Schweitzer Fachinformationen
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Christian Schneider
Die Hinterlassenschaft
Vor unserem Haus in dem kleinen Dorf oberhalb Bautzens hielt ein schwarzer Wartburg. Ein älterer Mann stieg aus, das Gesicht wettergefärbt. Auf den ersten Blick sah man - ein Bauersmann. Er wartete vor der Haustür, den Hut mit beiden Händen vor der Brust.
»Pomhaj Bóh!«
Ich stutzte, weil er sorbisch grüßte. Unser Dorf ist bis auf drei, vier Familien deutsch. Er lächelte verlegen, bis meine Antwort kam: »Wjers pomazy - witajce k nam!«
»Sie werden mich nicht kennen« - er verbeugte sich - »ich bin Bauer Wirth aus Zockau. Gestern habe ich im sorbischen Rundfunk von Ihnen gehört, von Ihrer Familie ...« Er verharrte einen Augenblick. Ich sah seine flinken Augen. Meine Frau war hinzugetreten. Er wandte sich ihr zu: »Mir hat das sehr gefallen: Sie sprechen mit Ihren Kindern sorbisch, Sie schicken Ihre Kinder in die sorbische Schule, sie fahren in die Stadt, können sorbisch lesen und schreiben. Ich würde Sie um etwas bitten ...«
»Treten Sie ein!«, bat ihn meine Frau. Bevor wir uns gesetzt hatten, war mir klar, wer das ist, der Mann, der uns besucht: der Verwandte, ich glaube, der Bruder vom Wirth aus Wartha und der Bruder vom Superintendenten Wirth. Den Superintendenten Wirth hatte ich auf einer Hochzeit erlebt. Bevor er auf die Kanzel stieg, gab er allen Hochzeitsgästen die Hand ...
Nun er, der Bauer. Gehört hatten wir von ihm. Meine Frau, auch unsere Kinder, sind gespannt, was er von uns will.
Er spricht zuerst vom sorbischen Volk. Nas narod, unser Volk, sagt er, das in seiner Substanz schwere Verluste erlitt durch die Hitlerzeit, in der so viele aufgehört haben, mit ihren Kindern in der Muttersprache zu sprechen, und deshalb gilt heute, jede Seele zu erhalten, die noch sorbisch fühlt. Dann kommt er auf seine Familie zu sprechen. »Meine Enkeltochter will auf das Lehrerbildungsinstitut. Sie will Sorbischlehrerin werden, für uns Sorben ein wichtiger Beruf. Aber sie kann nicht sorbisch schreiben, und die Jugendweihe hat sie auch nicht. Aber der Direktor hat gesagt: Wenn sie Sorbisch als Muttersprache spricht, würde man sie auch ohne Jugendweihe nehmen. Sie kann sorbisch, aber nur so, wie wir zu Hause sprechen. Ich möchte, dass sie's richtig lernt, auch die Orthografie und Grammatik.«
Der Direktor der Gaußiger Schule hatte ihm gesagt, er werde für die Familie Wirth nicht einen Extra-Sorbischunterricht einführen. Deshalb war der alte Wirth auf den Gedanken gekommen, jemanden um Hilfe zu bitten. »Ich habe mir gedacht: Meine Enkeltochter soll das hier bei Ihnen erlernen. Ich bringe sie jede Woche her ... Sie brauchen das nicht umsonst machen. Ich bezahle das ...«
Er saß vor uns im Sessel, wartete auf unsere Antwort. Wir wussten nicht, was auf uns zukommt, sagten kurzerhand: »Natürlich, soll sie nur kommen.« Das Interesse des Großvaters, des Bauern, an seiner Enkeltochter beeindruckte uns. Die Bezahlung wehrten wir ab. Er saß die nächsten Wochen im Hintergrund, auf dem Sofa, hörte zu. Wir merkten bald, dass diese Art Einzelunterricht Zeit und Kraft kostete. Abwechselnd, einmal ich, dann wieder meine Frau, widmeten wir uns den Grundregeln der Grammatik.
Während dieser Zeit kam ich mit ihm ins Gespräch, und einmal haben wir ihn auch besucht. In der großen Bauernstube in Zockau hing das Original des Aquarells von den sorbischen Lutken, den Zwergen, die zum Feierabend aus dem Ofenloch hervorkommen und den fleißigen Bauersleuten ihre Dienste anbieten. Wiederholt hörte ich von ihm und auch von seiner Frau, wie ungerecht es war, sie in die LPG zu zwingen. Ich war der Meinung, sie sollten doch froh darüber sein. »Wer hätte die schwere Arbeit auf dem Hof und den Feldern verrichtet - Sie haben doch keine Arbeitskräfte mehr.«
»Doch«, sagte er, »ich habe immer Arbeitskräfte gehabt, aus der Anstalt für Geisteskranke in Arnsdorf. Die kannten keine Uhr, haben gut gearbeitet. Ich war immer als Erster fertig.«
»Aber ... damit lässt sich doch das Problem nicht lösen«, hielt ich ihm dagegen.
Seine Frau bestand darauf, sie hätten in Gemeinschaft mit den jungen Leuten auf dem Hof, dem Schwiegersohn, einem Heidebauernsohn aus Großpartwitz, die Arbeit ganz gut geschafft.
Wir haben über das Thema nicht weiter gesprochen. Ich konnte ihn nicht überzeugen und meinte deshalb, mehr zum Trost, er solle seine Geschichte, wie er in die LPG gekommen ist, auf Tonband sprechen. Die Nachwelt werde sich sicher dafür interessieren.
Jahre später, Wirths waren inzwischen verstorben, zuerst die Frau, dann er, die Enkeltochter längst im Lehrerdienst, hörte ich von ihr, der Enkeltochter, der Großvater habe vor seinem Tode ein Tonband besprochen. Ich hörte es ab und gebe es hier wieder in wörtlicher Übersetzung aus dem Sorbischen.
Karl Wirth. Wie es kam, dass ich in die Kolchose eintrat, in die LPG.
Ich habe oft an die vier Millionen am Hunger verstorbenen Menschen in Russland gedacht. Das war 1924, und später standen immer wieder solche Meldungen in der Zeitung. Damals habe ich mir gesagt: So etwas kann in Mitteleuropa nicht passieren, das ist eben in Russland so. Ich war dann 1930 in Polen, hatte dort als Sorbe polnische Freunde, die an der Grenze zu Russland wohnten. Sie haben mir erzählt, wie schrecklich es in den Kolchosen zugeht, wie schlecht es den Menschen dort geht. Ja, das ist eben in Russland und nicht bei uns! So haben wir gesagt.
Während des Krieges lagen bei uns 400 russische Kriegsgefangene in der Scheune. Die haben mir gesagt, wir sollten uns lieber nicht eine russische Besatzungsmacht wünschen. Das wäre für uns das Verderben.
Nach dem Krieg hatten wir Hoffnung, es kommt anders, Kolchosen wird's keine geben, die Rittergüter werden aufgeteilt und Bauernwirtschaften werden gebaut. Darüber freuten wir uns und glaubten, die Gefahr sei vorüber. Aber von einem Baumeister erfuhr ich dann, dass die Neubauernstellen mit Leichtigkeit abgerissen werden können, falls es nötig sein wird. Da haben wir wieder Angst bekommen und uns gefragt, wer weiß, was kommt.
Nach dem Krieg war für uns Bauern die Zeit sehr schwer. Wir hatten unser Soll zu erfüllen. Für größere Wirtschaften war das nicht leicht. Viel Schweiß und Schwielen waren nötig, um die Masse Kartoffeln bis zur BHG zu schaffen. Und wie viel Körner wir abgeben mussten! Da haben wir uns abgemüht, damit uns niemand vorwerfen konnte, dass wir Sollschuldner wären.
So arbeiteten wir hart bis ins Jahr 1959. In diesem Jahr ging's dann für jeden sichtbar mit der verstärkten Werbung für die LPG los.
Wir Bauern waren der Meinung, das wird bei uns nichts mit LPG, nicht hier bei uns in Sachsen. Sie können uns nicht mit Gewalt zwingen. Ulbricht hatte doch versprochen, es werden keine LPG mit Gewalt gegründet. So haben wir uns Trost zugesprochen und gesagt, uns betrifft das nicht. Wir bleiben freie Bauern.
Aber dann ging's ins neue Jahr - 1960. Im Januar ging das Gerücht um: Bis April soll alles weggenommen sein, dann wird's keine Einzelbauern mehr geben, alles wird LPG.
Sie begannen in den Fabriken Leute zu sammeln. Die hatten den Auftrag, aufs Dorf zu gehen und dort Propaganda zu betreiben, damit die Bauern freiwillig unterschreiben sollen. Wir aber sagten: Freiwillig? Nein, niemals!
Doch mit dem 1. Februar, da kamen zum ersten Mal solche Agitatoren nach Zockau. Zuerst gingen sie langsam durchs Dorf, besuchten die Bauern, mal da einen, mal dort einen. Sie redeten nicht viel, grüßten freundlich, wie gehts und so weiter. Das machte die Bauern nervös. Sie spürten: Was sich hier tut, hat nichts Gutes zu bedeuten.
Zwei Wochen später traten gleich fünf Mann auf unseren Hof und begannen zu erzählen, wie bei ihnen im Betrieb die Arbeit läuft, wer sie sind und wie schlecht es doch uns Bauern geht. Wir glaubten ihnen nicht und ließen sie nicht ins Haus. Aber sie gingen einfach rein, und so ging das jeden Tag wieder, und jedes Mal kamen wieder andere und redeten und redeten.
Am 1. März kamen 300 Personen ins Dorf. Sie hatten eine Musikkapelle mitgebracht. Die spielte westliche Schlager, so laut, dass sie bis in die Nachbardörfer zu hören waren. Das wiederholte sich Tag für Tag und hielt zwei Wochen an, von früh bis abends, jeden Tag. Dabei gingen sie in Gruppen von Hof zu Hof und erklärten uns:
»Wenn Ihr nicht fürs sozialistische Arbeiten seid, dann seid Ihr für Adenauer, und dann seid Ihr auch für den Krieg. Aber den wollt Ihr doch nicht, oder wie ist das?«
Wir ließen sie stehen, ohne etwas darauf zu antworten. Ich fürchtete mich auch nicht mehr. Zwei Wochen lang hielten wir durch. Meine Frau war damals zur Kur in Stützerbach. So war ich allein mit der Tochter zu Hause, und die hatte ihr Kleinkind. Beim Stillen weinte sie, weil das immer schlimmer wurde, die Begängnisse und die Diskussionen. Sie kamen auf den Hof und teilten mir mit:
»Bis zum 7. April wollen wir hier fertig sein. Dann muss jeder drin sein, auch Sie, Herr Wirth.«
Am 6. April kam zu mir eine Frau aus dem Dorf. Die erzählte mir vom Direktor der Sorbischen Oberschule in Bautzen.
»Wissen Sie, Herr Wirth, der Sobe, Direktor von der sorbischen Schule, hat nach Bautzen telefoniert: Zockau würde sich längst ergeben haben, wenn dieser Wirth nicht wäre.«
Das hat er nach Bautzen durchgegeben.
Am 7. April bin ich zeitig aufgestanden. Ich hörte ein Motorrad vor dem Haus halten. Ein Mann kam rein und wies sich als Polizist aus. Er teilte mir mit, ich hätte um neun in Bautzen beim Rat des Kreises zu erscheinen.
Ich...
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