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Enrique ist zunehmend verzweifelt. Immer wieder läuft er zwischen den metallicgrauen Containerhäuschen der Grenzposten hin und her, seine schwarzen Stoffhosen staubig, das kurzärmelige Hemd verschwitzt, ein Plastikschirm als Virenschutz vor sein Gesicht geschnallt.
In der Hand hält er das in San José abgestempelte Papier mit dem vierundzwanzig Stunden alten Negativ-Resultat des Covid-Tests. No me dejan entrar. Sie lassen mich nicht rein. Und dann, mit beinahe brechender Stimme herausgeschrien, erneut jener Satz, den er mir ein paar Tage zuvor auf Facebook geschrieben hatte: Es hat nichts mit der Pandemie zu tun.
Eine aus San José mitgereiste Freundin nimmt die Szene mit Enriques Smartphone auf, und so geht das Video für kurze Zeit viral: Zuerst ist das Video öffentlich, dann nur noch für den Freundeskreis sichtbar, schließlich wird es aus Angst gelöscht: Im zur Familiendiktatur Daniel Ortegas gewordenen Nicaragua wissen nicht nur die Grenzposten, wer abzustrafen und zu observieren ist.
Enrique, der bei den vorangegangenen Familienbesuchen in der alten Heimat ja schon immer gefilmt hatte: Das schießende Militär vom Frühjahr 2018, als die Arbeiter und Studenten gegen ein Regime demonstrierten, das den revolutionären Sandinismo längst nur noch im Namen führte; Schüsse in den Straßen Managuas, vor Einkaufszentren, selbst vor den offenen Türen der Kirchen; Menschen, die auf der hauptstädtischen Parademeile das überlebensgroße Hugo-Chávez-Porträt attackiert hatten und dabei auch jene absurden Metallbäume herausrissen, deren artifizielle Kronen nach dem Willen des Ehepaars Ortega die Kosmologie der Mayas mit ihrer kruden Herrschaftsideologie von »Harmonie, Christentum und Sozialismus« verbinden sollten. Zuvor hatte er auch die Campesino-Proteste von 2013 gefilmt, nachdem ohne jegliche Ausschreibung eine ominöse Hong Kong Nicaragua Canal Development Investment Company den Zuschlag für einen »Nicaragua-Kanal« erhalten hatte, der innerhalb von zehn Jahren den Kanal in Panama übertrumpfen und obsolet machen sollte. Bauern fürchteten die Enteignung ihres Landes, Fischer eine weiträumige Versumpfung des Nicaraguasees, während die Medien, im Besitz der Ortega-Familie oder ihrer Oligarchen-Freunde, von einer Zukunft voll chinesischer Containerschiffe und abgeworfener Dollar-Milliarden schwadronierten.
Enrique, obwohl weder Aktivist noch Journalist, filmte, postete und sparte nicht an Spott. Wie etwa Präsident Ortegas Gattin, la primera dama Rosario Murillo mit ihrer Vorliebe für bunte Freundschaftsarmbänder, Silberreifen und esoterische Poesie, dieses Kanal-Poem veröffentlicht hatte. Eine Art Neruda'scher Canto General des autoritären Business-Kommunismus, doch in all den redseligen Zeilen nie präsent: ihr Sohn Laureano, ausgebildeter Opern-Tenor und als offizieller nicaraguanischer Verhandlungsführer das Gegenüber des festland-chinesischen Company-Chefs Wang Jing, der dank seiner Verbindungen zum Pekinger Parteiapparat und der sogenannten Volksbefreiungsarmee zum Forbes-Listen-Milliardär aufgestiegen war - und das als ehemaliger Student traditioneller Heilmedizin, ohne Abschluss.
Ich war Enrique und seinem Freund Sergio in einer Bar in San José begegnet. Als Ingenieurs-Studenten in Managua waren sie nach verzweifelter Jobsuche und ohne die notwendigen Verbindungen »nach oben« nach Costa Rica entwichen, wo sie sich neu erfanden - als Start-up-Designer.
»Kein Genosse Heilpraktiker in Costa Rica und auch kein Tenor, der für seinen Clan die Milliarden-Geldwäsche übernimmt«, sagte Enrique und lachte auf, während sein Arm um Sergios Schultern lag.
Das stimme zwar, entgegnete Sergio, weder Tenor noch Terror, aber auch hier sei nicht alles perfekt und selbst Ämter-Korruption kein Fremdwort. Trotz Demokratie und Menschenrechten und Sozialstaat und Digitalwirtschaft: von wegen »die Schweiz Mittelamerikas«.
»Und woher weißt du das alles?«
»Aus unserer Erfahrung. Und aus den Medien.«
»Siehst du! Und erzählst es obendrein ohne Angst einem Reisenden, an der Bar, auf der Terrasse, jetzt hier an der Ecke zur Avenida Ocho .«
»Hör mal. Weshalb sollte ich denn Angst haben? Schließlich sind wir hier in Costa Rica!«
Als könnten sie es, dachte ich, noch immer nicht richtig glauben. Dass es eine solche zur Gesellschaft gewordene Unwahrscheinlichkeit gab, so ganz ohne Revolutionen und Bürgerkriege und bebrillte Uniform-Caudillos von links oder rechts, die doch angeblich organisch dazugehörten zum hiesigen »Kulturkreis«. Enrique mit dem kurz rasierten Haar und dem freundlichen Spott in den Augen, Sergio mit seinen nur mühsam gebändigten Locken und einer Sanftheit, die nichts von Unterordnung hatte: Er war es gewesen, der mich angesprochen und unter den Soundbites von Latino-Pop ins Gespräch gezogen hatte und danach auf die Terrasse, wo Enrique bereits auf uns wartete, rauchend und beobachtend. Ein Spiel, abgekartet oder nicht, das vier Jahre später wiederholt wurde und sich da längst zu einer Freundschaft entwickelt hatte.
Meine Aufenthalte in der Region aber waren keine Urlaubs-, sondern immer Arbeitsreisen gewesen, zumindest in den Stunden bis Sonnenuntergang. Treffen mit NGO-Leuten, Schriftstellern, Gewerkschaftern. Etwa jener Mittag mit dem Geschichtsprofessor, der zu Fuß zum vereinbarten Treffen in einem kleinen unprätentiösen Altstadt-Restaurant gekommen war.
Irgendwann hatte Luis Guillermo Solís, Mitte der achtziger Jahre Stabschef im Außenministerium und einer der Planer der zentralamerikanischen Friedensgespräche in Nicaragua, El Salvador und Guatemala, sogar von seinen Deutschland-Aufenthalten gesprochen. Von seiner sozialliberalen Prägung durch Hans-Dietrich Genscher und Willy Brandt, den er 1990, auf dem Vereinigungsparteitag von westdeutscher SPD und ostdeutscher SDP, schließlich auch persönlich getroffen hatte. »Hombre, was soll ich sagen? Da hatte sogar ich Tränen in den Augen.«
Später, nach dem Espresso, bezahlte er die Rechnung, murmelte etwas von Die-Tochter-aus-dem-Kindergarten-abholen und machte sich nach einer kurzen Umarmung auf den Weg. Ein paar Jahre später, im Frühjahr 2014, wurde Luis Guillermo Solís zum Präsidenten von Costa Rica gewählt; der erste seit sechs Jahrzehnten, der keiner der beiden Mitte-rechts und Mitte-links angesiedelten Traditionsparteien angehörte. Beinahe achtundsiebzig Prozent hatten für ihn votiert. Und noch im Mai desselben Jahres ließ der katholische Familienvater am Präsidentensitz die Regenbogenfahne hissen, als Tribut zum Internationalen Tag gegen Homophobie und Transphobie.
Und so war auch jener Tag des Restaurant-Treffens einer dieser Tage, an denen sich sagen ließ: Trotzdem und Dennoch. Die Welt ist nicht nur von Schurken und Diktatoren bevölkert, denn da gab und gibt es ja schließlich auch dieses im Weltmaßstab derart winzige Costa Rica - winzig wie das ebenso erzdemokratische Uruguay und im Grunde so unwahrscheinlich wie mein geliebtes, heterogenes Tel Aviv inmitten einer Region mörderischen Identitätsterrors. Oder eben wie diese Stecknadel namens Hongkong vor dem Riesenleib einer autoritären Weltmacht. So etwas wie Geborgenheit gebende Namen, hinter denen ja Wirklichkeiten standen - und Menschen. Jener andere Nachmittag 2010 in Hongkong etwa mit Emily Lau, der Bürgerrechtlerin, die in »Mainland China banned« war, wie sie mit selbstbewusstem Lächeln sagte, dort in ihrem Abgeordnetenbüro im kolonialbritisch antikisierten Gebäude des Legislative Council, nahe der Harbourfront-Promenade. Tage, Begegnungen und Gestimmtheiten wie diese. Befreiungsseufzer im Wind der Weltgeschichte, eine Träne im Ozean oder doch mehr? Dennoch, trotzdem.
2019 meldeten die Medien, dass Herr Wang, der ehemalige Heilmedizinstudent mit Partei- und Armeeanbindung, nicht mehr auf der Forbes-Milliardärsliste stehe und sogar sein Unternehmensbüro in Hongkong aufgelöst habe. Die Bauern und Fischer um den Nicaraguasee konnten aufatmen, doch sollten Enrique und Sergio nun etwa nur deshalb zurückkehren in die intransparente Kleptomanen-Diktatur der Ortegas? Aber nein, por qué? Stattdessen ihre Facebook-Fotos, immer zu zweit, ironisch gebrochene Halbgötterpose, im Kreis neuer Freunde in San José (ihre liebende Symbiose, die manch nächtliche Präferenz für grupos nicht ausschloss), in Badehose oder mit Weihnachtsmütze, mit Dinner-Krawatte vor Kerzenlicht oder die Ärmel aufgekrempelt beim Ausmessen von Wohnungen, Transportieren von Möbeln: So wie...
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