KAPITEL DREI
STRETCHING INDIVIDUELL FÜR SIE
Bevor Sie sich auf die Dehnübungen stürzen, sollte Sie sich bewusst machen, dass keine zwei Menschen den gleichen Körper haben. Deshalb gehen Sie wahrscheinlich auf Ihre ganz eigene Weise an Ihr Flexibilitätstraining heran. Möglicherweise stellen Sie sogar fest, dass sich Ihr Körper jeden Tag anders anfühlt.
Jeder Mensch ist anders
Weil Sie wie jeder Mensch einzigartig sind, sollten Sie jeden Tag auf Ihren Körper hören und genau darauf achten, wie sich eine Dehnübung in dem Moment anfühlt, statt darauf, wie weit Sie die Dehnung schaffen. Schließlich soll Ihr persönliches Flexibilitätstraining ein entspannendes und erfrischendes Erlebnis für Körper und Geist sein, ein Erlebnis, das Ihre Gesundheit und Ihr Wohlbefinden fördert und nährt.
STRETCHING IN JEDER LEBENSPHASE
Dehnübungen sind für jeden Menschen wichtig, unabhängig vom Alter, aber wenn wir älter werden, erfahren wir besondere Veränderungen in unserem Körper. Bei vielen von uns nehmen nämlich Muskelkraft und Flexibilität mit zunehmendem Alter ab, besonders wenn wir nicht körperlich aktiv sind. Tatsächlich verschlechtert sich bei manchen die Flexibilität in bestimmten Körperregionen um 50 Prozent. Mit zunehmendem Alter nehmen Größe und Anzahl der Muskelfasern in unserem Körper ab. Erstaunlicherweise verlieren wir, wenn wir nicht regelmäßig Krafttraining betreiben, ab dem 30. Lebensjahr etwa ein halbes Pfund Muskeln pro Jahr, was zweieinhalb Kilo pro Jahrzehnt ergibt. Da wir Muskelmasse verlieren, werden die Muskelfasern durch Kollagen ersetzt, das mit zunehmendem Alter immer dichter und steifer wird und unsere Beweglichkeit einschränkt. Darüber hinaus gehen mit zunehmendem Alter auch die elastischen Fasern in Knorpelgewebe, Bändern, Sehnen und Muskeln verloren, was die allgemeine Flexibilität noch weiter verringert und Muskelzerrungen und ähnliche Verletzungen häufiger werden lässt.
Aber ich habe auch gute Nachrichten: Es ist wissenschaftlich eindeutig belegt, dass regelmäßige körperliche Aktivität - und dazu gehören Dehn- und Mobilitätsübungen - die mit dem Altern verbundenen physiologischen Veränderungen bremsen, egal, wie alt oder wie fit oder unfit man ist. Mit mehr Kraft und Flexibilität steigen auch Ihre Lebenserwartung und die allgemeine Lebensqualität!
Mythen und Irrtümer widerlegt
Vermutlich haben auch Sie einige der Mythen und Missverständnisse gehört, die über das Flexibilitätstraining kursieren. Daher fragen Sie sich möglicherweise, wie wichtig Stretching überhaupt ist. Oder Sie glauben, dass Stretching zu kompliziert sei. Ich übernehme in Sachen Flexibilität gerne die Aufgabe der Aufklärung und werde nachfolgend mit einigen verbreiteten Fehlannahmen aufräumen, damit Ihnen die wahren Vorteile des Stretchings nicht entgehen.
MERKSATZ: FÜR DEHNÜBUNGEN MUSS MAN NICHT GELENKIG SEIN Manche Menschen denken, dass Dehnübungen nur denen guttun, die bereits gelenkig sind. Aber in Wahrheit verbessert Stretching bei jedem Menschen Flexibilität, Haltung und Körperbewusstsein und trägt dazu bei, körperlichen ebenso wie seelischen Stress abzubauen. Ganz egal, wie fit Sie sind, sollten Sie Dehnübungen zu einem Teil Ihres Fitnessprogramms machen. In welchem Grundzustand Sie auch anfangen - durch regelmäßige Dehnübungen verbessern Sie Ihre Flexibilität nach und nach, sodass Sie Alltagstätigkeiten mit mehr Freude und Leichtigkeit ausführen können.
MERKSATZ: ALLE WICHTIGEN MUSKELGRUPPEN SOLLTEN GEDEHNT WERDEN Manche Menschen glauben, dass nur die Muskeln gedehnt werden müssen, die bei der eben absolvierten Trainingseinheit gezielt belastet oder beansprucht wurden. Tatsächlich sollte man beim Dehnen alle wichtigen Muskelgruppen berücksichtigen. Wenn der Körper Spitzenleistungen erbringen soll, müssen nicht nur die durch eine bestimmte Aktivität beanspruchten Muskeln gedehnt werden, sondern auch alle anderen wichtigen Muskeln in die Mobilitätsübungen mit einbezogen werden, besonders diejenigen, die wir täglich verwenden. Zum Beispiel denken wir nach einer Radtour vorrangig daran, die wichtigsten daran beteiligten Muskeln zu dehnen: Waden, Oberschenkelrückseite, Quadrizeps und Hüftbeuger. Im Rahmen eines vollständigen Stretchings sollten wir aber auch andere Muskeln dehnen, die wir für Alltagstätigkeiten brauchen, beispielsweise Rücken-, Brust- und Schultermuskulatur. Mit einer ausgewogenen, ganzheitlichen Herangehensweise an das Dehnen fahren wir am besten.
MERKSATZ: AUF DIE TECHNIK KOMMT ES AN Viele glauben, dass eine Dehnübung vor allem dann richtig wirkt, wenn man möglichst tief hineingeht. Aber nur eine korrekte Körpermechanik verhindert Verletzungen und gewährleistet die positive Wirkung einer Dehnübung. Vermeiden Sie es, Nacken, Schultern oder Rücken zu runden, und gehen Sie aus der Hüfte mit langem Rücken in die Vorbeuge und nicht aus der Taille. Lassen Sie außerdem Knie und Ellbogen ganz leicht gebeugt, um eine Durch- oder Überstreckung der Gelenke zu vermeiden.
MERKSATZ: ABWECHSLUNG WIRKT (UND BRINGT SPASS) Flexibilitätstraining kann sehr abwechslungsreich sein. Da es verschiedene wissenschaftlich fundierte Ansätze für das Flexibilitätstraining gibt, muss Ihr persönliches Dehntraining keineswegs langweilig sein. Wie Sie aus den Kapiteln 4 bis 9 ersehen können, gibt es viele verschiedene Dehnungstechniken. Darunter sind Übungen, die von Mind-Body-Methoden wie Yoga inspiriert sind, beispielsweise die Tiefe Kobra (Seite 68) oder der Herabschauende Hund (Seite 122), die wegweisend für eine neue Art des Mobilitätstrainings sein können. Während des Stretchings können Sie Musik hören oder Aromatherapie ausprobieren, um eine noch entspanntere und angenehmere Erfahrung zu erzielen.
MERKSATZ: SCHMERZ BRINGT NICHTS Wie bei jeder Art von Körpertraining ist beim Flexibilitätstraining nichts dadurch gewonnen, dass man den Körper bis über die Schmerzgrenze pusht. Man mindert dann nämlich nicht nur die potenziellen positiven Wirkungen des Dehnens, sondern erhöht auch das Verletzungsrisiko erheblich (und es tut weh!). Wenn Sie sich effektiv und gefahrlos fordern wollen, sollten Sie nur bis zu dem Punkt gehen, an dem die Spannung leicht unangenehm wird, aber nicht schmerzhaft.
MERKSATZ: LANGSAM UND STETIG HÄLT SIE AUF KURS Wie bereits erwähnt, sind unsere Muskeln mit einem integrierten Sicherheitsmechanismus ausgestattet, der verhindern soll, dass wir uns verletzen. Sobald die Muskeln eine Längenänderung feststellen, beispielsweise während einer Dehnübung, wird ein Signal ans Nervensystem gesendet, das den Dehnreflex auslöst. Der Körper versucht dann, die Änderung der Muskellänge zu stoppen, indem er den gedehnten Muskel kontrahiert, also verkürzt. Je plötzlicher der Muskel gestreckt wird, desto stärker die Kontraktion und desto mehr Spannung im Muskel, die wiederum das Dehnen erschwert - was dem eigentlichen Zweck der Übung zuwiderläuft. Aus diesem Grund ist bei den meisten Erwachsenen (mit Ausnahme einiger gut trainierter Athleten) ballistisches Stretching nicht ratsam. Dabei handelt es sich um dynamische Dehnübungen mit schnellen Feder- oder Wippbewegungen, mit denen ein erhöhtes Verletzungsrisiko einhergeht.
Der Dehnreflex erklärt auch zum Teil, warum empfohlen wird, statische Dehnungen mindestens 15 Sekunden pro Wiederholung zu halten: Dies ist nämlich die Zeitspanne, innerhalb derer sich die Mechanismen im gedehnten Muskel allmählich an die Längung gewöhnen können. Dadurch wird dann das entgegengesetzte Signal gehemmt, das die reflexive Anspannung ausgelöst hat. Es ist eine Art von Desensibilisierung, die als Muskelrelaxation bezeichnet wird. Erst wenn eine Dehnung so lange gehalten wird, dass die Muskelrelaxation auftritt, kann sich der Bewegungsspielraum des Gelenks vergrößern und eine stärkere Dehnung der verbundenen Muskulatur und des Bindegewebes eintreten.
MERKSATZ: MOBILITÄT UND STABILITÄT GEHEN HAND IN HAND Ja, es ist wichtig, möglichst viel Bewegungsspielraum um ein Gelenk - die sogenannte Gelenkmobilität - herzustellen. Aber ebenso wichtig ist die Gelenkstabilität, also die Fähigkeit, die Position oder Bewegung eines Gelenks zu steuern. Die Definition von Flexibilität und der Zweck von Dehnübungen bestehen darin, den Bewegungsspielraum der Gelenke zu verbessern. Damit sich der Körper aber möglichst effizient und sicher bewegen und funktionieren kann, muss ein optimales Gleichgewicht zwischen Stabilität und Mobilität im gesamten Körper bestehen. Deshalb finden Sie in diesem Buch auch dynamische...