Schweitzer Fachinformationen
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Der Folgefonnagletscher schimmerte wie Katzensilber zwischen den grauen Bergen. Der Fjord lag ausdruckslos und abwartend da. Polizeichef Bengt Alvsaker pflückte einen unreifen Apfel von dem Zweig eines alten, bärtigen Baumes und warf ihn mit aller Kraft ins Wasser. Dann drehte er sich demonstrativ um, ging zu seinem Rennrad und verpasste dem Pedal einen unmotivierten Tritt. Seine Gefühle wechselten so jäh wie das Herbstwetter im Vestland. Anstelle von freudiger Erwartung empfand er nur Beklemmung, außerdem hatte er ein erdrückend schlechtes Gewissen.
Das ockergelbe Haus mit den frischen Grassoden auf dem Dach lag in Skipadalen, ziemlich exakt zwischen den Ortschaften Norheimsund und Øystese, direkt am Wasser. Bengt Alvsaker war hier aufgewachsen. Er hatte die Gegend aber verlassen, kaum dass er alt genug gewesen war. Die Erinnerungen an dieses Haus waren nicht gut, er war an diesem Ort bedeutungsloser gewesen als die Farbkleckse auf der Palette seines Vaters. Zurückgekehrt an den Fjord, in die Berge und in dieses Haus war er erst wieder, nachdem sein Vater vor elf Jahren gestorben war.
Es war auch ziemlich exakt elf Jahre her, dass er Katrine am Telefon hart und unversöhnlich angeschrien und ihr vorgeworfen hatte, ihn hintergangen zu haben. Dass sie mit Berechnung schwanger geworden war, um ihn zu zwingen, in Oslo zu bleiben. Sie hatte es nicht für nötig gehalten, ihn anzurufen, als sie das Ganze noch rückgängig hätte machen können. Erst als sie eigentlich schon getrennt waren und der Umzugswagen fertig beladen in der Auffahrt in Ammerud gestanden hatte, hatte sie Bengt am Telefon erzählt, dass er Papa werden würde. Er hatte den Hörer auf die Gabel geworfen und sich ihren unzähligen Versöhnungsversuchen verweigert.
Für einen Augenblick sah er sich selbst aus ihrer Perspektive, wie sie ihn damals gesehen haben musste. Ein junger, selbstverliebter Drecksack, der sich aus dem Staub machte, sobald es ernst wurde. Einer dieser Typen, über die im Internet gechattet wurde. Ein verantwortungsloser Egoist, der nicht für sein Kind einstehen wollte. Seine Vaterschaft reduzierte sich auf die monatliche Abbuchung von seinem Gehaltskonto.
Bengt nahm das Rad vom Stativ und rollte es durch die Garage. Seit drei Jahren schickte Thomas ihm kleine Geschenke zum Geburtstag und zu Weihnachten. In dieser Woche hatte Bengt den Karton, in dem er all die Sachen gesammelt hatte, vom Kriechboden geholt. Weihnachtswichtel und Osterküken hatte er liegen lassen, den Rest aber im Wohnzimmer verteilt. Am Kühlschrank hing jetzt ein selbst gemaltes Bild von einem Jungen und einem Mann in Polizeiuniform. Bengt hatte im Stillen damit gerechnet, trotzdem war er in das reinste Gefühlschaos gestürzt, als Katrine ihn vor ein paar Monaten angerufen und ihm mitgeteilt hatte, dass ihr Sohn darauf bestand, seinen Vater kennenzulernen.
Der Junge lebte sein Leben in Oslo, zusammen mit seiner Mutter, einem wohlhabenden Stiefvater und kleinen Geschwistern. Bengt führte sein Leben hier am Hardangerfjord. Er fürchtete, dass der Besuch für beide ein unangenehmes Erlebnis werden könnte, dass der Zug für eine gemeinsame Zukunft längst abgefahren war. Andererseits musste er es weningstens versuchen. Auf seine rationelle Art hatte er es irgendwann geschafft, die Emotionen in den Griff zu bekommen und die Sache praktisch anzugehen. Thomas sollte eine Woche bei ihm verbringen, während Katrine mit ihrem Ehemann Urlaub in Frankreich machte. Bengt hatte sich zwei Wochen Urlaub genommen. Die erste Woche war bereits vorbei. Er hatte sie genutzt, um den Besuch vorzubereiten.
Das Schlafzimmer im ersten Stock roch noch nach frischer Farbe. Einem Impuls folgend, hatte er es zuerst hellblau streichen wollen, dann war ihm klar geworden, dass sein Sohn kein Baby war und er wirklich keinen Schimmer hatte, was für Interessen oder was für einen Geschmack der Junge hatte. Irgendwann war er zu IKEA in Bergen gefahren und hatte sich eine freundliche Verkäuferin gekrallt, die ihm Möbel vorgeschlagen und Farbtipps gegeben hatte, die in das Schlafzimmer eines Elfjährigen passen könnten. Vormittags war er im Supermarkt gewesen und hatte Lebensmittel eingekauft. Honni-Korn, Nugatti und dies und das.
Montagabend, in nicht einmal zwei Tagen, würde Thomas kommen, um zum ersten Mal seinen Vater zu treffen.
Ina und Anders Gulliksens Stimmen rissen ihn aus seinen Gedanken. Der sechs Jahre alte Junge und seine zwölf Jahre alte Schwester wohnten im Nachbarhaus. Sie riefen nach der Katze. Ina war sozusagen Miteigentümerin von Bengt Alvsakers pelziger und einziger Mitbewohnerin. Dankbar für die Ablenkung ging er ihnen entgegen. Der Fuß der Ufermauer lag im Wasser und war nur bei Ebbe zu sehen. Bei Flut war sie trockenen Fußes nicht zu umrunden. Die beiden Kinder spritzten sich lachend nass.
»Na, macht ihr einen Ausflug?« Bengt schnappte nach Anders' Arm, als der Junge über den Rasen galoppierte. »Bist du gar nicht im Kindergarten?«
Die wilden, pechschwarzen Locken tanzten unter Anders' Kappe.
»Nein, heute ist doch Samstag, und Sommerferien«, antwortete er. »Außerdem gehe ich nicht mehr in den Kindergarten. Ich bin doch Schulanfänger.«
»Du kommst in die Schule?« Bengt hob den Jungen hoch und drehte sich mit ihm im Kreis, ehe sie zusammen ins Gras purzelten. »Du bist doch noch ein Baby.«
Anders schob sich von Bengt weg, sah ihn überlegen an und lachte.
»Doch, ich komme in die Schule. Ganz bald. Weißt du das etwa nicht?«
»Willst du mich auf den Arm nehmen?« Bengt setzte eine überraschte Miene auf. »Du bist doch höchstens, lass mich nachrechnen .« Er zählte an den Fingern ab. »Drei Jahre?«
Anders drohte ihm mit der geballten Faust, ehe er seinen großen Zeh umfasste und das Bein wie ein Balletttänzer zu strecken versuchte.
»Papa hat gesagt, dass Mama tot ist«, sagte er ernst.
Ina, die sich neben Bengt ins Gras gesetzt hatte, drehte sich zu Bengt um.
»Hör nicht auf ihn«, flüsterte sie. »Er erzählt nur Quatsch.«
»Neeeiiiin, ich erzähl keinen Quatsch. Sie ist im Himmel«, protestierte Anders und schaute nach oben.
Bengt zeigte an den Himmel.
»Wisst ihr, dass das gute Wetter noch länger anhält, wenn der Kondensstreifen hinter einem Flugzeug sich schnell wieder auflöst?«
»Woher weißt du so viele Sachen?«, fragte Ina.
»Weil ich viel lese«, sagte Bengt und wuschelte Anders durch die Locken.
Der Junge lief zu einer einigermaßen ebenen Fläche auf dem Rasen und versuchte mit mäßigem Erfolg, Rad zu schlagen. Bengt hob einen Ball auf, der vor dem Apfelbaum lag, jonglierte ihn einen Moment auf dem Knie, ehe er mit einem flachen Schuss zwischen zwei Kirschbäume zielte, deren Zweige schwer von reifen Früchten nach unten hingen.
»Ich kann mich ins Tor stellen wie beim letzten Mal«, sagte Anders und rannte über den Rasen, um den Ball zu fangen.
»Habt ihr eigentlich die Katze gesehen?«, fragte Bengt, als Anders den Ball zu ihm zurückkickte.
Er hielt den Ball mit den Fußspitzen in der Luft, ehe er ihn in einem Bogen zu Anders schoss, der sich mit gebeugten Knien und vor sich ausgestreckten Armen aufgebaut hatte.
»Entweder ist sie gerade auf Mäusefang, oder sie liegt in dem Bett, das ich ihr im Bootshaus zurechtgemacht hab«, antwortete Ina. »Ich schau mal nach. Hast du das Bett schon gesehen?«
»Mmh . Sieht gemütlich aus«, sagte Bengt, der sich nicht erinnern konnte, wann er das letzte Mal im Bootshaus gewesen war. Im Augenwinkel sah er, wie Anders sich zur Seite warf, um den Ball zu fangen.
»Yes!«, rief er. »Hab ihn!«
Bengts Bootshaus war alt und morsch, es hatte schon zwischen den Fjordsteinen gestanden, als sein Vater damals das Grundstück gekauft hatte. Die Holzverkleidung hatte sich gelöst und lag wie ein grauer Faltenrock über der Steinmauer.
Bengt fing Anders' Ball und blieb mit ihm in den Händen stehen, als er Ina auf halber Strecke zum Bootshaus anhalten, wenden und zurücklaufen sah.
»Wir müssen nach Hause, Anders. Papa ist gekommen. Ich hab sein Auto gehört. Er hat heute Gäste. Ich soll ihm helfen.«
Ehe Bengt noch etwas sagen konnte, rannten die beiden Kinder über die Rasenfläche davon. Ina vorneweg, Anders in festem Klammergriff ums Handgelenk gepackt. Der Junge sah aus wie eine willenlose Schlenkerpuppe.
Ein paar Stunden später war das Fest im Nachbarhaus in vollem Gang. Das laute Gegröle ließ darauf schließen, dass es keine Kinderparty war. Bengt holte Schubkarre und Gartengeräte und begann halbherzig, das Erdbeerbeet zu beackern, während seine Gedanken um Ina und Anders kreisten.
Bengt Alvsakers Kontakt zum Vater der Kinder, wie auch zu den übrigen Nachbarn, beschränkte sich auf ein kurzes Nicken, wenn man sich auf der Straße begegnete. Die Häuser standen nur fünfzig Meter voneinander entfernt, wurden aber durch dichtes Gestrüpp getrennt. Ina und Anders hielt das nicht ab. Für sie gab es so wenige Grenzen wie für die Rentiere in der Finnmarksvidda, sie hatten sich einen eigenen Durchgang durch das Dickicht geschaffen. Und wenn die Wassertemperatur es zuließ, wateten sie über den Strandstreifen auf das Grundstück des Polizeibeamten.
Bengt Alvsaker betrachtete sich selbst nicht als einsamen Menschen. Er war fünfunddreißig Jahre alt und hatte nicht sehr viele wirklich enge Freunde, die meisten Bekannten von früher hatten sich mit Frau und Kindern zur Ruhe gesetzt. Inzwischen begegnete man sich höchstens mal bei irgendwelchen Veranstaltungen in der Stadt. Am regelmäßigsten traf er sich mit William Kjosås, oder Esso-William, wie er im Ort genannt wurde. William war der...
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