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So lange habe ich auf diesen Tag hingefiebert. Und nun, da er endlich gekommen ist, fühlt er sich unwirklich an.
ANGELIKA NOWAK
Sie war in Versuchung, die schweißnassen Hände an ihrer grünen Hose abzuwischen. Doch Angelika riss sich zusammen. Noch zwei Minuten, dann würden die Ersten sich in Bewegung setzen und in das Stadion Einzug halten. Allein bei dem Gedanken bekam sie eine Gänsehaut.
»Wird schon«, sagte Monika Klinger aufmunternd, eine der Leichtathletinnen, die auch schon an den Olympischen Spielen vor vier Jahren in Mexiko teilgenommen hatte.
Angelikas Hals war zu trocken, als dass sie auch nur einen Ton hätte hervorbringen können. Also nickte sie stumm.
Die Leichtigkeit, die sie in den letzten Tagen gespürt hatte, war wie weggeblasen. Jetzt wurde es ernst. Es würde wirklich losgehen, die Spiele würden beginnen. Seit fünfzig Jahren wäre das Bogenschießen erstmals wieder olympische Disziplin und sie die Einzige, die für das Team der DDR antrat. Die Hoffnungen - oder besser die Erwartungen, die auf ihr lasteten - waren gewaltig.
Sie würden an zweiundzwanzigster Stelle in das Olympiastadion einlaufen. Die Männer in schwarzen Hosen, blauen Sakkos und mit orangefarbenen Krawatten, die Frauen in verschiedenen bunten Tönen, wobei Bluse und Hose die gleiche Farbe hatten. Angelika wäre ein schönes Gelb, Orange oder sogar Rosa lieber gewesen. Doch sie hatte nicht selber wählen dürfen und musste nun in einem knalligen Grün den Einzug der Nationen begehen.
Sie reckte den Hals. Die dänische Fraktion hatte sich soeben in Bewegung gesetzt, danach folgte die wesentlich kleinere Abordnung aus Dahomey, dann würden sie an der Reihe sein. Angelika atmete tief durch. Von hinten wurde ein wenig geschoben. Offenbar drängten die Wartenden. Der Lärm der applaudierenden Zuschauer auf den Rängen schwoll mehr und mehr an. Hier unten zu stehen, unmittelbar vor dem Zugang zum Stadion und mit den Zuschauern über sich, hatte etwas Bedrohliches an sich. Sie zuckte zusammen, als die junge blonde Frau mit dem weißen Schild, auf dem in Großbuchstaben DDR stand, sich kurz umdrehte und ihnen ein Zeichen gab. Die Frau setzte sich in Bewegung, und alle folgten ihr. Angelika klopfte das Herz bis zum Hals. Schritt für Schritt gingen sie durch den dunklen Zugang dem Licht entgegen und betraten das Stadion. Jubel brandete auf. Als sie den Tunnel hinter sich ließen, atmete Angelika erleichtert aus. Die Menschen auf den Rängen boten ein buntes Bild, ihre Mienen verrieten Vorfreude und Begeisterung. Ein Orchester spielte, aus den Lautsprechern schallte die Stimme Joachim Fuchsbergers, den sie aus den Edgar-Wallace-Streifen kannte. Ihre Eltern hatten fast jeden der Filme, die im Westfernsehen ausgestrahlt wurden, gesehen, und ihre Mutter schwärmte für den Schauspieler. Nun sagte ausgerechnet er das Team der DDR an, von dem auch sie ein Teil war. Wenn auch nur ein kleiner. Angelika überlief eine Gänsehaut. Die Sportler marschierten im Takt der Musik und winkten den applaudierenden Zuschauern ebenfalls begeistert zu. Angelika sah nach oben, während sie wie alle anderen Athleten ohne Unterlass winkte. Das Dach des Stadions sah von hier unten wie ein aufgeschnittener Ball aus, der in mehreren Lagen an Drähten befestigt war. Sie hatte nie zuvor etwas Vergleichbares gesehen, und schon die Konstruktion dieses Bauwerks machte deutlich, dass sie sich hier in einer fremden, für sie ganz neuen Welt befand.
Als sie erfahren hatte, dass sie sich für die Olympischen Spiele qualifizieren durfte, hatte sie ihr Glück kaum fassen können. Und dann, als sie es tatsächlich geschafft hatte, erst recht nicht. Nun war sie schon seit Tagen im olympischen Dorf, und irgendwie fühlte sich alles ganz anders an, als sie es sich vorgestellt hatte. Dabei wusste sie nicht einmal, was genau sie erwartet hatte. Vor allem aber, da war sie sich sicher, hatte sie nicht mit einer solchen Freundlichkeit gerechnet. Diese Olympischen Sommerspiele wurden nicht nur »heitere Spiele« genannt, nein, sie waren es wirklich. Nationale Grenzen schien es unter den Sportlern fast nicht zu geben. In München waren sie eins, eine große Gruppe, die sich ab heute in verschiedenen Disziplinen miteinander messen würde. Angelika konnte es kaum noch erwarten, obwohl das Bogenschießen erst am 7. September beginnen würde. Sie würde alles in diesen Wettkampf legen, wollte zeigen, wie gut sie war. Sie war glücklich, es geschafft zu haben und für die DDR antreten zu dürfen. Vor allem aber hoffte sie, nach diesen Olympischen Spielen den Stolz ihrer Regierung zu genießen und so womöglich die Lebenssituation für sich und ihre Familie zu verbessern. Dabei ging es ihr nicht darum, in eine schönere Wohnung zu ziehen. Für sie war die Plattenbausiedlung in Leipzig vollkommen in Ordnung, und auch ihre Eltern, die beide für die volkseigenen Betriebe arbeiteten, der Vater im Bereich Schwermaschinenbau und die Mutter im Kombinat Verpackung, waren mit dem Leben, das sie führten, zufrieden. Doch Angelika störte sich an den Einschränkungen, die sie genau wie alle anderen, die sie kannte, zu erdulden hatte. Planwirtschaft war das eine. Doch so viele Dinge, die sie im Westfernsehen sah, nicht erwerben zu können und gar nicht erst Zugang zu bekommen widerstrebte ihr. Sie war gerade neunzehn geworden und wollte leben und etwas erleben. Sie wollte schöne Kleidung tragen, wollte Musik hören dürfen, die ihnen verboten war. Sich stets zurücknehmen zu müssen passte ihr einfach nicht. Und mit den Jahren war ihr Widerwille noch gewachsen, auch wenn ihre Eltern sie immer wieder zurechtgewiesen hatten, sie solle nicht so rebellisch sein.
Nach außen hin hatte Angelika sich angepasst, doch was sie wirklich dachte, behielt sie für sich. Denn auch wenn von Seiten der DDR gern so getan wurde, als würde dort ein perfektes System herrschen und die Zeit, da Deutschland noch nicht geteilt gewesen war, vergessen und aus dem Gedächtnis der Menschen gestrichen sein, war dem nicht so. Angelika war acht Jahre alt gewesen, als die Mauer gebaut worden war. Ihre Mutter behauptete stets, die Zeit davor sei auch nicht besser gewesen, doch das bezweifelte Angelika, genau wie viele andere ihres Jahrgangs. Außerdem ging es nicht darum, ob es vor 1961 besser oder schlechter gewesen war, es ging um das Hier und Jetzt. Für Angelika stand fest, dass die DDR sich im Gegensatz zur BRD auf der anderen Seite nicht wirklich entwickelt hatte. Bestimmt war auch dort nicht alles Gold, was glänzte, doch die Menschen »drüben« schienen ein weit weniger reglementiertes Leben zu führen als die in der DDR. Während es im Westen offenbar ein reichhaltiges Angebot an Waren aller Art gab und die Menschen sehen und hören durften, was sie wollten, gab es in der DDR so viele Verbote. Vor allem war es wenig ratsam, eigene Ansichten zu vertreten, die womöglich nicht mit denen der Parteiführung übereinstimmten. Tat man es doch, geriet man schnell unter Beobachtung oder wurde in ein Netz von Befragungen und Maßregelungen verstrickt. Zum Glück hatte Angelika so etwas noch nicht direkt erlebt. Allerdings hatte man den Vater ihrer Freundin Hanna zum Verhör abgeholt, weil der Verdacht bestand, dass dieser sich kritisch zur Parteiführung geäußert hatte. Doch entgegen vieler Schreckensgeschichten war er nach nur zwei Tagen scheinbar unverletzt wieder auf freien Fuß gesetzt worden. Hanna hatte sich seitdem verändert. Davor hatte Angelika offen über alles mit ihr reden können, nun aber wirkte die Freundin zurückhaltend, ja sogar ein wenig misstrauisch. Als Angelika sie einmal darauf angesprochen hatte, hatte Hanna ihr nur einen prüfenden Blick zugeworfen und war ihr eine direkte Antwort schuldig geblieben. Sie standen zwar noch in Kontakt, doch dieser war deutlich weniger geworden. Angelika würde es nicht wundern, wenn er über kurz oder lang komplett abriss, so wie Hanna sich verhielt. Hier, bei den Olympischen Spielen in München, merkte Angelika nun selbst, wie es sich anfühlte, unter Beobachtung zu stehen, und zwar von einer Seite, von der sie es nie vermutet hätte. Viktor Kramann, ihr Co-Trainer, der für sie eher so etwas wie ein großer Bruder war, hatte sie in einem Gespräch unter vier Augen eindringlich ermahnt, ihren »engen Kontakt zum israelischen Team« einzustellen. Angelika war überrascht gewesen, schließlich konnte man kaum von engem Kontakt zum israelischen Team sprechen, nur weil sie sich mit Roman Gagarin, einem israelischen Ringer, angefreundet hatte. Sie hatte Gagarin gleich am Tag ihrer Ankunft in der Kantine kennengelernt, als ihr ein Apfel vom Tablett gerollt war. Roman hatte ihn in der Luft aufgefangen und neben ihren Teller zurückgelegt.
»Danke«, hatte sie mit einem Lächeln gesagt und überrascht festgestellt, dass er Deutsch konnte. Die meisten hier sprachen Englisch miteinander, was Angelika zwar einigermaßen verstand, doch für eine Unterhaltung reichte es nicht. Anders als die westlichen Sportler hatte sie von klein auf Russisch gelernt, wie die meisten in der DDR.
»Gern geschehen«, hatte Roman erwidert und sie gefragt, woher sie kam. So waren sie ins Gespräch gekommen. Sie hatten sich zusammen an einen Tisch gesetzt, und Angelika hatte erfahren, dass Roman deshalb so gut Deutsch konnte, weil seine Mutter deutsche Wurzeln hatte und während des Krieges nach Russland geflohen war. Seine Mutter hatte darauf bestanden, dass er beide Sprachen lernte. Einige Jahre darauf war seine Familie nach Israel gegangen, und nun trat er als Athlet...
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