Kapitel 1
Wie oft muß ich mir anhören, daß andere Menschen sich über ihre Mutter beklagen! Ich hingegen würde es geradezu genießen, wenn die meine mich mit guten Ratschlägen verfolgen oder mit Schwänken aus ihrem Leben langweilen würde. Ich finde nämlich, daß jeder sich glücklich schätzen sollte, der seine Mutter noch nie aus einer Gefängniszelle voller Demonstranten holen mußte. Und jeder, der ohne Schuldgefühle eine zynische Bemerkung machen oder hin und wieder mit einem Republikaner verkehren kann, ist ebenfalls ein Glückspilz. Meine Mutter hingegen verfaßte sogar einmal eine Petitionsschrift, damit der Mann meiner Träume seines Amtes enthoben wurde. (Ich brauche wohl kaum zu betonen, daß dies unsere Beziehung beträchtlich abkühlte.) Und keiner der Jobs, die ich nach meinem juristischen Examen annahm, fand Gnade vor ihren Augen - abgesehen natürlich von denen, die nicht genug Geld einbrachten, als daß ich davon hätte leben können. Selbst heute, da ich meine eigene Kanzlei habe, kann ich sie um keinen Preis der Welt davon überzeugen, daß ich nicht zu jenen gehöre, die »die kapitalistischen Strukturen aufrechterhalten«. Aber erst die Ereignisse des letzten Jahres setzten dem Ganzen die Krone auf: Meine Mutter flog mit einer Schar grauhaariger Brigadistas nach Kuba und versäumte es anschließend, auch wieder mit ihnen nach Hause zurückzukehren.
Als die vierzehn netten und unauffälligen Anhängerinnen der Friedensbewegung aus dem Flugzeug stiegen, sah ich schon an ihren Gesichtern, daß irgend etwas nicht stimmte. In den Organisationen Global Exchange und Women's International League for Peace and Freedom hatten sich - durch einen natürlichen Ausleseprozeß - eine Handvoll enthusiastischer Frauen zusammengerottet, die jederzeit in ekstatische Lobeshymnen über die Revolution auszubrechen bereit waren. Eigentlich hätten diese Frauen jetzt - auf dem Flughafen - einen wahren Freudentanz über die hinter ihnen liegende Vereinigung aufführen müssen. Wer sich mit anderen Revolutionären getroffen hatte, dessen Antlitz war gemeinhin verklärt. Statt dessen jedoch blickten sie besorgt und verwirrt drein. Und Mitglieder der WILPF sahen nur sehr selten verwirrt aus. In der Regel handelte es sich um Frauen jüdischer Abstammung, Mütter von Politikern, die die gesamte Dritte Welt mit Suppenküchen versorgt hätten, wenn sie gekonnt hätten. Mir war also sofort klar, daß irgend etwas schiefgegangen war. Aber töricht, wie ich war, dachte ich zunächst, daß man ihnen vielleicht ihre Illusionen genommen hatte. Ich glaubte, daß irgend etwas die rosarote Brille, mit der sie die Revolution betrachteten, zerbrochen hatte.
Ich hätte es besser wissen müssen! Einmal hatte ich meine Mutter auf einer politischen Reise begleitet, auf der wir lauter Frauen getroffen hatten, die gar nicht damit aufhören konnten, die Vorzüge des kubanischen Schul- und Gesundheitssystems zu preisen und sich über die Warmherzigkeit der Kubaner und die Tatsache, daß es dort keinerlei Rassentrennung gab, auszulassen. Meine leise Frage nach den dort einsitzenden politischen Gefangenen hatte einen Wutanfall über unsere von der CIA infizierte Presse zur Folge gehabt. Außerdem klärte man mich darüber auf, was für eine Heuchelei es darstellte, daß Kuba von den USA boykottiert wurde, während die Verbindung mit Ländern, in denen Folter an der Tagesordnung war, aufrechterhalten wurde. Ich hakte nach - womit ich den Ruf meiner Mutter aufs Spiel setzte - und schilderte ein paar Einzelheiten über eine Schriftstellerin, die man kürzlich inhaftiert hatte. In den Jahren zuvor war sie unermüdlich als Verkörperung des Kubanischen Geistes gefeiert worden. Immer wieder hatte Castro argumentiert, daß ein repressives System wohl kaum eine Schriftstellerin von Weltrang hervorbringen konnte. Doch dann plötzlich hatte sie die Gunst der Regierung verloren.
»Das ist doch ein typisches Beispiel dafür, wie Tatsachen durch eine voreingenommene Presse verzerrt werden können«, schnaubte eine der Fidelistas. »Als wir unsere kubanischen Gastgeber danach fragten, erklärten sie uns, daß die USA den Kubanern mit einer Kriegserklärung drohten. Angesichts dieser Entwicklung sind einige Dinge, die diese Schriftstellerin getan hat, gleichbedeutend mit Verrat.«
Auf die Kriegsdrohungen gegen Kuba wollte ich nicht weiter eingehen. Also fragte ich: »Was für Dinge?«
»Nun, sie hat sich mit fremden Journalisten unterhalten.« Die Stimme der Frau klang gedämpft vor lauter Mißfallen. »Sie hat Flugblätter verteilt.«
Flugblätter. Jede Frau in dieser Versammlung wäre in ein brennendes Haus zurückgekehrt, um statt der Familienfotos ihren Stapel mit WILPF-Pamphleten zu retten. Meine Mutter stach mir in die Rippen. »Du mußt die ganze Sache im Zusammenhang sehen, Schatz - schließlich ruiniert unsere Regierung ihre ganze Wirtschaft! Es ist nur recht und billig, wenn sie versuchen, das zu verhindern.«
Flugblätter waren mächtige Waffen, na gut: Man brauchte sich ja nur anzusehen, wie die Traktate der WILPF die Republikaner in die Knie gezwungen hatten.
Seit diesem Abend war ich mit Artikeln der alternativen Presse zum Thema Kuba förmlich überschwemmt worden. Die Freundinnen meiner Mutter konnten es einfach nicht ertragen, daß ich subversive Gedanken über dieses Land hegte. Die normale Presse hingegen berichtete genüßlich über den Zusammenbruch der kubanischen Wirtschaft. Seht ihr, sagte sie, der Sozialismus kann eben nicht funktionieren. Daß Castros »letztes Stündlein« nun schon seit sage und schreibe zehn Jahren schlug, schien den meisten entgangen zu sein.
Doch als die WILPF-Veteraninnen heute aus dem Flugzeug stiegen, trug keine von ihnen den für sie typischen, selbstgerechten Gesichtsausdruck zur Schau - kein gutes Zeichen! Sie steckten die Köpfe zusammen und blieben abrupt stehen, als sie mich sahen. Auch kein gutes Zeichen.
»Wir mußten abreisen«, platzte eine von ihnen heraus. »Wegen der Visa und anderer Verpflichtungen und so. Es tut mir so leid.«
Mein erster Gedanke war, daß sie sich dafür entschuldigte, nicht zum Feind übergelaufen zu sein. »Natürlich«, murmelte ich. »Wo ist meine Mutter?«
»Wir wollten auf sie warten, ehrlich.«
Mittlerweile standen sie nah genug, daß ich ihren Gesichtspuder riechen konnte.
»Sie ist dageblieben? Warum? Was tut sie dort?«
Plötzlich war ich von den Frauen umringt, mütterliche Hände tätschelten mir den Rücken.
»Das wissen wir nicht. Gestern abend ist sie allein weggegangen und nicht ins Hotel zurückgekehrt. Heute morgen haben wir an allen möglichen Stellen nach ihr gesucht.«
Sarah Swann, die Ober-Oma, fügte hinzu: »Unsere kubanischen Gastgeber waren untröstlich. Sie werden nichts unversucht lassen, um sie zu finden.«
Eigentlich hätte ich es mir denken können. Meine Mutter war wie eine Kanonenkugel, die man in einer dermaßen kontrollierten Gesellschaft nicht so einfach frei herumfliegen lassen wollte.
»Ich weiß, daß du aus den westlichen Medien ein paar seltsame Ansichten über Kuba aufgeschnappt hast«, fuhr Sarah fort. »Aber, ganz ehrlich, eine offenere Gesellschaft habe ich selten erlebt. Und auf eins kann man sich hundertprozentig verlassen: Die Regierung fährt keine krummen Touren. Dort geht es nicht zu wie in anderen Ländern - Ländern, die unsere eigene Regierung im übrigen unterstützt -, wo Menschen einfach verschwinden.«
Ich setzte mich auf einen der harten Plastikstühle in der Flughafenlounge. Meine Mutter war schon häufig aus meinem Leben »verschwunden«, war verhaftet worden, weil sie Personalakten von Wehrdienstpflichtigen mit Blut beschmiert hatte, weil sie versucht hatte, die Raketenspitzen von Cruise Missiles zu zerstören, weil sie den Zugang zu Kernkraftwerken versperrt hatte und - noch vor kurzem - weil sie Nägel in die Stämme alter Redwood-Bäume getrieben hatte, um den Kettensägen, mit denen die Bäume gefällt werden sollten, den Garaus zu machen. Die Regierung der Vereinigten Staaten war stets bemüht gewesen, sie zu inhaftieren. Und sie hatte stets ebenso beharrlich darauf hingearbeitet, im Gefängnis zu landen. Ich konnte mir nicht vorstellen, warum eine fremde Regierung barmherziger mit ihr umgehen sollte.
Ich blickte zu den besorgten Gesichtern der Frauen hinauf, die meiner Mutter so ähnlich waren: rüstige Seniorinnen mit ungefärbten Haaren und intelligenten Augen. Der Anblick tröstete mich. Genau wie sie glaubte auch meine Mutter an die kubanische Revolution. Sie betrachtete alles, was die Kubaner taten - auch die Inhaftierung von Dissidenten und die Umweltverschmutzung an der Küste - als das bedauernswerte Resultat der US-Politik. Also würde sie sich ihren zivilen Ungehorsam für ihr eigenes Land aufsparen. Eine objektive Sichtweise, die die Berichterstattung und die Politik auf Kuba und den USA gleichermaßen relativierte, lag ihr fern.
»Du hast recht«, sagte ich schließlich. »Ich kann mir keinen Grund denken, warum die kubanische Regierung ihr Schwierigkeiten bereiten sollte.«
»O nein! Es ist so herrlich dort, das kannst du dir gar nicht vorstellen.«
Solange man nicht homosexuell war. Solange man keine Flugblätter verteilte.
Aber meine Mutter hätte diesen Frauen zugestimmt. Zumindest dieses eine Mal hätte sie keinen ideologischen Wind gemacht. Also, wo war sie?
»Die Kriminalitätsrate ist dort sehr, sehr niedrig«, tröstete mich Sarah. »Nur für den Fall, daß du jetzt denkst, daß sie ... überfallen wurde.«
Der Gedanke war mir tatsächlich gekommen.
Andererseits konnte ich mir durchaus vorstellen, daß meine Mutter mit irgendwelchen neuen Freunden durch die Gegend...