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EINLEITUNG
Zum anderen Flussufer
1. Februar 2023. Hospital del Mar, Barcelona. 23:00 Uhr.
Es läuft »Al otro lado del río« von Jorge Drexler, und ich sehe mein Leben wie im Zeitraffer vorüberziehen. Im Hintergrund höre ich, wie sich der Kaffeeautomat die letzten Tropfen für einen Espresso abringt, meinem vierten an diesem Tag. Es ist Schlafenszeit, doch mein Herz hämmert noch immer mit über 100 Schlägen pro Minute. Heute hat sich ein Kreis geschlossen. Heute habe ich Yolanda operiert und dabei einen Test eingesetzt, den wir mithilfe von künstlicher Intelligenz entwickelt haben, um zu ihren Emotionen vorzustoßen und diese zu erhalten. Und wir sind zu ihren Emotionen vorgestoßen! Im Gehirn der Patientin, während wir in einer Wachoperation einen Tumor entfernt haben. Heute haben wir in Echtzeit erlebt, wie Emotionen kollabieren und wie die Patientin vier Sekunden lang nicht mehr wahrnehmen konnte, welche Emotion die Avatare darstellten, die wir ihr über das Testverfahren zeigten. Zeitweise war Yolanda während der Hirnstimulation nicht bewusst, dass sie bei dem Test versagte, das heißt, sie war sich nicht mehr ihrer selbst bewusst und hatte die Fähigkeit zur Selbstevaluation verloren. Vorübergehend. Dadurch konnte ich die Areale identifizieren und erhalten, die ich nicht gemeinsam mit dem Tumor entfernen durfte. Aber heute hatte ich nicht nur Yolanda operiert, sondern in gewisser Weise auch meinen Onkel.
Er erlag vor sieben Jahren einem Gehirntumor, der in seinem rechten Temporallappen saß. Nach der Operation war er nie wieder er selbst. Nie mehr konnte er sich fühlen wie zuvor, Musik machen, Gitarre spielen, sich an der Sinfonie Nr. 5 von Schostakowitsch erfreuen oder eine Umarmung genießen. Warum nahm man das einfach so hin? Warum störte das niemanden in der Neurochirurgie? Warum zählte für uns immer nur, dass der Patient sprechen und sich bewegen konnte?
Seit meinem Medizinstudium wollte ich unbedingt die Komplexität des Gehirns verstehen. Ich erinnere mich an den Anatomieunterricht zum Nervensystem: Alles drehte sich um das Auswendiglernen von Gehirnregionen und ihrer jeweiligen Zuständigkeiten. Ernsthaft? Immerhin ahnte die Neurowissenschaft schon seit Beginn des 20. Jahrhunderts, seit den Ausführungen des französischen Neurologen Pierre Marie, dass das Gehirn kognitive Funktionen einzig und allein über parallele elektrische Netze erzeugt, die Impulse weiterleiten, dabei ständig interagieren und sich neu konfigurieren, um unser Verhalten auf äußere Reize abzustimmen. Das Gehirn ist ein komplexes elektrisches System, das sich unablässig ändert!
Erst im vierten Jahr meines Studiums standen neurochirurgische Übungen in der Universitätsklinik der Kanaren auf dem Lehrplan. Dieses Fach faszinierte mich auf Anhieb. Ich weiß noch, wie ich einen Eingriff bei einer Patientin beobachtete, die an Epilepsie litt, nicht auf Medikamente ansprach und deren Leben stark beeinträchtigt war. Dr. Marín erläuterte uns sein Vorgehen in einer Weise, die es geradezu einfach erscheinen ließ, und das veränderte etwas in mir. Irgendwann im Oktober 2013 kam ich aus diesen Übungen und wusste, dass ich Neurochirurg werden wollte. Da wusste ich noch nicht, dass ich drei Wochen später Dr. Marín anrufen würde, um ihm zu erzählen, dass man bei meinem Onkel einen Hirntumor gefunden hatte - bei dem Menschen, der mir die Musik nahegebracht hatte, einem der ersten Menschen, die ich bewundert hatte. Ich verstand nichts von alledem. Warum? Vielleicht hat mir das Leben einen Stolperstein in den Weg gelegt und zugleich das Signal: Das ist es.
Fast zehn Jahre sind seit der Operation meines Onkels verstrichen, und heute weiß ich, dass es mir geglückt ist: Unser Test funktioniert. Während wir vier bis fünf Sekunden lang einen direkten, schmerzfreien elektrischen Reiz auf Yolandas Gehirn einwirken ließen, konnten wir das Gehirn in Echtzeit befragen, ob dieses Areal für die Erkennung von Emotionen auf den Gesichtern der Avatare entscheidend war oder nicht. Wir haben den Tumor entfernt, auch aus Regionen, die nach wie vor als inoperabel gelten, weil sie für die Emotionsverarbeitung unverzichtbar sind, wie zum Beispiel dem Cingulum, jener enormen Schwelle, die das Gehirn von vorn nach hinten durchzieht und über die unablässig emotionale Informationen kommen und gehen. Wir haben es geschafft.
Noch immer erklingt in Endlosschleife Jorge Drexler: »Rema - rema - rema - creo que he visto una luz al otro lado del río.«1 Und da bin ich. So fühle ich mich. Ich rudere still über den Fluss. Denn ich glaube, ich habe auf der anderen Seite ein Licht gesehen.
Aber zuvor - und da möchte ich die Wahrheit sagen - hatte ich eine Heidenangst. Um 8:46 Uhr betrat ich den OP-Saal, nachdem ich das komplette Vorgehen noch einmal mit dem Team durchgesprochen und unsere Neuropsychologin, Natalia, zum fünften Mal gefragt hatte, ob wirklich alles passe. Am Vortag hatten wir den Test zur Emotionserkennung exakt auf Yolanda, unsere Patientin, abgestimmt. Menschliche Emotionen sind zu komplex für ein pauschales Messinstrument. Weil jeder Mensch eine Emotion unterschiedlich einstufen oder empfinden kann, zeigten wir Yolanda die verschiedenen Emotionsdarstellungen und überprüften, wie sie diese jeweils wahrnahm und interpretierte. Alles war bereit. Gloria Villalba, die koordinierende Neurochirurgin der neurochirurgischen Abteilung des Hospital del Mar, die mich nach Barcelona eingeladen hatte, um diesen Fall mit dem Team zu operieren, hatte alles perfekt vorbereitet. Als ich in den OP-Saal kam, dachte ich nur: Hier sind zu viele Leute. Drei Kameras, Studierende der Medizin, Physiotherapeutinnen und Neuropsychologen vom Institut Guttmann. All das war für mich eine echte Herausforderung, kämpfte ich doch mit meinen Versagensängsten. Ich wusste, dass der bevorstehende Eingriff hier schon wochenlang Gesprächsthema war: eine Wachoperation, um einen Tumor aus der rechten Gehirnhälfte zu entfernen und gleichzeitig mittels eines neuen Testverfahrens in Echtzeit zu versuchen, die Emotionen der Patientin zu bewahren. Eines Testverfahrens, das ich einst ganz allein in meinem Zimmer skizziert hatte. Es war der erste Test zur Analyse der Emotionserkennung in vivo (also am lebenden, bewussten Menschen), der konkret auf das Operieren im Wachzustand zugeschnitten war. So etwas hatte es in dieser Form noch nie gegeben. Bis jetzt.
Trotz meiner Ängste erfüllte mich die ganze Zeit absolutes Vertrauen in das, woran ich monatelang gearbeitet hatte. Unmittelbar vor der Operation rief ich mir den letzten Satz ins Gedächtnis, mit dem ich mich nach meiner Ausbildung zum Neurochirurgen an der Universitätsklinik Nuestra Señora de Candelaria verabschiedet hatte: »Ich gehe fort, weil ich nicht nur Gehirne operieren will, sondern verstehen muss, wie unser Geist funktioniert.« Und dieser Satz hatte große Verantwortung zur Folge, in jeder Hinsicht.
Die Neurochirurgie ist eine anspruchsvolle Disziplin. Es ist nicht gern gesehen, wenn sich jemand mehr für die Hirnfunktion interessiert, anstatt nach einer Tumorentfernung am Hirnstamm Handschuhe voller Blut und Zerebrospinalflüssigkeit auszuziehen. Mich jedoch machte es nicht glücklich, meine Hände zu bewegen und mich dadurch »wie ein echter Chirurg« zu fühlen. Ich wollte zur anderen Seite des Flusses gelangen, wollte mehr über die Hirnfunktion herausfinden. Ich hatte den Eindruck, dass wir zu viel operierten, aber immer weniger verstanden, so als hätte die Neurochirurgie vor der Komplexität des Gehirns kapituliert. Was auch nicht gern gesehen wird, ist, wenn du einen anderen Teil deines Lebens dem Komponieren für ein Sinfonieorchester widmest oder dich zum Dirigenten ausbilden lässt. »Wie willst du als Neurochirurg auch noch Künstler sein?«, fragte mich einer meiner Professoren einst. Das verfolgt mich bis heute. Fünf Jahre lang habe ich es innerlich wiederholt. Dennoch blieb ich dabei. Ich blieb meiner unruhigen, vielleicht künstlerischen Wesensart treu. Und so verstand ich schließlich, dass das Gehirn und die Musik offenkundig etwas waren, das man aus der Sicht eines Künstlers betrachten musste, und dass es hinter dem, was wir sehen, noch andere Dinge gibt. Und so wie die Musik »etwas« ist, das wir weder berühren noch sehen können, ist dies auch bei der Gehirnfunktion mit ihren Netzen und Metanetzen der Fall. Tatsächlich wäre die Musik ohne ein Gehirn keine Musik, denn sie ist lediglich die Interpretation, die das Gehirn uns angesichts von in der Luft vibrierenden Partikeln empfinden lässt. Wie also sollte ich aufhören, ein Künstler zu sein? Ich liebe es, in einer Partitur Klangmuster zu erschaffen und Emotionen hervorzurufen. Die natürlich ebenfalls unsichtbar sind, aber eben doch existieren.
Deshalb gab ich nicht auf. Ich verfolgte weiterhin die Idee, etwas zu erschaffen, das uns ermöglichen würde, bei Patienten mit Hirntumoren die Emotionen und das Verhalten zu bewahren. Zumindest wollte ich es versuchen. Es ging nicht nur darum, das Andenken meines Onkels zu ehren und meinem Ego eine Medaille anzuheften. Ich hatte das Gefühl, es sei meine Pflicht als Wissenschaftler. Ich fand, wir müssten uns um den erheblichen Prozentsatz der Patientinnen und Patienten mit einem Hirntumor, deren Persönlichkeit, Verhalten oder Weltsicht nach der Operation beeinträchtigt ist, zumindest bemühen. Warum schien all das niemanden zu stören? Warum konnte mein Onkel niemanden finden, dem es wichtig war, dass er derselbe Mensch blieb, der er vor der Operation gewesen war?
Sechs Monate bevor alles losging, war ich in...
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