sich erschrocken. »Was sagst du da? Hannah, so ein Unsinn. Paul und du, ihr seid bestimmt die Letzten, die gehen müssen. Um Himmels willen, wie kommst du nur auf so einen irrsinnigen Gedanken?«
Doch Hannah war noch immer anderer Meinung. »Paul und mir geht es gut. Wir sind in einer stabilen körperlichen Verfassung, weil wir die letzten Wochen und Monate hier bei dir und deinen Großeltern sein durften. Die anderen, die hier ankommen, Tag für Tag, sind schwach, krank, hungrig und nur schwerlich in der Lage weiterzuziehen. Da ist es doch nur logisch, dass wir Platz machen für die, die es nötiger haben.«
War Kristine eben noch richtig erschrocken gewesen, wurde sie nun regelrecht wütend. »Hör auf, so etwas Dummes zu sagen!«, fuhr sie Hannah an. »Du und Paul, ihr gehört dazu, ihr seid Familie. Genauso wie dein Pferd. Bevor ihr geht, geht jeder andere. Und jetzt will ich von dem Unsinn nichts mehr hören. Ich wollte mich nur mit dir besprechen, dir sagen, dass wir ein Auge auf die Pferde haben müssen. Wenn ich geahnt hätte, auf was für unsinnige Gedanken dich das bringt, hätte ich mir lieber die Zunge abgebissen.«
Hannah legte die Arme um Kristine und zog sie fest an sich. »Kristine, liebe Kristine, wir haben dir so viel zu verdanken. Ich weiß nicht, ob ich das in diesem Leben irgendwann wiedergutmachen kann. Und ja, du hast recht, obwohl wir uns noch gar nicht so lange kennen, fühlt es sich wie Familie an. Aber es wird der Tag kommen, an dem Paul, Belladonna und ich sowieso weiterziehen werden. Ich habe ja auch noch eine andere Familie. Wenn ich ehrlich bin, dann sogar zwei: Lotte, Otto und die Kinder, denen Paul und ich ebenfalls sehr viel zu verdanken haben. Ob sie inzwischen auch geflüchtet sind, obwohl Lotte sich damals mit Händen und Füßen dagegen gewehrt hat, weiß ich nicht, aber was die, die hier ankommen, uns aus der Heimat berichten, lässt vermuten, dass sie letztendlich keine andere Wahl hatten. Von meiner Mutter wiederum weiß ich, dass sie sich den Rubens angeschlossen hat und sich in der Nähe von Lüneburg aufhalten soll. Ich denke, dass meine Brüder, wenn sie diesen schrecklichen Krieg überlebt haben, sich ebenfalls dorthin auf den Weg machen werden. Und hoffentlich ist auch Käthe dort .«
Lotte und Otto Finke und ihre fünf Kinder waren tatsächlich so etwas wie Hannahs und Pauls zweite Familie. Sie hatten Hannah ein neues Zuhause gegeben, nachdem ihre eigenen Eltern sie fortgeschickt hatten, weil sie ein Kind erwartete. Doch seit...
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