Schweitzer Fachinformationen
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25. November
Chelsea, New York City
»Wir leben in erstaunlichen Zeiten!«
Skeptisch musterte ich die verkohlte Wurst in meiner Hand.
»In erstaunlichen und gefährlichen Zeiten«, lachte Chuck, mein Nachbar und bester Freund, und trank einen Schluck Bier. »Gute Arbeit. Innen drin ist die bestimmt noch gefroren.«
Kopfschüttelnd legte ich die Wurst wieder auf den Rand des Grills.
Für Thanksgiving war es ungewöhnlich warm, deshalb hatte ich spontan beschlossen, auf der Dachterrasse unseres in Wohnraum umgewandelten Lagerhauskomplexes eine Grillparty zu geben. Die meisten unserer Nachbarn hatten Urlaub und waren zu Hause, auch mein zwei Jahre alter Sohn Luke, und den ganzen Vormittag über war ich von Tür zu Tür gegangen und hatte die Hiergebliebenen zum Grillen eingeladen.
»Mach meine Kochkünste nicht schlecht, und fang nicht schon wieder an.«
Es war ein wundervoller Abend, und die untergehende Sonne leuchtete warm. Vom Dach des sechsten Stocks aus hatten wir eine fantastische Aussicht auf die rot-goldenen Bäume, die den Hudson säumten, und die Skyline der Stadt, untermalt von gedämpftem Straßenlärm. Die lebendige Ausstrahlung New Yorks begeisterte mich noch immer, obwohl ich schon seit zwei Jahren hier lebte. Ich musterte unsere versammelten Nachbarn. Dreißig Leute waren zu der kleinen Party gekommen, und insgeheim war ich stolz, dass es so viele waren.
»Dann glaubst du nicht, dass ein Sonnenflare die Welt auslöschen könnte?«, fragte Chuck und hob die Brauen.
Mit seinem Südstaatenakzent hörten sich sogar Katastrophen wie ein Songtext an, und wie er so mit seinen zerrissenen Jeans und dem Ramones-T-Shirt auf der Sonnenliege lag, wirkte er wie ein Rockstar. Seine braunen Augen funkelten spöttisch unter seinem ungekämmten blonden Haarschopf hervor, und ein Zweitagebart vervollständigte seine Erscheinung.
»Genau das wollte ich verhindern.«
»Ich habe doch nur gesagt …«
»Was du sagst, läuft immer auf eine Katastrophe hinaus.« Genervt verdrehte ich die Augen. »Soeben haben wir eine der bedeutendsten Veränderungen in der Geschichte der Menschheit durchgemacht.«
Ich wendete die Würste auf dem Grill, was die Holzkohle erneut auflodern ließ.
Tony, einer unserer Pförtner, stand neben mir, noch in Arbeitskleidung und mit Krawatte. Wenigstens hatte er das Jackett abgelegt. Mit seiner untersetzten Figur und den dunklen italienischen Gesichtszügen war er so typisch Brooklyn wie seinerzeit die Dodgers, und sein Akzent ließ einen das nicht vergessen. Tony war ein Mensch, den man sofort ins Herz schloss, hilfsbereit, stets gut gelaunt und immer einen Scherz auf den Lippen.
Luke mochte ihn auch. Seit er laufen konnte, rannte er jedes Mal, wenn wir mit dem Aufzug nach unten fuhren, zum Schalter des Pförtners und begrüßte Tony mit lautem Gejohle. Die Zuneigung beruhte auf Gegenseitigkeit.
Ich sah vom Grill auf und sprach Chuck direkt an. »Mehr als eine Milliarde Menschen wurden in den vergangenen zehn Jahren geboren – das entspricht der kompletten Einwohnerschaft New York Citys Monat für Monat –, der schnellste Bevölkerungsanstieg, den es je gegeben hat und je wieder geben wird.«
Ich schwenkte die Grillzange, um meinen Worten Nachdruck zu verleihen.
»Sicher, hier und da gab es Krieg, aber nichts Größeres. Nun, das sagt einiges über die Menschheit aus.« Ich legte eine Kunstpause ein. »Wir werden reifer.«
»Diese eine Milliarde Neubewohner sind überwiegend noch Säuglinge, die an ihrem Fläschchen nuckeln«, erklärte Chuck. »Warte mal fünfzehn Jahre ab, bis die alle Autos und Waschmaschinen wollen. Dann werden wir ja sehen, wie sehr wir gereift sind.«
»Weltweit hat sich die Armut, berechnet nach dem realen Pro-Kopf-Einkommen, in den vergangenen vierzig Jahren halbiert …«
»Und dennoch leidet einer von sechs Amerikanern Hunger, und die Mehrheit ist mangelernährt«, unterbrach mich Chuck.
»Und zum ersten Mal in der Geschichte der Menschheit«, fuhr ich fort, »leben seit ein oder zwei Jahren die meisten Menschen in Städten und nicht mehr auf dem Land.«
»Aus deinem Mund hört sich das an, als wäre das erstrebenswert.«
Tony sah mich und Chuck an und schüttelte den Kopf, trank einen Schluck Bier und lächelte. Diese Auseinandersetzung hatte er schon oft erlebt.
»Das ist es in der Tat«, erklärte ich. »Die urbane Umwelt ist energetisch effizienter als die ländliche.«
»Aber die Stadt ist keine Umwelt«, widersprach Chuck. »Die Umwelt ist die Umwelt. Du redest von Städten, als wären das autarke Blasen, aber das sind sie nicht. Sie sind vollkommen abhängig von ihrer natürlichen Umgebung.«
Mit der Grillzange zeigte ich auf ihn. »Die wir genau dadurch retten, dass wir in Städten zusammenleben.«
Ich wandte meine Aufmerksamkeit wieder dem Grill zu und sah, dass das herabtropfende Fett erneut in Brand geraten war und die Hähnchenbrüste versengte.
»Ich wollte bloß sagen, wenn alles zusammenbricht …«
»Wenn Terroristen über den USA eine Atombombe zünden? Durch einen elektromagnetischen Puls?«, fragte ich, während ich das Grillfleisch umsortierte.
»Oder durch ein Supervirus, das auf die Welt losgelassen wird?«
»Was auch immer«, meinte Chuck.
»Weißt du, wovor du wirklich Angst haben solltest?«
»Sag schon.«
Eigentlich gab es keinen Grund, ihn mit einer weiteren Angst zu infizieren, doch ich konnte es nicht lassen.
»Vor einem Cyberangriff.«
Ich warf einen Blick über die Schulter. Die Eltern meiner Frau waren eingetroffen, und ich bekam ein flaues Gefühl im Bauch. Was hätte ich nicht für ein gutes Verhältnis zu meinen Schwiegereltern gegeben. Andererseits hatten sich die meisten Leute mit dem gleichen Problem herumzuschlagen.
»Schon mal von Nightdragon gehört?«, fragte ich.
Chuck und Tom zuckten mit den Schultern.
»Vor ein paar Jahren wurde in den Steuersystemen der Energieversorger im ganzen Land fremder Computercode entdeckt«, erklärte ich. »Die Spur führte zu Bürogebäuden in China. Er war eigens dafür programmiert worden, die amerikanische Energieversorgung lahmzulegen.«
Chuck zeigte sich unbeeindruckt. »Und? Was ist passiert?«
»Nichts ist passiert, noch nicht, aber deine Haltung ist genau das Problem. Wenn Chinesen durch die Gegend laufen und C-4-Sprengladungen an Hochspannungsmasten anbringen würden, dann würde die Öffentlichkeit Zeter und Mordio schreien und dem Land den Krieg erklären.«
»Du meinst, früher hat man Bomben auf Fabriken abgeworfen, und jetzt klickt man mit der Maus?«
»Genau.«
»Siehst du?«, meinte Chuck lächelnd. »Auch in dir steckt ein Prepper – ein Weltuntergangsprophet.«
Ich lachte. »Beantworte mir mal eine Frage: Wer kontrolliert das Internet, dieses System, von dem unser Leben abhängt?«
»Keine Ahnung – die Regierung?«
»Die Antwort lautet: niemand. Jeder benutzt es, aber niemand kontrolliert es.«
»Also, das klingt wirklich nach einer Katastrophe.«
»Sie beide machen mich noch fertig«, sagte Tony in die Gesprächslücke hinein. »Können wir uns nicht über Baseball unterhalten?«
»Hören Sie nicht auf uns«, meinte ich lachend. »Wir albern doch bloß rum. Glauben Sie mir, mein Freund, Sie werden ein langes Leben haben.«
»Ich glaube Ihnen, Mr. Mitchell.«
»Tony, würden Sie mich bitte Mike nennen?«
»Ja, Mr. Mitchell«, erwiderte er lachend. »Vielleicht sollte ich das Grillen besser übernehmen?« Die Flammen schlugen wieder hoch, und mit gespielter Ängstlichkeit wich er zurück. »Sie haben doch Wichtigeres zu tun, oder?«
»Und wir hätten es vielleicht gern ein bisschen weniger kross«, bemerkte Chuck grinsend.
»Ja, klar«, erwiderte ich wenig begeistert, nickte und reichte Tony die Zange. Ich hatte mich am Grill versteckt, um das Unvermeidliche hinauszuzögern.
Unschlüssig blickte ich mich zu meiner Frau Lauren um, die zu mir hersah. Sie unterhielt sich angeregt und streifte sich mit der Hand ihr langes, kastanienbraunes Haar zurück.
Mit ihren hohen Wangenknochen und ihren funkelnden grünen Augen lenkte sie bei Betreten eines Raums alle Blicke auf sich. Sie hatte die verfeinerten, kraftvollen Gesichtszüge ihrer Familie, eine scharf geschnittene Nase und ein markantes Kinn, die ihre schlanke Erscheinung betonten. Obwohl wir schon fünf Jahre zusammen waren, verschlug mir ihr Anblick immer noch den Atem – ich konnte es einfach nicht glauben, dass sie mich ausgewählt hatte.
Ich atmete tief durch und straffte die Schultern.
»Ich überlasse euch jetzt den Grill«, sagte ich, an niemand Bestimmten gewandt. Sie unterhielten sich bereits über das drohende Cybergeddon.
Hastig trank ich noch einen Schluck Bier, stellte die Dose auf den Tisch neben dem Grill und ging zu Lauren hinüber. Sie stand in der gegenüberliegenden Ecke der großen Dachterrasse und plauderte mit ihren Eltern und ein paar Nachbarn. Ich hatte darauf bestanden, ihre Eltern zu Thanksgiving einzuladen, doch jetzt bedauerte ich es bereits.
Ihre Familie war alter Boston-Geldadel, in der Wolle gefärbte hohe Tiere. Anfangs hatte ich mich bemüht, einen guten Eindruck zu machen, doch nach einer Weile hatte ich es aufgegeben und war grollend zu dem Schluss gelangt, dass ich es ihnen niemals...
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