Kapitel 1
Es war wirklich nicht zu fassen. Hatte sich Fortuna gegen sie verschworen? Olivia blinzelte gegen die Tränen an, die ihr der scharfe Nordwind zusammen mit ein paar vereinzelten Schneeflocken in die Augen trieb. Vermutlich hatte sie in ihrem früheren Leben einfach zu viel mieses Karma gesammelt.
Nachdem sie heute früh in Boston den Morgenzug gerade noch auf den allerletzten Drücker erwischt hatte, war sie vorhin beim Aussteigen äußerst unelegant auf den Bahnsteig gesegelt, weil sie die letzte Treppenstufe verfehlt hatte. Was für eine eindrucksvolle Landung, Miss Sullivan, dachte sie in einem Anflug von Sarkasmus, nachdem sie Bekanntschaft mit dem frostigen Boden schloss. Zwei pickelgesichtige Jugendliche hatten ihr großzügig unter die Schultern gegriffen und aufgeholfen. Eine frische rote Schramme an ihrer rechten Hand und ein schmerzendes Knie erinnerten an den wenig rühmlichen Auftritt. Nicht gerade der beste Start für ihr freies Wochenende.
Nun stand sie hier, einsam und verlassen auf dem Bahnsteig von Pepper Valley, Vermont, und wartete auf jemanden, der sie anscheinend vergessen hatte. Ihre Füße mutierten langsam, aber sicher zu einem verdammten Eisblock. Wo zum Teufel blieb der Mann, den sie hier treffen sollte? Mit Claire, ihrer Freundin und Partnerin von Weddingbells & Dreams, hatte sie vereinbart, dass Claires Bruder Aidan sie abholen würde, um sie zur Berghütte nach Cradle Mountain zu bringen. Weil die Bergstraßen vereisten, würde im Winter oftmals der Busverkehr eingestellt, hatte Claire gewarnt. Aidan, der in Pepper Valley das familieneigene Hotel, das Rockwood Inn, leitete, könne Liv jedoch mit seinem Land Rover hinaufbringen. Liv nahm Claires nettes Angebot dankend an, und Claire versprach, alles zu regeln. Jetzt fragte sie sich, ob sie nicht einen Fehler gemacht hatte. Vielleicht hätte sie die blöde Hütte erst gar nicht buchen und sich vor allen Dingen nicht auf jemanden verlassen sollen, den sie lediglich aus Erzählungen kannte. Auch wenn es sich um Claires Bruder handelte.
Zum gefühlten hundertsten Mal ließ sie ihren Blick über den einsamen Bahnsteig und das dazugehörige Backsteingebäude schweifen. Langsam spürte sie einen Hauch von leichter Panik aufsteigen. Versetzte Aidan sie? Und was, wenn ja? Wo sollte sie hin, was sollte sie tun? Weit und breit war niemand zu sehen, der auch nur ansatzweise dem Mann entsprach, den Claire ihr in lebhaften Farben geschildert hatte. Die Gute musste sowieso maßlos übertrieben haben, denn so ein Mann existierte nur in Frauenfantasien, dachte Liv kopfschüttelnd. Zu dumm, dass sie auch Claire bisher nicht erreichen konnte. Immer ging nur die Mailbox dran, wenn sie anrief.
Sie stieß einen frustrierten Seufzer aus. Kälte kroch in ihren Ärmel, als sie ihn ein Stückchen hochschob, um einen Blick auf ihre Armbanduhr zu werfen. Seit einer geschlagenen Dreiviertelstunde schlug sie hier Wurzeln. Sie bezweifelte, dass Claires geschätzter Bruder überhaupt noch auftauchen würde. Jetzt war guter Rat teuer. Als sich etwas Feuchtes in ihren Wimpern verfing, blickte sie in den bleigrauen Himmel. Na toll, es fing so richtig an, zu schneien. Das sich rapide verschlechternde Wetter entsprach ganz ihrer Laune. Auch wenn Pepper Valley, ein typisches Bergstädtchen mit seinen schmucken bunten Holzhäusern, im Sonnenschein bestimmt ein malerischer Ort sein musste, verfluchte Liv es in diesem Moment. Wäre sie doch nur in ihrem schnuckligen Apartment in der Bostoner Innenstadt geblieben. Dort würde sie sich wenigstens nicht den Allerwertesten abfrieren, sondern mit einer heißen Schokolade auf die Couch gekuschelt ihre Lieblingsserie im Fernsehen schauen. Aber sie hatte ja unbedingt ihr gemütliches Nest verlassen müssen, um das Wochenende auf irgendeiner bescheuerten Berghütte mitten in der Wildnis zu verbringen. Nach allem, was passiert war, sehnte sie sich danach, mal rauszukommen, alles hinter sich zu lassen und durchzuatmen. Claire hatte ihr eine Suite im Rockwood Inn vorgeschlagen, die Liv zum Sonderpreis bekommen könnte. Liv aber sehnte sich nach Einsamkeit und Abgeschiedenheit, nicht nach dem luxuriösen Komfort eines Fünfsterneresorts. Als Claire daraufhin die ebenfalls familieneigene Berghütte auf Cradle Mountain erwähnte, war Liv sofort Feuer und Flamme. Ehe sie sich versah, organisierte ihre Freundin alles Nötige. Liv hatte sich so auf die Hütte gefreut. Sie hatte sich schon in ein kuschliges Plaid gehüllt und mit einem Teebecher in der Hand vor einem knisternden Kaminfeuer gesehen. Jenseits des Fensters würden dicke weiße Flocken fallen und die Landschaft in ein frostig glitzerndes Kleid hüllen. Bilderbuchromantik pur. So ein Mist! Was sollte sie tun? Die knapp vier Stunden Bahnfahrt hatten an ihren Nerven gezerrt. Im Zug hatte sie zuerst einen dreisten Rucksacktouristen von ihrem reservierten Platz verscheuchen müssen, was sich angesichts der überfordert wirkenden Mutter mit dem schreienden Kleinkind auf dem Schoß gegenüber als geringeres Übel dargestellt hatte. Noch Stunden später klang die quengelnde Kinderstimme in ihren Ohren nach. Sie sehnte sich nach einem ruhigen, warmen Plätzchen, wo sie die Füße hochlegen und einen schönen heißen Tee trinken konnte. Zwar hatte Claire ihr einen Schlüssel für die Hütte in die Hand gedrückt, doch wie in aller Welt sollte sie nach Cradle Mountain gelangen? Leider hatte sie nicht daran gedacht, sich Aidans Handynummer geben zu lassen. Zu blöd. Vielleicht könnte sie sich ein Taxi bestellen? Nochmals seufzte sie tief, als ihr Blick auf das blinkende Neonschild eines Pubs fiel: Ye Olde Elk - Der alte Elch. Dort würde sie bestimmt einen Tee bekommen. Entschlossen griff sie nach ihrem Trolley. Unter den fellbesetzten UGGs, die sie sich zum Weihnachtsfest geschenkt hatte, knirschte der Schnee, als sie mit ihrem Gepäck im Schlepptau die Straße überquerte. Die kleinen Rollen des Trolleys schlitterten über die teilweise vereiste Fahrbahn. Anscheinend hielt man in Pepper Valley nicht allzu viel davon, die Straßen ordentlich zu räumen. Was für ein Kaff! Mit einem Ächzen hievte sie den Trolley über die Gehwegkante.
Kurz darauf stieß sie die schwere Pubtür auf. Warme Kneipenluft wehte ihr entgegen, ebenso wie die Klänge von Kris Kristoffersons Loving her was easier, vermischt mit Gesprächsfetzen und Gläserklirren. Etwas zögerlich näherte sie sich der rustikalen Holztheke.
»Na Liebchen, was darf's denn sein?«
Ihr Blick traf ein aufmerksames Augenpaar, das sie aus einem zerfurchten Männergesicht freundlich betrachtete. Sie grüßte den Alten. »Ich hätte gern ein Glas Zitronentee. Und sagen Sie bitte, gibt es von hier aus irgendeine Möglichkeit, hoch nach Cradle Mountain zu gelangen?«
»Nach Cradle Mountain?« Der Wirt schüttelte bedauernd den grauen Kopf, während er aus dem Regal hinter sich einen bunten Keramikbecher organisierte. »Einen Zitronentee mache ich Ihnen gern, junge Lady, aber der Bus nach Cradle Mountain ist vor Jahren schon eingestellt worden. Seit es das schreckliche Unglück gab, fährt da kein Bus mehr, tut mir leid. Und einen Taxifahrer werden Sie auch kaum dazu bewegen können. Ist tückisch, die Straße da hoch.«
Liv ließ den Griff ihres Trolleys los und sank auf einen der Barhocker. Fast hätte sie ein verzweifeltes Lachen ausgestoßen. Das hier fühlte sich verdammt nach Murphys Gesetz an, oder? Fragend sah sie den freundlichen Alten an, doch der zuckte bedauernd mit den Achseln.
»Ich bin übrigens Dan. Wenn ich dir behilflich sein soll, bei der Beschaffung einer Unterkunft hier in Pepper Valley, Liebchen, sag nur Bescheid. Einer alten Freundin von mir gehört das Mountain View Inn, is 'ne nette kleine Pension.«
»Danke, Dan. Ich überleg's mir.«
Während Dan mit dem Becher in die Küche schlurfte, schälte sich Liv aus ihrer Daunenjacke und fischte das Smartphone aus der Handtasche. Diesmal hatte sie Glück. Claire meldete sich sofort. »Claire«, unterbrach Liv die enthusiastische Begrüßung ihrer Freundin. »Wo zum Teufel bleibt dein Bruder? Warum ist Aidan nicht wie versprochen aufgetaucht?«
»Was meinst du damit, er ist nicht aufgetaucht?«
Noch bevor Liv eine Erklärung abgeben konnte, veranlasste sie ein Schwall kalter Luft, der auf einmal durch den Raum wehte, sich umzudrehen. Ihre Hand mit dem Smartphone sank in ihren Schoß, und mit einem Mal waren sämtliche Schmerzen vergessen. In der offenen Tür stand vermutlich der attraktivste Mann, der ihr je unter die Augen gekommen war. Sie hatte immer Gavin für ein überdurchschnittlich gut aussehendes Exemplar seiner Gattung gehalten, doch dieser Mann hier stellte alle männlichen Wesen in den Schatten. Er war groß und wirkte athletisch in seinem dunklen Jack Wolfskin-Parka, der die breiten Schultern betonte. Seine langen, jeansbekleideten Beine endeten in schmucken Designerboots. Mit blitzend blauen Augen, die einen reizvollen Kontrast zu seinem tiefbraunen Haar darstellten, scannte er den Raum. Sein Haar könnte einen Schnitt vertragen. Es lockte sich im Nacken und eine widerspenstige Strähne fiel ihm in die Stirn. Liv bemerkte die Ähnlichkeit zu Claire. Ihre...