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Rasch schnappte Marco sich ein paar von den frisch gebackenen sfogliatelle[1] vom Tisch. Seine Nonna war in der Küche beschäftigt und bekam hoffentlich nicht mit, dass er sich etwas stibitzte. Marco steckte die noch warmen Gebäckteilchen in seine kleine lederne Tasche, in der auch sein Messer, das Gehäuse eines getrockneten Seeigels, einige hübsche Steine und ein paar Lire verstaut waren, und sah zu, dass er schnell aus dem Zimmer kam.
Seine nackten Füße klatschten auf den Terrakottafliesen; er hatte die Tür zum Garten noch nicht ganz erreicht, da hörte er die strenge Stimme seiner Nonna hinter sich.
»Marco! Du Schlingel! Wirst du wohl die sfogliatelle wieder zurücklegen! Marco!!!«
Aber Marco dachte nicht daran. Er wetzte aus der Tür hinaus in den Garten. Machte einen großen Satz über die üppigen Rosmarinbüsche, duckte sich unter der weinumrankten Laube, wich mit einem geschickten Haken der schlafenden Katze aus und erreichte, die Rufe der Nonna noch immer im Rücken, die Treppe.
Zweihundertsechsundvierzig Stufen aus glattem Stein, steil in den Fels gehauen, führten von Marcos Zuhause durch den Zitronenhain seiner Familie hinunter in den Ort. Marco sprang behende hinab, dabei nahm er mal zwei, mal drei Stufen auf einmal. Er war mit der halsbrecherischen Treppe groß geworden, flitzte sie mehrmals am Tag hinauf und wieder hinunter.
Seine Nonna dagegen vermied diesen Weg nach Amalfi, sie war fast neunzig und die Mutter der Mutter seines Vaters. Sie ging gebeugt, hatte Probleme mit den Knien und dem Rücken und begnügte sich damit, im Haus nach dem Rechten zu sehen, ein strenges Regiment über die Küche zu führen und ansonsten auf ihrem Stuhl an der Hauswand in der Sonne zu sitzen, die Katze auf dem Schoß.
Einmal in der Woche jedoch sowie an bestimmten Feiertagen besuchte sie die Kirche. Dann wurde sie von Marcos Vater Raffaele in den Lastenaufzug gesetzt, der für die Zitronen benutzt wurde. Die Nonna war klein und dürr, leicht wie eine Feder und immer in Schwarz gekleidet. Sie sah aus wie ein großer Rabe. Wenn Raffaele sie aber auf seine Arme nahm - mit gebührendem Respekt! - und in den Korb aus Stahl setzte, dann kicherte sie wie ein junges Mädchen. Mit ihren Fingern, die Marco an Vogelkrallen erinnerten, klammerte sie sich fest, und sobald sich der Aufzug in Bewegung setzte, begann sie zu kreischen. Laut und vernehmlich, und Marco meinte, neben dem Entsetzen über die rasante Fahrt auch jubilierende Freude aus dem Schrei herauszuhören.
Zu gerne wäre auch er mit dem Aufzug in die Tiefe des Tals gerauscht! Aber sein Vater guckte streng, wann immer Marco diese Bitte äußerte, und schüttelte den Kopf. Es war zu gefährlich. Die fragile Stahlkonstruktion war für Zitronen gebaut und nicht für kleine Jungs!
Warum aber die Nonna dann damit in die Kirche transportiert werden durfte, blieb Marco ein ewiges Rätsel. Oder, so mutmaßte er manchmal, trachtete Raffaele der Alten nach dem Leben? Wollte er sie nicht etwa in die Kirche, sondern ins Jenseits befördern?
»Marco, was ist? Beeil dich! Sonst gehen sie ohne uns!« Unten am Fuß der Treppe stand Pippo, Marcos bester Freund. Er überragte Marco um einen Kopf, dafür war er dünn wie eine Zaunlatte. Was umso erstaunlicher war, da Pippo der »größte Fresssack auf Erden« war, wie Marcos Mutter Magdalena stets zu sagen pflegte.
Auch jetzt wartete Pippo mit gierig ausgestreckter Hand auf seinen Freund, und noch während Marco die letzten zehn Treppenstufen mit zwei großen Sätzen herunterstürmte, angelte er aus seiner Tasche eine sfogliatella, um sie Pippo zuzuwerfen. Das Teilchen wanderte von der Hand sofort in Pippos Mund und war - hast du nicht gesehen - noch schneller verschlungen.
Marco grinste und wollte gerade zum Sprint durch die Via Santa Aegidio ansetzen, da sah er aus dem Augenwinkel, dass am Fuß des Berges, keine fünf Meter von ihm entfernt, sein Vater stand. Raffaele hielt eine seiner Zitronen in der einen Hand und gestikulierte heftig mit der anderen. Ihm gegenüber stand Paolo Lamarttine mit hochrotem Kopf und fuchtelte ebenso mit seinen Armen. Es sah aus, als wären die beiden Männer in einen handfesten Streit verwickelt, aber Marco kannte diese Szene gut genug, um zu wissen, was los war. Er war damit groß geworden - mit dem Disput zwischen seinem Vater und dem einflussreichsten Zitronenhändler an der Küste. Es ging wie immer um die Zitrone - DIE Zitrone, die beste, die es nur gab, nämlich die der Familie Pantanella. Und, natürlich, um ihren Preis. Darüber konnten sich Raffaele und Paolo niemals einig werden. Wenn sie sich irgendwann, nach endlosen, hitzigen Diskussionen, endlich die Hände reichten und damit ihren Handel besiegelten, drehte sich der eine weg und murmelte »Verbrecher, Ganove«, und der andere tat es ihm gleich mit einem »Schlitzohr, vermaledeites« auf den Lippen.
Aber Woche für Woche, Monat für Monat und Jahr für Jahr kamen sie wieder ins Geschäft, Raffaele Pantanella und Paolo Lamarttine.
Marco riss Pippo am Arm. »Schnell, lass uns abhauen, bevor mein Vater mich sieht!«
Aber es war schon zu spät. Raffaele hatte seinen Sohn wohl bemerkt und winkte ihn zu sich. »Marco, komm her, mein Junge! Erklär diesem Esel hier doch mal, warum die Zitronenernte in diesem Monat besonders gut ist. Er begreift es nicht, dieser stupido[2]!«
Aber Marco tat, als hätte er nichts gehört, und suchte mit Pippo das Weite.
Während die beiden Jungen sich einen Weg durch die engen Gassen Amalfis bahnten, wischte sich Pippo die Krümel vom Mund und fragte Marco, ob dieser noch eine sfogliatella habe.
Marco war hin- und hergerissen. Eigentlich gab er seinem Kumpel immer von seinem Essen ab, auch weil er wusste, dass Pippo manchmal nur Ziegenmilch, einen Kanten Brot oder Feigen bekam und sonst den ganzen Tag nichts weiter. Sein Freund kam aus einem bitterarmen Haushalt.
Pippo und sein Vater Sergio, der Ziegenhirte, lebten in den Bergen, noch ein Stückchen oberhalb des Zitronenhains der Familie Pantanella. Niemand kannte die Mutter des Jungen, nicht einmal Pippo selbst. Die Nonna behauptete stets, sie sei eine Zigeunerin gewesen, dabei bekreuzigte sie sich rasch. Sergio zog den Jungen alleine auf, aber er hatte keinen Beruf, konnte weder lesen noch schreiben, sondern hauste mit den Ziegen, ein paar Hühnern und seinem Sohn in einer Hütte. Marco kam es vor, als lebten sein Freund und dessen Vater in einer Welt aus dem vorigen Jahrhundert. Sie hatten kein Telefon und kein fließendes Wasser - nur einen Brunnen und ein Plumpsklo. Strom immerhin gab es, Raffaele erlaubte den beiden, seine Stromleitung anzuzapfen. Er war es auch, der Sergio Arbeit gab, er ließ ihn auf der Zitronenplantage helfen. Pippos Vater trug die schweren Kisten mit den Zitronen zum Lastenaufzug. Er war krumm und bucklig, und obgleich er so alt war wie sein Chef, fünfundvierzig Jahre, sah er doppelt so alt aus.
Trotz der Armut, die bei Pippo und seinem Vater herrschte, war Marco gerne bei den beiden zu Besuch. Sergio war immer zu einem Scherz aufgelegt, er sang den lieben langen Tag und war seinem Sohn ein liebevoller Vater.
Marco stand zu Pippo ohne Wenn und Aber - auch oder gerade, wenn dieser wegen seiner ärmlichen Kleidung und des entbehrungsreichen Lebens von den Schulkameraden gehänselt wurde.
Marcos Mutter brachte einmal in der Woche einen Korb mit selbstgemachtem Essen und ausgemusterten oder von ihr geflickten Sachen zu Pippo und seinem Vater, obwohl die Pantanellas nicht zu den vermögenden Bürgern Amalfis gehörten. Aber man war in der Familie des Zitronenbauers Raffaele Pantanella der unbedingten Auffassung, dass es eine Pflicht des Herzens sei, großzügig zu teilen.
Deshalb war Marco jetzt auch in einem Gewissenskonflikt, als Pippo nach einer weiteren sfogliatella fragte. Er hatte in der Tat noch zwei weitere in seiner Tasche, aber eine davon wollte er selbst essen, und die andere . Nun, das andere Teilchen war für jemand ganz Besonderen. Für jemanden, an den Marco Tag und Nacht dachte, für jemanden, der aussah wie ein Engel und von dem Marco hoffte, dass er - oder besser sie - jetzt ebenfalls am Strand wäre und mit ihm schwimmen ging.
Lisabetta!
Augen wie Kohlenstücke, eine Haut wie Karamell, und aus ihren langen lockigen Haaren hätte man eine Decke weben können, in die sich Marco zur guten Nacht einkuscheln wollte.
Lisabetta war die Tochter des Fischers Nino, sie und Marco waren ebenso miteinander groß geworden wie Marco und Pippo. Alle drei gingen sie in dieselbe Schule, Marco saß schräg hinter Lisabetta, und er war nur darauf konzentriert, sie zu beobachten, wie sie mit ihrer Banknachbarin kicherte, ihre schwarze Lockenpracht schüttelte oder sich ab und an zu Marco umdrehte und ihm zuzwinkerte.
Während er an Lisabetta dachte, griff Marco in seine Tasche und holte eine der süßen Gebäcktaschen heraus, brach sie auseinander, reichte noch im Laufen seinem Kumpel Pippo die eine Hälfte und schob sich die andere in den Mund. Die Aromen explodierten förmlich auf der Zunge - die frische Butter, der cremige Ricotta, die Süße des Honigs und die Säure der Zitrone, mit der seine Urgroßmutter die sfogliatelle würzte, schmeckten einfach himmlisch!
Marco hatte sich den Mund vollgestopft, und als er und Pippo die Straße überquerten, die den Ort vom Strand trennte, kaute er noch immer. Lisabetta lachte ihm...
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