Kapitel 1
Ich verbrachte drei endlose Jahre damit, ein Stück Papier zu erwerben, auf dem steht: »Willa Jansson, Doktor des Rechts, ausgestattet mit allen damit verbundenen Rechten und Privilegien«. Es überraschte mich nicht, daß die Leute danach von mir erwarteten, daß ich als Anwältin arbeitete. Ich widerstand der Versuchung, ihre Erwartungen zu enttäuschen (ganz zu schweigen von der Versuchung, mein Studiendarlehen nicht zurückzuzahlen), wurde zunächst Anwältin für Arbeitsrecht, dann Anwältin für Körperschaftsrecht, dann Hilfsrichterin. Aber nachdem ich mich jahrelang mit Haarspaltereien, mit akribisch-pingeliger Arbeit und in sachlichem Ton abgefaßten Bestätigungen des Widersinnigen befaßt hatte, machte ich mir über meine Arbeit nur noch wenige Illusionen ? ebensowenig wie über die damit verbundenen Rechte und Privilegien. Nachdem ich in vier Jahren drei Jobs geschmissen hatte, diente ich häufig eher der allgemeinen Aufmerksamkeit als dem Recht. Und als es auch nichts Neues mehr für mich war, immer bei Kasse zu sein, stellte ich fest, daß mich der Beruf der Anwältin immer stärker anödete. Unglücklicherweise waren meine Gläubiger von der Idee jedoch nach wie vor begeistert.
Aber ich hatte noch keine Gelegenheit gehabt, meines neuesten Jobs überdrüssig zu werden, als ich die Market Street überquerte, um meinen ersten Tag als Anwältin für Multimediafragen zu beginnen. Ich hatte keine Ahnung, ob ich diese Arbeit mögen würde, aber ich mochte zumindest schon mal den Klang dieses Wortes. Es war so modern, klang nach den Neunzigern: eine Karriere, die wie geschaffen war für eine Frau, die den Ballast der sechziger Jahre aus dem Fenster geworfen hatte, um scharf auf die Datenautobahn abzubiegen.
Aber an diesem Morgen, in der nichtvirtuellen Realität, ging ich zu Fuß.
Wie üblich schien die Market Street vor ungeduldigen Autos geradezu überzukochen. Ich liebte meinen Honda zu sehr, um ihn einem Moloch aus aufheulenden Motoren, kreischenden Bremsen und der Jagd nach einer Parklücke aussetzen zu wollen. Außerdem war ich eine nervöse Fahrerin, besonders in der Rushhour. Also hatte ich den Bus von Haight nach Market genommen.
Wie es schien, hatten sich Unmengen von Büroangestellten für die gleiche Strategie entschieden. Die Fußgängerüberwege waren beinahe zu schmal für all die Anwälte, Börsenmakler und Bankangestellten, die mit hochgezogenen Schultern und in ihren Regenmänteln vergrabenen Fäusten dort entlanghasteten. Wir waren eine mürrische Armee, die nun das Bankenviertel stürmte ? und die Grenze zwischen Warenhäusern und Wolkenkratzern, zwischen dem spanischen Geschnatter und dem schrulligen Schweigen der angloamerikanischen Bevölkerung, zwischen dem billigen Bier und den schicken Weinbars.
Ich blieb an der Ecke stehen und wartete darauf, daß die Ampel auf Grün sprang. Ich sah meinem Job mit einiger Sorge entgegen, denn ich verfügte keineswegs über das ideale Leistungsprofil. Es war mir nie gelungen, mich als Teil eines Teams zu verstehen. Vielleicht lag es ja an mir. Aber ich fand meine früheren Kollegen zumeist bestenfalls konventionell und humorlos. Schlimmstenfalls kamen sie mir herzlos und anmaßend vor. Meine Eltern hatten mich oft zum Wahnsinn getrieben, aber sie hatten mich immerhin an bessere Gesellschaft gewöhnt.
Auf der Market Street nahmen sich lediglich die Obdachlosen Zeit. Gauner ließen vor den Augen der Menschen, die in die Geschäfte strömten, Juwelen aufblitzen. Teenager boten ihren Körper feil. Mürrische Flüchtlinge bettelten um Geld. San Francisco bot nicht viele Möglichkeiten, um ohne Anstellungsverhältnis seinen Lebensunterhalt zu verdienen.
Und da ich zu den wenigen Anwälten gehörte, die nicht an einem Justizthriller arbeiteten, brauchte ich diesen Job.
Als die Ampel also auf Grün sprang, ließ ich mich vom Yuppie-Strom über die Straße spülen. Als der zu beiden Seiten von Hochhäusern begrenzte Korridor vor mir auftauchte, hatte ich das Gefühl, mit dem Floß durch den Grand Canyon zu treiben. Tausende von dahineilenden Büroangestellten ähnelten dem tosenden, weiß aufschäumenden Wasser. Ich versuchte, nicht daran zu denken, wie lange es noch dauern würde, bis ich das nächste Mal Urlaub hätte.
Ich hatte die letzte Woche damit verbracht, einen gewissen Arbeitsenthusiasmus zu entwickeln. Wenn ich jetzt so weitermachte wie letzte Woche, würde meine positive Einstellung ungefähr bis zum Mittagessen andauern. Zumindest war man mit diesem Job mitten drin. Ich hatte meine zur Boheme gehörenden Eltern schon einmal schockiert, als ich mich vor zwei Jahren bei einem erfolgreichen Konzern in L. A. bewarb. In einem eleganteren Umfeld hatte ich mich bis zu diesem Zeitpunkt noch nie abgemüht, aber es dauerte kein Jahr, bis mein innerer Antrieb dahin war.
Ich war nun schon seit fünf Monaten arbeitslos und das, ohne eine Erklärung dafür zu haben, warum ich eine solch große Firma verlassen hatte. Ich hatte meine Ersparnisse aufgebraucht. Und ich war zu einer unangenehmen Schlußfolgerung gekommen: Wenn ich eine weniger gut bezahlte Arbeit angenommen hätte, die ich gern tat, statt zu versuchen, Geld durch einen Job zu scheffeln, den ich haßte, dann wäre ich jetzt nicht stellungslos. Ich wäre finanziell flüssig, und mein Lebenslauf makellos. Keine Frau von sechsunddreißig Jahren sollte vor sich selbst zugeben müssen, daß ihre Eltern recht gehabt hatten.
Und als ob das nicht genug wäre, verdankte ich meinen neuen Job meinem Vater. Es begann, als er sich in die Idee einer Online-Demokratie verliebte. Er fing an, mit seinen Freunden am Computer zu spielen. Dann entdeckte er einen latenten künstlerischen Zug. Beinahe hätte er sogar einen bewußtseinserweiternden Posterkünstler adoptiert, der Computerkurse für Graphikprogramme gab. Tagelang hockte er mit einem dieser miesen Kybernetik-Gurus, dem berühmten »Brother Mike« aus San Francisco, zusammen. Er begann, längst vergessene, entfernte Bekanntschaften aufzufrischen, nur weil auch sie gerade damit beschäftigt waren, wie verrückt ihre Computer aufzurüsten.
Die Wohnung meiner Eltern in der Haight Street machte eine Verwandlung durch. Die Poster, auf denen zum Boykott von Waren aus der Dritten Welt aufgerufen wurde, wurden durch Fraktale ersetzt. Die alte Druckmaschine, eine Veteranin, die den Druck von Millionen von Flugblättern überstanden hatte, wurde von einem Farbtintenstrahldrucker verdrängt. Stapelweise wurden Flugblätter verschickt, und die Menge wurde nur noch durch die der Petitionen und polemischen Schriften übertroffen, die sie per E-Mail weiterleiteten und die sich andere Teilnehmer aus dem Netz herunterladen konnten. Meiner Mutter war schnell klargeworden, was für Möglichkeiten in den Tausenden von Mailboxen steckten, und sie gewöhnte sich an, ihre Bekehrungsversuche auf elektronischem Wege vorzunehmen.
Zuerst glaubte ich, daß es sich um einen besonderen Tick meiner Eltern handelte, einen von Tausenden. Aber ich war überrascht, welcher Strom von Menschen sich durch ihre Wohnung zog. Bald hatte ich erkannt, daß sich viele alte Freunde der Familie, Aktivisten und Spinner, dem Computer ebenso wie sie sich vormals der Flower Power verschrieben hatten. Sie nutzten den PC, um Comics zu verfassen, Collagen anzufertigen, Videofilme zu schneiden und ihre eigene Musik damit zu komponieren. Eine ganze Generation hatte sich in den Cyberspace aufgeschwungen.
Ein Freund, der schon für ein paar Programme sein Patent angemeldet hatte, berichtete meinem Vater von einer Kanzlei aus »Technohippies«, wie er sie nannte. Er hatte gehört, daß sie auf der Suche nach einem geeigneten Mitarbeiter waren.
Da sich auf meinem Bankkonto nur noch ein paar hundert Dollar befanden, rief ich sofort bei der Firma an. Ich sammelte all meine Zeugnisse und absolvierte ein paar Crashkurse. Ich sah mir Videos über Computergraphiken an, bis ich die stilistischen Tricks kannte. Ich riskierte ein Koma, weil ich Fachzeitschriften zum Thema Software-Copyright las.
In meinen Vorstellungsgesprächen versuchte ich mich als Computerexpertin zu profilieren, indem ich von Programmen und Patenten vor mich hin brabbelte, als ob ich mich schon seit langem ? und nicht erst seit ein paar Stunden ? für dieses Thema interessierte. Ich betonte, daß L.A. noch keine adäquaten Media-Connections besitze. Ich ließ den Begriff Datenautobahn fallen. Nach zwei Wochen und vier Vorstellungsgesprächen mit den Partnern von Curtis & Huston wurde ich eingestellt.
Erst jetzt, in diesem kritischen Augenblick, da ich an einem nieseligen Montagmorgen auf dem Weg zur Arbeit war, begann ich, mir zu wünschen, wieder im Bett zu liegen. Ich eilte die Montgomery Street hinauf, die in das Herz des Finanzdistrikts führte. Bei den meisten meiner Jobs in San Francisco hatte ich näher am Einkaufszentrum gearbeitet, in einem von diesen geschmacklosen Löchern, die von irgendwelchen Wohnungsbauprojekten umgeben waren. Die Umgebung meiner neuen Arbeitsstelle war blitzblank gewienert und mit Blumen geschmückt. Sie roch nach Brezeln und Espresso, nach Küstenwind und Abgasen. Um mich herum fügte die wabernde Menge der Büroangestellten gelegentlich noch einen Hauch von nasser Wolle oder Haargels hinzu.
Ich machte einen großen Bogen um den diensthabenden Cop, der in seinen Walkie-talkie sprach. Die übrigen Fußgänger, die jetzt in der Rushhour unterwegs waren, machten es genauso ? es war viel zu feucht, um stehenzubleiben und Maulaffen feilzuhalten. Als ich an dem Polizisten vorbeiging, sah ich in die Richtung, in die er seinen Blick gewandt hatte. Auf der anderen Straßenseite, etwa einen Häuserblock entfernt, stand ? zu meiner Überraschung ? ein alter, teurer Freund meiner Eltern.
Für den Bruchteil einer Sekunde dachte ich...