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Alle glücklichen Familien gleichen einander, jede unglückliche Familie ist auf ihre eigene Weise unglücklich, heißt es am Anfang eines russischen Romans; das gilt auch für die Familie von Theodor Lessing. Dem Elternhaus entrinnt man nicht, und wenn man sich auf den Kopf stellt. Von dort aus zeigt sich die Welt als verkehrtes Bild. Und wenn in der Familie Lessing alles verkehrt läuft, wäre der Rat, auf dem Kopf stehenzubleiben, nicht der schlechteste. Denn es könnten durch eine verrückte Sicht die auf dem Kopf stehenden Verhältnisse wieder ins rechte Lot kommen - in der Vorstellung wenigstens.
Alle Nüchternheiten eines Geburtsregisters hinter sich lassend faßt ein der Kindheit halbwegs Entronnener sein plötzliches Erscheinen in ein mythisches Bild: »Ich bin auf dem Boulevard Hannovers, der Georgstraße geboren. Mitten aus dem Gehirn hannoverscher Kultur, so wie Pallas Athene aus dem Haupte des Zeus entsprang. In dem gotischen Backsteinhause bin ich geboren, dem roten Hause, an der Ecke Andreaestraße, hinter dem hohen Eckfenster im zweiten Stock, von wo man grade aufs Hoftheater, auf den hübschen Kristall- und Eisenbau des Café Kröpcke (damals Café Robby) und über den grünen Georgenwall sehen kann.«[1] Um 1872 war Hannover mit mehr als hunderttausend Einwohnern zwar zur Großstadt geworden, aber für weltoffene Bürgerlichkeit blieb kein Platz in der sich industrialisierenden ehemaligen Welfenstadt. Polierte Fassaden verwiesen auf bürgerliches Selbstbehagen in einer wohlanständigen Stadt: »Es gibt nur eine Stadt, wo man weiß, was Reinlichkeit ist, das ist Hannover.«[2] Ebenso reinlich und gediegen waren auch die »hübschen Familien« Hannovers, die eine reputierliche Stellung ihr eigen nennen durften und allsonntags ihre Sprößlinge am Kragen packten und mit ihnen ins Grüne oder zum »Schorsenbummel«, auf die Georgstraße, zogen. »Reden wir von Hannover - das wird genügend harmlos sein«,[3] schreibt der junge Theodor Lessing, doch sein Leben wird zeigen: Dieser zufällige Ort seiner Geburt und die Konstellationen der deutschen Geschichte waren alles andere, harmlos nicht.
Als am 8. Februar 1872 um zehn Uhr morgens Theodor Lessing in Hannover geboren wird,[4] war der Haß des Vaters auf den unerbetenen Sohn schon lange da.[5] Früh erfährt das Kind die Widersetzlichkeit des Wirklichen. Theodor Lessings Vater Sigmund, am 16. April 1838 als Sohn eines jüdischen Bankiers geboren, war erfolgreicher Modearzt und Lebemann. Er hatte durch seine Heirat den gewohnten aufwendigen Lebensstil beibehalten können, doch seine Frau liebte er nicht. Adele Ahrweiler, am 5. März 1848 als Tochter eines Düsseldorfer Bankiers geboren, brachte Geld in die Ehe, aber nicht die Schönheit der äußeren Erscheinung. Am Abend der Hochzeit ihrer hübschen Schwester unterbreitete Sigmund Lessing seinem angehenden Schwiegervater den ernstgemeinten Vorschlag, ihm doch die gefälligere jüngere Tochter zu überlassen. Als dieser Tauschhandel abgelehnt wurde und zu allem Unglück Adele auch noch schwanger geworden war, fügte sich Dr. med. Sigmund Lessing ins selbstverordnete Schicksal. Der größte Teil der Hochzeitsgaben war bereits verpulvert und Lessings Schuldenberg beträchtlich angewachsen.
Das noch ungeborene Kind konnte von diesem Vater kaum mehr als verächtliche Gefühle erhoffen, stets erinnerte es an den Pakt von Egozentrik und Geld, an die Verfehlungen des Vaters. Und wenn das Ehepaar Lessing in den vollgestopften Wohnräumen der Gründerzeit sich nach allen Regeln familiärer Kriegskunst befehdete, dann traf häufig den Sohn die Schuld an den kleinlichen Streitereien. Daß Sigmund Lessing den Haushund »Ahrweiler« rief, mit dem Taufnamen seiner Frau, sagt einiges über die Umgangsformen in dieser Familie, in der »Theo« das schwarze Schaf zu spielen hatte. Der herrschsüchtige, unberechenbare Vater und die kapriziöse, dem tyrannischen Gemahl dennoch ergebene Mutter stießen den Heranwachsenden ab, keiner der beiden war ihm Stütze und Halt, und so mußte das Kind sich anderswo Nestwärme suchen.
Träumend erobert das Kind sein erstes Stück wirkliche Welt: In den Gärten Herrenhausens kriecht und tappst, stolpert und stürzt »Tete« (wie ihn die 1873 geborene kleine Schwester Sophie nennt) lebensgläubig umher. Schnuppert an Blumenkelchen, spielt mit den Schnecken, tollt mit seinem Spitz Pollo; er schaut hinauf zu den am Himmel flockenden Wolken, erfreut sich an ihren »Farben und zackigen Schlünde[n]«;[6] taucht wieder hinab, sieht eine Moosrose: Der Geruchssinn knüpft in der Erinnerung viele Bande mit lange entschwundenen Düften, das Tasten an geliebten Dingen hinterläßt unvergeßbare Ein-Drücke. Das Geringfügigste wird auf einmal zum Einkehrpunkt des Verlorenen, das im Inneren nur darauf wartet, wiedergefunden zu werden. Surrende Käfer, im Sonnenglast tanzende Mücken, die vielen Begleiter seiner Kindheit und Jugend: die Hunde, Katzen, Pferde, Vögel, Mäuse und Kaninchen, die Tiere im zoologischen Garten ersetzen dem tief verängstigten Kind die fehlende Wärme seiner Eltern. Diese Geschöpfe schenken ihm Vertrauen in die Welt. Neben den Tieren sind es die elementaren Mächte: Luft, Wasser, Licht, die den verstörten, bald auch von schulischer Dressur geplagten Jungen über den »Abgrund der Jugend«[7] hinwegtragen. Träume durchziehen seine Kindheit, im Traum- und Gedankenspiel flüchtet der Knabe aus der sinnlosen Kälte der Erwachsenenwelt; der Raum der hannoverschen Landschaft wurde zur Sphäre freundlicher Geborgenheit. In den Wiesen, Äckern und Feldern, den gepflegten Parkanlagen und wildblühenden Wegen findet er sein Zuhause, Heimat und Lebenssinn.
»Von drei Seiten wuchs der Wald bis in die Gassen der Stadt.« Doch die industrielle Ära der Gründer verschonte auch Hannover nicht. Die »sauberfeine, wenn auch nüchterne Kleinstadt voll bürgerlicher Tüchtigkeit«[8] zerfiel im »Zeitalter der Verlogenheit zwischen 1870 und 1890«, als »Werkschaft und Wirtschaft in kohlenüberdüsterten Riesenstädten«[9] auch Lessings Heimatstadt zu prägen begannen. Handel und Industrie, die kapitalistische Allianz von Eisen, Kohle und Stahl zerstörten große Teile der niedersächsischen Landschaft. »Nun wehte über allen deutschen Wäldern die Triumphflagge der neuen Zeit: der Rauch aus den Schloten der industriellen Gründer. Deutschland wurde Markt und Fabrik.«[10] Hohe Reparationsgelder des 1870 von der preußischen Armee besiegten Nachbarn Frankreich begünstigten die prosperierende Konjunktur, weiteres Kapital floß aus der ein Jahr später eingeleiteten Währungsreform. Der hannoversche Baron Strousberg konnte ohne Mühe für seine gigantischen Eisenbahnprojekte die dazu nötigen Mittel auftreiben. Wenn es mit diesem Strousberg so weitergehe, bemerkte Friedrich Engels 1869, dann werde er demnächst noch deutscher Kaiser.[11] Dem industriellen Boom folgte ein solider Finanzkrach, »akkompagniert« von Katzenjammer, ebenso laut wie die vorausgegangenen dicken Töne der Emporkömmlinge. Die »Kurszettelzeit«[12] hinterließ unübersehbare Spuren.
Das Finanzkapital arrangierte sich rasch mit den seit 1866 in dem ehemaligen Königreich Hannover regierenden Preußen. Viele Hannoveraner trauerten ihrem verjagten Welfenkönig nach und dachten voll verklärender Sentimentalität an die Zeit gelb-weißer Glorie zurück. Das Kind der Familie Lessing aber malte sich schwärmerisch aus, dereinst mit Bismarck zum Zweikampf, Auge in Auge, anzutreten, weil der »unserm Könige die Pferde, die Springbrunnen, die Gärten von Herrenhausen fortgenommen habe, das Gewächshaus, das Schloß mit den blauen Jalousien und alle die mir vertrauten Herrlichkeiten«.[13] Das Ideal, selbst König von Hannover zu werden, ergab sich für einen Siebenjährigen damals wohl wie von selbst, und wenn die Welt ein Königreich mit Hannover im Mittelpunkt geworden wäre, so glaubte der kühne Reichseiniger, seien alle politischen Fragen gelöst.[14]
Gegen die Machtkämpfe im Haushalt seiner Eltern schützte er sich mit einer Verstellungskunst, wie sie nur Kinder beherrschen. Und erkennt in der Lüge die erste Form der Wahrheit. Die frühkindlich erlittenen Schrecken begründen sein Mißtrauen in die wirkliche Welt, in Familie und Schule; ein Mißtrauen, das er zeitlebens behalten wird; vorerst erduldet er das, aber später legt er es aus als groteske Mischung aus Tragödie und Komödie. Er flüchtet in die Welt der Bücher und füllt viele kleine schwarze Schreibkladden mit Versen und Reflexionen, sein Heilmittel gegen die Widersinnigkeiten im Spiegelkabinett der Edukation, in dem egomanische Ich-Naturen ihr Unwesen treiben. Die männernden Schulmeister des deutschen Kaiserreichs predigten den ihnen ausgelieferten Kindern Humanismus und dachten dabei an die Großmacht des Staates. Als Abgesandte der kaiserlichen Autorität hoben sie das Kriegerische in der deutschen Geschichte hervor; Treitschke war in aller Munde. Die idealistische Klassik, zurechtgestutzt auf markige Formelschätze, feierte Triumphe in den Klassenzimmern. Und wenn es Lehrer gab, die in der Uniform eines Leutnants vor ihre Klasse traten und die Kriege Julius Cäsars »auf deutsche Art« ein weiteres Mal gewannen,[15] wen wundert es da, daß alle deutschen Reichskanzler uniformiert vor dem verächtlich gemachten Parlament, dieser »Schwatzbude« des Reiches, ihre autoritätsheischenden Auftritte unwidersprochen in Szene setzen...
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