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Man konnte sagen, dass Buchards esoterische Abende alle erdenklichen Staatsformen überdauert hatten. Buchard wurde noch während der ersten Unabhängigkeit Estlands von Mitgliedern der Metapsychischen Gesellschaft in die Grundlagen des Okkultismus eingeweiht, allen voran von dem legendären Offizier Nurja. Tatsächlich hatten alle, die sich in diesen Kreisen bewegten, auch Astrologen, Kartenleger und dergleichen, ihr Grundwissen bei jenem alten Herrn erworben, der einst genau hier in Viljandi lebte. Demnach war es kein Wunder, dass Buchard die von Nurja vermachten Bücher im Hinterzimmer aufbewahrte und auch niemals zum Verkauf anbot. Im Laufe der Zeit waren alle Schüler des Offiziers in ihren Metiers zu Berühmtheit gelangt und hatten darüber ihren Lehrer vergessen, nicht so Buchard. Zur Sowjetzeit hatte er sich im Wesentlichen mit Tarot- und Geburtskarten beschäftigt. Während der kurzen Unabhängigkeit Estlands, die folgte, gründete er in einem ehemaligen Unterwäscheladen die astrologische Buchhandlung Der Himmel ist offen und verschanzte sich angesichts der vom neuen Zarenreich durchgesetzten Bedingungen schließlich im Hinterzimmer des Antiquariats wie in einem intellektuellen Schützengraben. Die Grundwerke der Liebestheorie hatte er für heute im Vorhinein wie Munition durchgesehen.
Arkascha las auf der Toilette ein tschechisches Kinderbuch, von dem er kein Wort verstand, die Tür hatte er einen Spalt offen gelassen. Das Thema Liebe interessierte Arkascha und würde nicht einfach so an ihm abperlen, denn wollte er im Restaurant Vikerkaar ein wenig angeben und die Herzen der Tischgesellschaften erobern, hatten die Zitate und Beispiele großen Wert. Bedauerlicherweise war Arkaschas eigene Ehe so schnell zu Ende wie ein Tie-Break im Tennis. Seine Frau hatte erkannt, dass er vollkommen unfähig war, Geld nach Hause zu bringen. Eine Zeitlang versuchte sie, ihn wie eine Art singende Puppe zu behandeln, doch gab schließlich auf, drückte ihm eine Plastiktüte mit sauberer Wäsche in die Hand und setzte ihn vor die Tür.
Buchard eröffnete die Versammlung wie üblich mit dem Breireim aus Hauffs Märchen vom Kleinen Muck: »Herbei, herbei! Gekocht ist der Brei, den Tisch ließ ich decken, drum lasst es euch schmecken; ihr Nachbarn herbei, gekocht ist der Brei.« Buchard liebte Zeremonien, dieser geheimnisvolle Reim hatte ihm jahrzehntelang treu gedient. Er entzündete eine Kerze vor dem Bild seines Lehrers und fing an.
»Die Liebe lässt sich entweder von einem neuplatonischen oder von einem christlichen Standpunkt aus betrachten: Für Ersteren ist sie eine erotische Energie und natürlicher Ursprung - sozusagen Eros, ein individuelles Gefühl -, für den Letzteren hingegen das Ringen mit der Sünde, Liebe-Leid-Askese.«
Vor Arkaschas Füßen hüpfte eine Rolle Klopapier über den Boden. Geyer schickte sie wortlos zurück. Aus der Toilette war Gekicher zu hören.
»Na, es gibt natürlich noch einen dritten Weg«, rief Wasja dazwischen. »Der Weg der Beatles, Johns Weg!«
»Wasja, es gab immer Menschen, die versucht haben, beide Herangehensweisen miteinander zu vereinen, aber wir müssen verstehen, dass die sexuelle Beziehung in einer gewöhnlichen Familie ein banaler Schatten ist, verglichen mit dem, was darin lauert«, erklärte Buchard ungerührt.
»Ja, merk dir das, Wasja«, brummte jemand mit einer fremden und heiligen Stimme. Aus der Toilette lugte Arkascha hervor, der den Mund voll Klopapier hatte.
»Es geht nicht um Fortpflanzung oder Befriedigung, sondern um die metaphysische Vereinigung der Geschlechter, das Streben nach einer höheren Form der Einheit!« Buchard schielte besorgt in Richtung Toilette, aus der merkwürdige Stimmen zu hören waren. »Um diese hehre Aufgabe zu erfüllen, muss der Mann noch maskuliner werden und die Frau noch femininer. Letzten Endes sollten sie sich zu etwas Androgynem vereinen. Jede Art gesellschaftlicher Unruhe bringt sinnlose Leidenschaften mit sich, eine Sexpandemie, Gynäkokratie. Es herrscht ständige Erregung, psychische Gereiztheit und auf diese Weise erreicht man nie eine höhere Daseinsform.«
Aus einer Schachtel zog Buchard ein dickes Buch hervor, auf dem in goldenen Lettern »Mahanirvana Tantra« stand, und las daraus vor: »Wenn die Männer den Frauen untertan und Sklaven ihrer Leidenschaften werden, wenn sie ihre Eltern, Lehrer und Freunde missachten, dann herrscht das dunkle Zeitalter.«
Arkascha schwieg inzwischen in seiner Kajüte, doch dann rollte Klopapier unter der Tür hindurch, worauf etwas geschrieben stand. Geyer entdeckte die beschriebene Papierschlange und zog sie diskret mit dem Fuß zu sich heran.
Wasja hatte geduldig gewartet und dabei rührselig das flackernde Teelicht im Tempelmodell betrachtet. Plötzlich fuhr er hoch.
»Damit bin ich einverstanden! Die Liebe formt Mensch und Geschichte. Sie ist alles, was man braucht. Aber wenn du so eine Ljuba heiratest, die den ganzen Tag Kristall kauft und dich nicht einmal ein Bild von John aufhängen lässt, bleibt dir nur die Flucht. Die großen Götter sind schließlich alle für Leidenschaft und Liebe, schaut euch nur die indische Göttin Kali an oder John von den Beatles!«
Auch Geyer musste nun etwas sagen. Er hatte gehofft, dass man ihn ein wenig in Ruhe ließe und er erforschen könne, welche genialen Worte Arkascha auf der Rolle niedergeschrieben hatte. Er konnte sehen, dass es sich um eine Äußerung in Versform handelte. Aber ihm fiel nichts ein, was er sagen konnte.
»Das Substrat des Geschlechts ist der supraphysische Feinkörper, ein Übergang vom Materiellen zum Immateriellen. Liebe ist tatsächlich wie das Zusammenwirken zweier Fantasien, Geschlechtermagie«, fuhr Buchard glücklicherweise selbst fort. »Schon in den Upanishaden steht geschrieben, dass Mann und Frau nicht nur nach Liebe streben sollen, sondern nach vollkommener Unsterblichkeit, nach dem allumfassenden Licht, nach Atman! Als Beispiel aus der westlichen Kultur könnte man an dieser Stelle die Bewegung der Getreuen Amors anführen, die Fedeli d'Amore, die das Wort >amor< als >a mors< lasen, also >ohne Tod<. Gewöhnlichen Göttern gefällt ein solches Handeln und Streben der Menschen natürlich nicht, denn das Androgyne gefährdet stets das Göttliche. Es ist ein gefährlicher Weg, oder wie Eschenbach sinngemäß in seinem Parzival ausführt: der Weg zum Gral eröffnet sich dem Menschen nur mit Waffe in der Hand!«
Buchard hatte sich echauffiert, es war, als würde er mit sich selbst diskutieren.
»Auch Platon zufolge sind Fortpflanzung und Sünde Ausdruck von Unsterblichkeit in einem sterblichen Wesen!«
»In einer Kathedrale des Kremls gibt es eine Ikone Platons, angeblich wurden seine sterblichen Überreste dort getauft«, fiel Geyer schließlich zu seiner Rettung ein. Er brummte kurz und rollte das Papier mit einer hastigen Bewegung auseinander, um es genauer untersuchen zu können. Auf der Toilette sang Arkascha in merkwürdiger tschechischer Babysprache.
»Das stimmt in der Tat, und während der große Platon die Liebe mit einem Fieber vergleicht, versichert uns Bourget in seiner modernen Psychologie der Liebe, dass ein Liebender, der in der Liebe nach etwas anderem als Liebe sucht, beispielsweise Nutzen oder Wertschätzung, kein Liebender mehr ist, denn solch eine Liebe ist ein Ersatz, ein Irrtum!«
Buchard nahm weitere verstaubte Bücher aus seiner intellektuellen Munitionskiste.
»Auch Péladan betont in seinem großen Liebe-Wissenschaft-Werk, dass Realismus in der Liebe nicht weniger absurd ist als Realismus in der Kunst. Ihm zufolge ist Realismus den Hierarchien des Lebens ein Graus. Ein gesonderter Forschungsgegenstand ist die Liebe im Traum. Hier ist Piobb die höchste Autorität und ungekrönter König, mit seinem magischen Venus-Werk, in dem er untersucht, weshalb Ejakulationen im Traum oft stärker sind als im Wachzustand und selbst bei Alten wie Versehrten auftreten.«
Zu Geyers Bedauern hatte Arkascha wieder einmal nur einen anzüglichen Porutschik-Rschewski-Witz über Natascha Rostowa und ihre gesattelten Pferde auf das Klopapier gekritzelt. Wasja betrachtete selig das Teelicht im Tempelmodell.
»Eine Frau muss also stets in Hinblick auf die absolute Weiblichkeit betrachtet werden und ein Mann in Hinblick auf die absolute Männlichkeit. Das ist das Substrat des Geschlechts, das Sukshma sharira bei den Hindus, der Sternkörper bei Paracelsus. Zu allen Zeiten wussten die Weisen, dass einzig die Androgynie zur Unsterblichkeit führt, denn der Embryo selbst ist zu Beginn zweigeschlechtlich. Aber natürlich fordert Eros oft das Seine, und alles, was diese Liebe umgibt, wird dem Erdboden gleichgemacht und vernichtet .«
»Ich...
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