Schweitzer Fachinformationen
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Sie wand sich durch das Drehkreuz und mischte sich unter die Menge, die auf das Fährboot wartete: die Frauen in Baumwollpyjamas, die Männer mit Filzpantoffeln und Goldzähnen. Das Haar hatte sie zu einem Pferdeschwanz zusammengebunden, und sie trug Jeans, grüne, knapp überknielange Jeans.
Komisch, dachte ich. Ein chinesisches Mädchen in Jeans. Wie sollte man sich das erklären?
Ich beobachtete sie, wie sie einem am Boden hockenden Straßenverkäufer eine Münze in den verbeulten alten Filzhut warf. Der Straßenverkäufer drehte ein Stück Zeitungspapier zu einer Tüte, schüttete Melonenkerne hinein und reichte sie dem Mädchen für seine zehn Cent. Geistesabwesend grub sie die rot bemalten Fingernägel in die Melonenkerne, wandte sich ab und blieb knapp einen Meter vor mir stehen.
Vermutlich die Tochter eines reichen Taipan, dachte ich. Oder eine Studentin. Sie konnte aber auch ein Ladenmädchen sein - so genau weiß man das nie bei den Chinesinnen.
Sie knackte einen Kern zwischen den Zähnen auf, löste ihn aus der Hülse, zerkaute ihn. Neben ihr stand ein alter Mann in einem hochgeschlossenen Chinesenmantel, auf einen Ebenholzstock gestützt, und strich sich seinen weißen schmalen, fußlangen Besenbart. Ein Baby guckte neugierig aus dem Schlingtuch am Rücken einer Frau hervor, seine schwarzen Augen blinkten in kindlicher Selbstgewissheit. Ein junger Mensch mit Hornbrille und einem fadenscheinigen offenen Hemd hielt ein Buch dicht an die Nase. Aufmerksam studierte er ein Diagramm. Das Buch trug den Titel »Aerodynamik«.
Das Mädchen schob einen zweiten Melonenkern zwischen die regelmäßigen weißen Zähne. In diesem Augenblick begegneten ihre Augen den meinen. Da ihr Blick nicht sofort wieder abglitt, sagte ich: »Das möchte ich auch können.«
»Eh?«
»Melonenkerne so aufknacken. Ich hab das nie gelernt.«
»Ich wünsche kein Gespräch.«
Hochmütig wandte sie das Gesicht ab, blickte über die Barriere hinüber, hinter der die Zehn-Cent-Passagiere auf das untere Deck strömten: Kulis in blauen Hosen und zerfetzten Überresten von Hemden, kantonesische Fischerfrauen mit kegelförmigen Strohhüten, in weißleuchtenden Jacken. Sie kaute voll Hingabe.
Ich gab mir Mühe, mich nicht abgewiesen zu fühlen. Nun ja, beim Ansprechen hatte ich mich immer hilflos benommen. Hatte nie die rechte Art.
Dann aber hatte ich den Eindruck, dass sie . tatsächlich, ihre Züge hellten sich auf. Ich bekam einen flüchtigen Seitenblick. Sie überlegte wohl, ob sie mich falsch eingeschätzt hatte.
Jetzt sah sie wieder weg. Noch ein Seitenblick. Dann fragte sie vorsichtig: »Sind Sie Matrose?«
»Ich, ein Matrose? Du lieber Gott, nein.«
Sie schien ein wenig aufzuatmen. »Bestimmt nicht?«
»Keine Spur.«
»Schön, dann können wir reden, wenn Sie wollen.«
»Na, das ist ja großartig«, lachte ich. »Was haben Sie bloß gegen Seeleute?«
»Ich nicht - mein Vater.«
»Ihr Vater hat etwas gegen Matrosen?«
»Ja. Er sagt, die Matrosen sind immer hinter den Mädchen her, richten Unheil an.«
»Und so will er nicht, dass Sie mit Matrosen sprechen?«
»Nein. Er sagt: >Redest du mit einem Matrosen, so kriegst du Hiebe.<«
»Nun ja, vermutlich hat er viel Erfahrung.«
»Ja. Sehr viel.«
Das Fährboot legte an, und die Menge drängte vorwärts. Zusammen schoben wir uns über die Laufplanke, wählten Sitze auf einer der Holzleistenbänke auf dem überdachten Oberdeck: Die Fährboote gehörten Chinesen und wurden von Chinesen betrieben, sie arbeiteten schnell: Wir saßen kaum, da rauschte das Wasser schon auf, der Motor pochte, das Boot geriet in leises Schwanken, und wir glitten davon, an der Kowloon-Lände vorbei, vorbei an Frachtschiffen und zusammengedrängten Dschunken, die vor Anker lagen. Vor uns, auf der Insel jenseits des Kanals, lag Hongkong, in einen kaum ein paar hundert Meter tiefen Küstenstreifen gezwängt, mit seinen Miniaturwolkenkratzern im Zentrum; und zu seinen beiden Seiten erstreckte sich meilenweit die Küste, vor der Sampans und Dschunken verankert lagen; dahinter erhob sich steil der Abhang des Peak, der das Volk und die niederen sozialen Ränge allmählich abschüttelte, bis auf den hochgelegenen Terrassen nur mehr ein Gesprenkel weißer Bungalows und Luxusvillen der Elite übrig blieb.
Wir umfuhren die Spitze der Kowloon-Halbinsel, hielten schräg über den Kanal auf Wanchai, den bevölkerungsreichsten Distrikt an der Ostseite von Hongkong, zu. Ich wandte meinen Blick nach dem Mädchen an meiner Seite. Das Gesicht war rundlich und glatt, die Augen bildeten lange schwarze Ellipsen; die Brauen waren so vollendet in ihrer Bogenform, dass sie gezeichnet wirkten - in der Tat waren sie nur flüchtig nachgezogen. Die breiten Backenknochen deuteten auf mongolische Herkunft.
»Sie sind aus dem Norden?«, fragte ich.
»Ja. Shanghai.«
»Aber jetzt leben Sie in Hongkong?«
»North Point.«
»Gute Gegend.« Das erklärte, wieso sie auf dieses Fährboot kam, denn North Point lag hinter Wanchai, ein luxuriöser Vorort gleich hinter den Slums, und der Pier von Wanchai lag North Point am nächsten.
»Schon, aber mir ist Repulse Bay lieber. Das Haus dort ist hübscher.«
»Wollen Sie damit sagen, dass Sie zwei Häuser haben?«
»Vier.«
»Vier?« Ich wusste, dass diese chinesischen Taipans, neben denen die reichsten Europäer wie Bettler wirkten, oft zwei oder drei Wohnhäuser hatten, aber vier waren doch ein Rekord. »Alle in Hongkong?«
»Ja, in Hongkong. Mein Vater ist sehr reich, verstehen Sie.« Sie sah selbstgefällig drein, prahlte in kindlicher Naivität.
»Nun ja, das sehe ich wohl. Und wo sind die anderen beiden Häuser?«
Sie zählte an ihren Fingern, kam auf den dritten: »Nummer drei, Conduit Road. Nummer vier, Peak. Nummer fünf .«
»Doch nicht fünf!«
»Doch, das hätte ich beinahe vergessen, Nummer fünf: Happy Valley. Aber das ist nur sehr klein, verstehen Sie - bloß zehn Zimmer.«
»Aha, kaum der Rede wert.« Ich lachte. »Und wie viele Wagen haben Sie?« Diese Chinesen sammelten Wagen noch eifriger als Häuser.
»Wagen? Lassen Sie mich nachdenken.« Sie zog die Brauen hoch, begann wieder, an den Fingern zu zählen, gab es kichernd auf. »Oh, ich hab vergessen, wie viele Wagen.«
»Ich nehme an, Sie haben doch wohl einen eigenen?«
»Nein, ich bin zu unsicher, um selbst zu fahren. Zu scheu. Aber vor Straßenbahnen hab ich keine Scheu, sehen Sie - mit der Straßenbahn fahre ich gern.« Sie hielt mir die Zeitungspapiertüte mit den Melonenkernen hin. »Möchten Sie einen?«
»Ja, aber ich bringe sie nicht auf. Sie müssten es mich lehren.«
»Versuchen Sie es erst.«
Ich probierte ein paar Kerne, aber sie zerbrachen zwischen meinen Zähnen, wurden hoffnungslos zerquetscht. Meine Ungeschicklichkeit brachte das Mädchen zum Lachen. Sie verbarg das Gesicht hinter der Hand, ihr Pferdeschwanz hüpfte und tanzte, dann beruhigte sie sich wieder, immer noch kichernd, und führte mir vor, wie man es machen musste. Sie knackte einen Kern am Rand auf, schob die Hülse zurück, reichte mir den unbeschädigten Kern.
»Habs genauso gemacht«, sagte ich. »Der Ihre war eben leichter zu knacken.«
»Nein, die sind alle gleich.«
»Dann gebe ichs auf. Wie heißen Sie?«
»Wong Mee-ling.«
»Mee-ling - das ist bezaubernd.«
»Und Sie?«
»Robert Lomax - oder Lomax Robert, wie man hier sagt.«
»Lobert.«
»Nein, Robert mit R.«
»Robert. Und wo wohnen Sie?«
»Nun ja, augenblicklich .«
»Auf dem Peak?«
»Ja . so halbwegs. In einem Boardinghouse. Sunset Lodge.« Das war annähernd wahr - bis vor ein paar Tagen hatte ich in Sunset Lodge gewohnt, dann war ich nach Wanchai gezogen. Vom Nam Kok konnte ich nicht gut sprechen . zumindest nicht, bevor ich sie besser kannte.
»Sie arbeiten bei der Regierung? In einer Bank?«
»Weder noch. Ich war Gummipflanzer, habs aber vor ein paar Monaten aufgegeben, um mich ganz der Malerei zu widmen.«
»Malerei?«
»Bilder.« Schon tastete ich nach meinem Skizzenbuch, um es ihr zu zeigen, dann aber fiel mir ein, dass es Skizzen aus dem Nam Kok waren. Lieber nicht.
»Ich verstehe - Künstler.«
»Nun, so möchte ich mich wohl nicht nennen.« Und da alles so gut vorwärts ging, fragte ich sie, ob ich sie zum Dinner einladen dürfe; doch sie lehnte glatt ab.
»Dann wenigstens zum Lunch?«
»Nein.« So energisch schüttelte sie den Kopf, dass der Pferdeschwanz hüpfte.
»Aber ich würde Sie gern wieder sehen, Mee-ling. Können wir uns nicht einmal treffen?«
»Nein.«
»Aber...
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