Schweitzer Fachinformationen
Wenn es um professionelles Wissen geht, ist Schweitzer Fachinformationen wegweisend. Kunden aus Recht und Beratung sowie Unternehmen, öffentliche Verwaltungen und Bibliotheken erhalten komplette Lösungen zum Beschaffen, Verwalten und Nutzen von digitalen und gedruckten Medien.
Weihnachtsferien
Ich weiß auch nicht so genau, wie es eigentlich dazu gekommen war. Aber Jesse Foster war dabei, mich zu küssen.
Ich erwiderte seinen Kuss und öffnete dabei alle paar Sekunden die Augen, um mich zu vergewissern, dass ich mir das alles nicht nur einbildete: die Lichterketten und die Girlanden überall im Keller, die Weihnachtsmütze auf dem Pfosten des Treppengeländers und dann tatsächlich Jesse Foster, über mich gebeugt, die Hände in meinen Haaren, die braunen Augen geschlossen.
Wenn etwas, wovon man sein ganzes Leben lang geträumt hat, dann wirklich passiert, ist es ja oft eher enttäuschend. Denn meistens hat die Wirklichkeit nicht allzu viel mit der Fantasie zu tun, wo immer alles perfekt ist, wo man niemals Hunger hat oder gar schmerzende Füße. Aber diesmal war es genau so, wie ich es mir immer vorgestellt hatte - vielleicht sogar noch besser.
Immer wenn ich davon träumte, ihn zu küssen - was ziemlich oft vorkam, seit ich ungefähr elf war -, lief alles auf den einen ersten Kuss hinaus. Auf diesen Moment, in dem er mich sah, was er zu mir sagte, wenn sein Gesicht wie in Zeitlupe immer näher kam. Danach folgte in meiner Fantasie ein harter Schnitt, und ich malte mir eine Zukunft aus, in der wir beide Hand in Hand durch die Flure der Stanwich Highschool schlendern und er mich verliebt anlächelt.
Doch Jesse Foster wirklich und ganz real zu küssen war so unendlich viel besser als in meinen Träumen. Er küsste fantastisch und stellte damit alle anderen Jungs weit in den Schatten, die sich viel zu zögerlich und ungeschickt anstellten. Er dagegen ging ganz zielstrebig und entschlossen vor und unterbrach das Geschehen nur ab und zu, um mir in die Augen zu schauen, so als wollte er sich vergewissern, ob mit mir alles in Ordnung war - woraufhin ich umgehend wieder seine Lippen suchte und erneut ganz mit ihm verschmolz.
Mit dem Teil meines Gehirns, der jenseits von Lippen und Händen und OhmeinGott und Jesse Foster noch einigermaßen klar denken konnte, versuchte ich zu begreifen, wie es überhaupt so weit gekommen war. Ich kannte Jesse schon mein ganzes Leben lang - seit er sechs Jahre alt und für sein Alter viel zu klein war und braune Wuschelhaare hatte; mit zwölf samt Zahnspange und Brille; und jetzt mit neunzehn, mit Kurzhaarschnitt und starken, muskulösen Armen. Obwohl er der beste Freund meines Bruders Mike war, hatte ich noch nie Zeit mit ihm allein verbracht.
Hier, im ausgebauten Keller der Fosters, war ich zwei Tage nach Weihnachten nur gelandet, weil Mike uns über die Feiertage nicht besuchen wollte. Nach dem Vorfall im Februar war er den ganzen Sommer nicht nach Hause gekommen, sondern auf dem Campus der Northwestern University geblieben, wo er an einem Sommerkurs teilnahm. Auch an Thanksgiving ließ er sich nicht blicken. Dass er auch an Weihnachten nicht nach Hause kommen würde, hätte ich bis zum letzten Moment nicht für möglich gehalten. Thanksgiving oder den 4. Juli zu schwänzen war das eine. Aber doch nicht Weihnachten. Jedenfalls war er nicht gekommen, sondern hatte uns am 23. Dezember nur mitgeteilt, dass sich seine Pläne geändert hätten. Ohne weitere Erklärung.
Meine Mutter hatte ihren Zorn und ihre Enttäuschung beim Putzen abreagiert und dabei hatte sie in Mikes Zimmer einen Karton gefunden mit der Aufschrift JESSES KRAM. Den hatte sie mir in die Hand gedrückt, damit ich mich darum kümmere.
Obwohl ich stinksauer auf meinen Bruder war, freute ich mich über diese Gelegenheit. Schließlich hatte ich damit einen völlig legitimen Anlass, bei Jesse vorbeizufahren, ohne dass ich mir dafür einen Vorwand einfallen lassen musste. Ich schrieb ihm eine Nachricht, die ich als Entwurf vorher meiner besten Freundin Siobhan zukommen ließ, damit er anhand der drei tanzenden Punkte nicht erkennen konnte, wie lange ich dazu brauchte. Er schrieb zurück, dass sich heute Abend sowieso ein paar Leute bei ihm angesagt hätten und dass ich jederzeit dazukommen könnte, was ich als ungefähr halb zehn interpretierte. Nachdem ich mich fünfmal umgezogen und eine Stunde lang meine Haare auf völlig natürlich gestylt hatte, machte ich mich schließlich auf den Weg zu ihm. Als ich ankam, winkte er mir vom anderen Ende des Partykellers aus zu und bedeutete mir, ich solle den Karton in einer Ecke abstellen. Dann zeigte er auf die Kühlbox, in der Bierdosen in geschmolzenem Eiswasser schwammen. Ich nahm mir ein Natty Ice, an dem ich mich allerdings mehr oder weniger nur festhielt, während mich ein Freund des Mitbewohners von Jesse in ein Gespräch verwickelte, in dem es um die Existenz von multiplen Zeitachsen ging und darum, dass das Universum, in dem wir leben, nur ein Beispiel für potenziell unendlich viele Paralleluniversen sei, wofür es im Internet genügend Beweise gebe, falls ich das anzweifeln sollte.
Ich nickte und versuchte mir nicht anmerken zu lassen, wie absurd ich das fand, während ich gleichzeitig Jesse aus den Augenwinkeln beobachtete. Siobhan nannte das immer mein Jesse-Radar, womit sie gar nicht so falschlag, denn ich wusste immer, wo er gerade war und in welchem Raum. Jesse war der Mittelpunkt der Party, beherrschte den Bierpong-Tisch, begrüßte alle, die zur Kellertür hereinkamen, oder saß rittlings auf einem Stuhl und diskutierte angeregt über die letzte Staffel von Game of Thrones. Wenn er gelegentlich zu mir herüberschaute, lächelte ich und tat höchst interessiert an meinem jeweiligen Gespräch, um ihm zu zeigen, dass ich ganz locker mit seinen Freunden klarkam und längst nicht mehr nur Mikes kleine Schwester war.
Nach zwei Stunden beschloss ich allerdings, den Rückzug anzutreten. Jesses Freunde suchten nach und nach ihre Jacken und Mützen zusammen, es hatte wieder angefangen zu regnen, und Jesse schien vollauf beschäftigt mit einem Mädchen in rotem Pullover mit tiefem Ausschnitt. Sie saß neben ihm auf dem Sofa, und ihre langen schwarzen Haare bildeten eine Art Vorhang, hinter dem die beiden verschwanden. Da das Badezimmer im Keller besetzt war, ging ich nach oben, wo es ganz still und dunkel war und wo nur in einer Ecke die weißen Lichter des Weihnachtsbaums leuchteten.
Als ich wieder in den Keller kam, blieb ich unvermittelt auf der untersten Treppenstufe stehen. Draußen schlugen Autotüren zu und ein Motor wurde gestartet. Aber vor allem sah ich, dass alle anderen schon gegangen waren und dass Jesse auf dem Sofa saß. Allein.
»Wie lange war ich denn weg?«, fragte ich und ging durch den Raum, um meine Jacke zu holen. Jesse lächelte, ohne den Blick vom Fernseher zu wenden, wo offenbar irgendeine Sportsendung lief.
»Na los, komm«, murmelte er und beugte sich vor. »Na, jetzt mach schon .« Dann folgte offenbar eine sportliche Enttäuschung, denn er lehnte sich seufzend zurück. Er schaltete den Fernseher aus und warf die Fernbedienung beiseite, sodass nun nur noch das Trommeln des Regens gegen die Fensterscheiben zu hören war. Jetzt schaute er zu mir herüber und lächelte, als ob er mich zum ersten Mal sehen würde. »Du musst noch nicht gehen, Charlie«, sagte er und deutete mit dem Kinn auf meine Jacke. »Bloß weil ich ein Loser bin und alle meine Freunde mich im Stich gelassen haben.«
Ich ließ meine Jacke fallen, als ob sie brennen würde, doch dann fasste ich mich wieder, ging zu ihm hinüber und setzte mich neben ihn auf die Couch, so als ob das vollkommen normal wäre und mich vollkommen kalt ließe.
Jesse blieb regungslos auf dem mittleren Platz sitzen, sodass ich ihm plötzlich näher war als je zuvor - abgesehen von zwei nervenaufreibenden Gelegenheiten, als wir an Mikes vierzehntem Geburtstag im Fahrstuhl einer Lasertag-Arena stecken geblieben waren, und von einer denkwürdigen Autofahrt mit zwölf, als wir vom Minigolf in Hartfield kamen und ich auf dem Rücksitz irgendwie zwischen Jesse und Mike landete. Jesse unterhielt sich die ganze Zeit mit Mike, wobei er sich immer wieder an mich lehnte und sein nacktes Bein gegen meins drückte. Die Fahrt nach Hause dauerte eine halbe Stunde, und ich betete die ganze Zeit um einen dicken Stau, eine Straßensperrung, einen Platten - irgendetwas, was die Fahrt verlängerte. Jetzt auf dem Sofa direkt neben ihm wurde mir bewusst, dass diese Nähe - ganz freiwillig und ohne irgendeine Autositz-Logistik - völlig neu war.
Zuvor hatte sein Arm locker auf der Sofalehne gelegen, und er nahm ihn auch nicht weg, als ich mich neben ihn setzte. Es hatte sogar den Anschein, als ob er ihn noch ein Stückchen näher zu meinen Schultern geschoben hätte - sodass ich vor Aufregung ganz feuchte Hände bekam.
»Willst du irgendwas anschauen?«, fragte Jesse und griff nach der Fernbedienung, die am anderen Ende des Sofas lag. Dabei musste er sich über mich hinwegbeugen, wobei mich sein Arm streifte, was in meinem Kopf eine Art Feuerwerk auslöste.
»Klar«, brachte ich heraus und hoffte, dass es einigermaßen cool und gefasst klang, obwohl ich eigentlich zwischen Euphorie und Brechreiz schwankte. Jesse roch nach Weichspüler und ganz leicht nach Bier. Nachdem er die Fernbedienung wieder genommen hatte, blieb er ziemlich dicht neben mir sitzen.
»Vielleicht einen Film?«, fragte er und zeigte in Richtung Fernseher, ohne den Blick von mir zu wenden.
In diesem Moment fiel bei mir der Groschen, und ich begriff, was hier lief. Auch wenn ich erst vier Jungs geküsst und noch nie einen richtigen Freund gehabt hatte - abgesehen von einer dreiwöchigen Beziehung mit meinem Chemielabor-Partner Eddie Castillo -, war ich schließlich auch nicht von gestern. Und plötzlich wusste ich genau, warum Jesse mich...
Dateiformat: ePUBKopierschutz: Wasserzeichen-DRM (Digital Rights Management)
Systemvoraussetzungen:
Das Dateiformat ePUB ist sehr gut für Romane und Sachbücher geeignet - also für „fließenden” Text ohne komplexes Layout. Bei E-Readern oder Smartphones passt sich der Zeilen- und Seitenumbruch automatisch den kleinen Displays an. Mit Wasserzeichen-DRM wird hier ein „weicher” Kopierschutz verwendet. Daher ist technisch zwar alles möglich – sogar eine unzulässige Weitergabe. Aber an sichtbaren und unsichtbaren Stellen wird der Käufer des E-Books als Wasserzeichen hinterlegt, sodass im Falle eines Missbrauchs die Spur zurückverfolgt werden kann.
Weitere Informationen finden Sie in unserer E-Book Hilfe.