Schweitzer Fachinformationen
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- Ein Fest -
Der Mann, der ihm unter dem Vordach der Tankstelle zulächelte, zeigte sein lückenhaftes Gebiss wie eine alte Frau, die kokett den Rock hebt. Der Alte tat nichts weiter, als zu lächeln und zu nicken. Er saß im Schatten, denn die Sonne brannte gnadenlos auf die Erde rings um die Tankstelle, den Asphalt und das Dach ihres Wagens, der an der Zapfsäule parkte. Jacobo erwiderte sein Lächeln und sein Kopfnicken, während er dachte, dass ein außenstehender Betrachter sie für zwei Idioten halten musste, die lächelten und nickten, lächelten und nickten.
Als Irene zurückkam, stieß sie eine Rauchwolke aus. Sie war hinter die Tankstelle gegangen, um eine Zigarette zu rauchen.
»Hast du bezahlt?«, fragte Jacobo.
»Für zwanzig Euro, das reicht«, sagte sie. »Wie weit ist es noch?«
»Sechzig Kilometer vielleicht.«
Irene sah zum Auto und ging dann zum Tankstellenshop.
»Wir besorgen noch was für Miriam.«
Jacobo folgte ihr nach drinnen. Durch die Glasscheibe sah er, dass der alte Mann aufgestanden war und jetzt am Rückfenster ihres Autos lehnte. Sprach er mit Miriam?
Was machte der Kerl da, fragte er sich, während Irene das Regal mit den Schokoriegeln ansteuerte. Er wollte gerade rausgehen, um dem Alten zu sagen, dass er ihre Tochter in Ruhe lassen sollte, als der Mann davonschlurfte. Irene bemerkte Jacobos besorgtes Gesicht. Um sie zu beruhigen, scherzte er: »Deine Tochter scheint ihn in die Flucht geschlagen zu haben.«
Irenes Handy summte.
»Sie sitzen auf dem Dorfplatz vor dem Diamond«, sagte sie, nachdem sie die Nachricht gelesen hatte. »Mein Bruder hat die Schlüssel.«
»Diamond, die hochkarätige unter den Kneipen«, versuchte Jacobo zu scherzen, aber er wurde das beunruhigende Gefühl nicht los, das dieser Alte in ihm auslöste. Mit müden Schritten schlurfte der Mann durch die sengende Sonne am Straßenrand entlang, ohne Ziel.
»Reiß dich zusammen, wenn wir da sind«, bat ihn Irene, während sie sich für ein Twix entschied. »Keine Scherze über das Dorf.«
Miriam hob nicht mal den Blick vom Handy, als ihre Mutter ihr den Schokoriegel zuwarf. Das Twix fiel in ihren Schoß.
»Wie wär's mit einem Danke?«, sagte Irene vorwurfsvoll, während sie sich anschnallte.
»Ein Twix, Mama . wow, der Wahnsinn. Wovon hast du das überhaupt gekauft? Ich trau mich ja kaum, es aufzuessen.«
Jacobo startete den Wagen in der Hoffnung, dass Miriams sarkastische Bemerkung im Motorengeräusch unterging.
»Mäuschen, wir sind seit Stunden unterwegs. Willst du wirklich, dass wir uns streiten?« Irene lehnte sich in ihrem Sitz zurück und stellte das Radio an. Jacobo war dankbar, dass seine Frau dem Streit aus dem Weg ging.
Er rollte vom Parkplatz der Tankstelle und fuhr die Ausfahrt entlang. Als er auf Höhe des alten Mannes war, ging er vom Gas. Der Alte hob den Kopf und grüßte, wobei er wieder seine lückenhaften Zähne bleckte. Dabei beschirmte er die Augen mit den Händen, um nicht von der Sonne geblendet zu werden.
»Was hat der Mann zu dir gesagt?«, fragte Jacobo seine Tochter.
»Nichts«, erwiderte Miriam. »Er hat sich an die Scheibe gestellt und geschaut . Habt ihr die Kindersicherung reingemacht?«
Jacobo beschleunigte und bog auf die Straße ein, die sich in den kahlen, zerklüfteten Bergen verlor. Der Alte wurde im Rückspiegel kleiner, bis er schließlich nicht mehr zu sehen war.
Jacobo versuchte den alten Mann zu vergessen und sich vorzustellen, dass sie einfach eine Familie waren, die auf einer Landstraße in Richtung Süden fuhr. Er wusste, dass er sich etwas vormachte. In Wirklichkeit stürzten sie in einen Abgrund. Er betrachtete seine beiden Frauen - vor ein paar Jahren hatte er begonnen, sie so zu nennen -, und ihre ausdruckslosen Gesichter erinnerten ihn an einen verwahrlosten Garten, in dem die Blumen verwelkten.
Der Asphalt zog sich durch die Einöde wie eine Feuerschneise. Tabernas lag weiter im Süden, aber sie machten einen Umweg über Portocarrero. Mauersegler zogen ihre Kreise am Himmel.
Irene klappte die Sichtblende runter, das Schminktäschchen auf den Oberschenkeln. Sie tupfte sich den Schweiß ab und band die Haare zum Pferdeschwanz, bevor sie Puder auflegte. Ihre grauen Augen musterten aufmerksam jeden Zentimeter ihres Gesichts, während sie versuchte, die Erschöpfung der Reise zu überschminken. Die Erschöpfung dieses letzten Jahres.
Sie waren früh losgefahren. Miriam hatte während der sieben Stunden Fahrt kaum ein Wort gesagt. Sie kauerte auf der Rückbank, die nackten Füße auf dem Sitz, den Kopf übers Handy gesenkt, Kopfhörer auf den Ohren. Nur das gelegentliche Wummern der Musik, die sie hörte, erinnerte daran, dass sie überhaupt da war. Jacobo tat seine Tochter leid, wenn er an die Chats mit ihren Schulfreundinnen dachte, die ihr mit der Zeit immer fremder werden würden. »Miriam hat die Gruppe verlassen«, würde da eines Tages stehen.
»Sie haben mich gefeuert«, hatte Jacobo beim Nachhausekommen gesagt, nachdem man ihm die Kündigung ausgesprochen hatte.
Irene hatte ihn beruhigt und sich dann erkundigt, wie hoch die Abfindung war. Miriam hatte im Wohnzimmer mit ihren Puppen gespielt. Sie konnte sich stundenlang mit ihnen beschäftigen, sie zog sie an und aus, wechselte die Köpfe und sprach mit verstellter Stimme, aber nur ein paar Tage später lagen die Puppen vergessen in einer Ecke. Halb nackt, wie kleine Monster, die blonden Haare völlig zerzaust. Als Jacobo eines Morgens in Miriams Zimmer ging, um ihr zu sagen, dass sie das Bett machen sollte, stellte er fest, dass die Puppen nicht mehr da waren. Sie waren verschwunden.
Unbezahlte Rechnungen, Arbeitslosengeld, das früher gestrichen wurde als erwartet, das Haus im Grünen, das sie nicht mehr lange würden halten können. Wie schnell ging alles den Bach runter, was er für ewig gehalten hatte! Als Miriam geboren worden war, hatte Irene aufgehört zu arbeiten, obwohl er nie einen unbefristeten Arbeitsvertrag gehabt hatte. Wo sollte er in seinem Alter jetzt einen Job finden? Er schrieb Bewerbungen, kramte das alte Diplom hervor, die Berufserfahrung bei der Europäischen Eisenbahnagentur. Rief Leute an, die er für Freunde hielt.
Es war nicht einfach, zu erkennen, wie leicht die Welt auf ihn verzichten konnte. Die Kinder gingen weiter zur Schule, die Menschen saßen beim Kaffee zusammen und plauderten, jemand leerte abends die Mülltonnen. Die Welt drehte sich weiter, aber er war nicht mehr dabei.
Miriam weinte, als sie ihr mitteilten, dass sie umziehen würden. Sie versuchten es ihr so zu vermitteln, als ob es ihre Entscheidung wäre, aber in Wirklichkeit hatten sie keine andere Wahl. Vor drei Jahren war Irenes Mutter gestorben, ihr Haus auf dem Dorf stand leer. Sie hatten überlegt, es zu verkaufen, aber der Immobilienmarkt war zusammengebrochen. Kein Käufer interessierte sich für ein heruntergekommenes Landhaus. Eines Abends schloss sich Irene im Schlafzimmer ein und telefonierte über eine Stunde mit ihrem Bruder. Dann teilte sie Jacobo mit rotgeweinten Augen mit, dass Alberto einverstanden war. Sie konnten in ihr Elternhaus ziehen, bis sie eine andere Lösung gefunden hatten.
Aber es fand sich keine Lösung. Ihr Leben lag in Trümmern, und alles, was sie tun konnten, war, einen Schlussstrich zu ziehen und alles Gewesene zu vergessen. Jacobo verhandelte mit den Banken, um den Hauskredit abzulösen. Sie versuchten alles zu verkaufen, was irgendetwas wert war: die Waschmaschine, den Tiefkühlschrank, den Fernseher .
Und dann hatten sie sich auf den Weg in diese Wüste gemacht, in der Hoffnung, dass sie dort von vorn anfangen konnten. Das hatten sie sich immer wieder gesagt, während sich das Haus leerte und alles in Koffern und Kisten verschwand. Irene war dreiundvierzig, er ein Jahr älter. War wirklich noch Zeit für einen Neuanfang?
Als jemand an die Scheibe klopfte, schrak Miriam zusammen. Sie hatte nicht einmal bemerkt, dass sie das Dorf erreicht hatten. Auf der anderen Seite der Fensterscheibe stand ihr Onkel Alberto und gab ihr mit Zeichen zu verstehen, dass sie aussteigen sollte. Sie nahm den Kopfhörer ab.
»Kind, was bist du groß geworden!« Albertos Stimme wehte ins Auto, zusammen mit einer Brise Landluft, an deren Geruch sie sich nur schwer gewöhnen würde.
Miriams einzige Antwort bestand in einem Schulterzucken. Ihre Eltern stiegen aus, und Miriam hoffte, dass sich die Aufmerksamkeit auf sie richten würde. Wenn sie nicht hinschaute, würde dieser Ort, an dem sie angehalten hatten, auch nicht existieren. »Es stinkt nach Schwein«, hatte sie im Chat mit ihren Freundinnen geschrieben, als sie an den frisch gedüngten Feldern entlangfuhren. Es war das letzte Wort, das sie über diese Gegend verlor. Sprich nicht drüber, sieh nicht hin, dann wird sie verschwinden, sagte sie sich immer wieder. Miriam griff nach dem Twix, aber als sie die Verpackung öffnete, stellte sie fest, dass der...
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