Schweitzer Fachinformationen
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Bestimmt kann man sich noch etwas Gräßlicheres vorstellen, als den Silvesterabend in einem völlig überfüllten Zug zu verbringen, während einem langsam eine fremde Hand den Oberschenkel hinaufkriecht. Vielleicht in einem völlig überfüllten Zug, auf den gerade ein Nervengasanschlag verübt wird? Das könnte den wirklichen Tod bedeuten, nicht nur den emotionalen. Ich versuchte, einen kühlen Kopf zu bewahren. Immerhin war es mir beinahe gelungen, mich davon zu überzeugen, daß sich lediglich ein Koffergriff an mich drückte, seit wir Nagano verlassen hatten.
Er hatte sich von hinten an mich herangeschlichen, nachdem eine Gruppe Skifahrer eingestiegen war und das winzige Fleckchen, das ich mir erkämpft hatte, so eng wurde, daß ich nicht einmal mehr die Arme bewegen konnte. Sushi-zume - eingequetscht wie Reisbällchen in einer Lunchbox - machte ich mir langsam Gedanken, was mir wohl noch bevorstehen könnte. Ich hatte schon Geschichten von einem Chemiefreak gehört, der mit einer Flüssigkeit Löcher in Kleider ätzte, einem Kaugummikauer, der einem als Andenken eine dicke Kugel ins Haar klebte, und des öfteren schon soll ein Mann den Ausdruck seiner Freude in der Tiefe einer Manteltasche hinterlassen haben. Doch ich hatte angenommen, diese Trottel trieben nur in den Tokioter U-Bahnen ihr Unwesen und nicht in Fernzügen, die in die japanischen Alpen unterwegs waren.
Die Hand, die am Anfang kaum zu spüren gewesen war, wurde dreister. Ich suchte mit der Ferse, traf auf ein Schienbein, glitt daran entlang nach unten und trat fest auf den darunter befindlichen Fuß, Der Tritt wurde erwidert, und eine Frau schnauzte mich an, ich solle besser aufpassen - ob ich verdammt noch mal nicht wisse, daß dieser Zug überfüllt sei? Ich brummte widerwillig eine Entschuldigung. Die Hand blieb, wo sie war.
Die Dunkelheit draußen verwandelte die Glasscheibe der Zugtür in einen Spiegel. Ich betrachtete mich: klein, japanisch-amerikanisch, und mit einem Bürstenhaarschnitt, der für San Francisco passend, für den japanischen Geschmack aber etwas zu jungenhaft ist. Hätte ich doch nur Zeit gehabt, Jeans anzuziehen statt des Rocks, der irgend jemandem jetzt leichten Zugang gewährte. Ich konzentrierte mich auf die Spiegelungen der drei Männer, die mir am nächsten standen: ein junger Büroangestellter, der in eine Sportzeitung vertieft war, ein alter Opa und ein harter Arbeiterklassen-Typ mit dem unglaublichen Slogan »Milk Pie Club« auf dem Sweatshirt. Die zwei letzteren schienen zu schlafen, aber man konnte ja nie wissen. Ich setzte meine letzte Waffe ein.
»Hentai! Te o dokete yo!« Erst sagte ich es auf japanisch, dann auf englisch - Hände weg, perverses Schwein.
Ich merkte, wie die Hand zögerte und dann verschwand.
»Der Kerl in Schwarz ist es! Nein, nein, du kommst mir nicht davon!«
Ich reckte den Hals und sah, wie eine große, füllige Amerikanerin mit ihrem Regenschirm auf den ungehobelten Kerl einhieb.
»Ich habe nichts getan! Hören Sie auf, bitte!« Die japanische Verteidigung des Mannes tat keinerlei Wirkung auf die ausländische Angreiferin. Die vorher so schläfrigen Passagiere kicherten.
»Das reicht! Wenn Sie weiter auf ihn einschlagen, wird man Sie festnehmen«, warnte ich die Frau, als sich der Mann von uns wegdrängte.
»Ich mußte gar nicht verstehen, was Sie gesagt haben. Mir war sofort klar, was da los ist«, schimpfte die Frau, als sie sich auf einem mittlerweile frei gewordenen Platz niederließ. »Männer sind Schweine. Alle. So etwas müßte bestraft werden.«
Während ich langsam in ihre Richtung vorrückte, nahm ich sie genauer in Augenschein. Das war keine der grauhaarigen Feministinnen in Patchworkjacke und Bauernhose, die Japan so häufig begeistert durch ihre Nickelbrillen betrachten. Meine Retterin trug einen Parka mit Leopardenmuster und purpurrote Reebok-Turnschuhe. Ihre Haare hatten einen Apricot-Ton, den ich noch nie gesehen hatte.
»Wo haben Sie denn so gut Englisch gelernt?« fragte sie.
»In Kalifornien.« Kaukasische Gesichter erröteten gewöhnlich bei dieser Antwort, nicht aber dieses.
»Das sieht man Ihnen gar nicht an.«
Ich überhörte das. Früher hätte ich etwas gesagt, aber nach drei Jahren in Asien war ich zu freundlich geworden. Zu japanisch.
»Fahren Sie nach Shiroyama?« fuhr sie fort. Die Aussprache des Ortsnamens bereitete ihr leichte Schwierigkeiten.
Ich nickte. Ich fuhr in die zweihundertjährige Stadt mit dem alten Kastell, um antike Volkskunst zu suchen und mir eine Pause von der erbarmungslosen Öde meines Lebens im Norden von Tokio zu gönnen. Ich hatte alles sorgfältig geplant und war der Empfehlung meines Chefs gefolgt, in einem minshuku zu wohnen, einer Familienpension. Ich hatte mir eine ausgesucht, die für ihre ländliche Küche und Einrichtung bekannt war. Einfach in die schneebedeckten Berge zu fahren, während ganz Japan den Beginn des neuen Jahres feierte - das wichtigste Fest des Jahres -, war ziemlich exzentrisch. Ich konnte mir gar nicht vorstellen, daß noch jemand dieselbe Idee gehabt hatte.
Die Frau wußte so gut wie nichts über das ländliche Japan, und so erklärte ich ihr ein wenig, was sie in einer japanischen Herberge erwartete. Als wir auf die Mineralienbäder zu sprechen kamen, wurde mir klar, daß sie in derselben Pension gebucht hatte und daß wir gemeinsam ein Taxi nehmen konnten. Mein Solotrip hatte sich erledigt. Bedauernd dachte ich an den japanischen Glauben, nach dem es keine Zufälle gibt, weil alles Teil eines großen kosmischen Plans ist. In Anbetracht der folgenden Ereignisse bin ich geneigt, dem zuzustimmen.
Der erste Blick auf Shiroyama zeigte ein Durcheinander aus altmodischen Läden und Häusern, schneebedeckten Ziegeldächern und Fenstern, in denen einladend goldenes Licht schimmerte. Eine alte Frau im Kimono eilte vorbei; sie hielt ihren Schirm hoch, um sich vor den sanft fallenden Schneeflocken zu schützen. Ich hätte mir Zeit gelassen, hätte ich nicht den Pagen für meine neue Begleiterin gespielt und rasch einem Taxi gewinkt, bevor es am Taxistand angelangt war.
»Denken Sie sich nichts bei dem Vuitton. Es ist eine Fälschung aus Hongkong«, prahlte sie, als ich ihre beiden schweren Koffer in den Kofferraum wuchtete. »Ich habe Ihren Namen nicht verstanden, junge Dame.«
»Rei Shimura«, sagte ich langsam und deutlich, wie ich es aus meiner Kindheit und Jugend in den Vereinigten Staaten gewohnt war.
»Rae mit e oder Ray mit y?«
»Weder noch. Es ist ein japanischer Name, der wie die amerikanischen klingt.«
»Hey, Rei! Das reimt sich. Ich bin Mrs. Chapman. Marcelle«, fügte sie noch hinzu. Trotzdem war es gar keine Frage, daß ich sie Mrs. nennen sollte, ebenso wie es klar war, daß ich ihr die Koffer tragen sollte. Sie schwatzte die ganze Strecke bis zum Minshuku Yogetsu, das, wie sich herausstellte, weit weniger poetisch aussah, als sein Name »Nachtmond« versprach. Ruß und Abgase hatten die verputzte Fassade angegriffen, und durch die dunkelbraunen, geschlossenen Fensterläden wirkte das Haus, als hätte es die Augen vor der Welt geschlossen. Ein Teil des Gartens war in einen Parkplatz umgewandelt worden, auf dem zwei Toyotas standen: der eine war ein rostiger Town-Ace-Transporter, der andere ein eleganter schwarzer Windom. Bei dem hohen Preis, den ich für mein Zimmer gezahlt hatte, konnte ich mir ausrechnen, welcher von beiden den Pensionsbesitzern gehörte.
Mrs. Chapman marschierte an mir vorbei und stieß die Haustür auf. »Huu-huu! Ist da jemand?«
Eine schlanke Frau zwischen vierzig und fünfzig mit strengem Haarschnitt und ebensolchem Gesichtausdruck kam aus einem Nebenzimmer, kniete sich vor uns hin und verneigte sich tief.
»Willkommen. Es war sehr unhöflich von mir, daß ich nicht hier war, um Ihnen die Türe zu öffnen.« Ich erkannte die Stimme von Mrs. Yogetsu, der Wirtin, wieder, bei der ich das Zimmer reserviert hatte. Hinter den höflichen Worten spürte ich den Vorwurf, daß wir einfach hereingeplatzt waren. Als ich mich entschuldigte und ihr von der Verspätung des Zuges erzählte, wurde ihr Gesicht noch verkniffener; sie hatte meinen leichten amerikanischen Akzent herausgehört.
»Sie reisen zusammen? Dann möchten Sie sicherlich nebeneinanderliegende Zimmer?« Es klang nach einem höflichen Angebot, aber nach vielen einschlägigen Erfahrungen wußte ich, was dahintersteckte: Die Ausländer sollen unter sich bleiben, abseits von uns Japanern.
»Das ist nicht nötig, überhaupt nicht nötig.« Ich überschlug mich förmlich. »Ich habe diese Dame erst im Zug kennengelernt.«
Auf ihre Anweisung hin tauschten wir unsere Schuhe gegen Hauspantoffeln, und Mrs. Chapman füllte sorgfältig das Anmeldeformular aus, während ich mich umblickte. Alles war makellos und der Zen-Philosophie entsprechend einfach, an den Wänden hingen nur wenige, ausgesuchte Schriftrollen. Der Boden war mit tatami-Strohmatten ausgelegt, die bis zu einer offenen Feuerstelle reichten, in der ein Feuer mit niedriger blauer Flamme brannte. Darüber hing ein antiker gußeiserner Kessel. Ich schätzte ihn auf spätes neunzehntes Jahrhundert.
Ich war noch stärker beeindruckt, als Mrs. Yogetsu uns an einer schönen tansu-Kommode vorbeiführte, auf der ein leicht asymmetrisches Neujahrsgesteck aus Kiefernzweigen und Pflaumenblüten stand.
»Wie schön. Können Sie Blumen stecken?« Vielleicht konnte ich sie etwas freundlicher stimmen, wenn ich ihr...
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