Schweitzer Fachinformationen
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Kirchheim unter Teck, Deutschland, Juli 1965
Schwer drückte der Zementsack auf seine Schultern. Hans-Peter glaubte, mindestens zwei Zentner zu schleppen, dabei wog der Sack lediglich um die fünfundzwanzig Kilogramm. Wenn er diesen Sack abgeladen hatte, dann folgte der nächste und der nächste und der nächste . Ein Ende war so schnell nicht abzusehen. Da er sich diese Plackerei aber selbst ausgesucht hatte, biss er die Zähne zusammen und stapelte ordentlich die schwere Fracht in einem Raum des Rohbaus.
Eine kräftige, mit Schwielen übersäte Hand legte sich auf seine Schulter.
»Schluss für heute, Junge.«
Mit dem Handrücken wischte sich Hans-Peter den Schweiß von der Stirn. »Jetzt schon? Es sind noch drei Stunden bis zum Feierabend, Capo.«
»Wir machen heute früher Schluss. Schließlich ist Wochenende, und wir haben die letzten Wochen geschuftet wie die Ackergäule.« Der Blick des Poliers Gerhard Wallner - ein großer Mann mit einem Oberkörper wie ein Kleiderschrank - glitt wohlwollend über Hans-Peter. »Heute ist ohnehin dein letzter Tag. Du hast dir einen frühen Feierabend mehr als verdient.«
»Danke, Herr Wallner.«
Der Polier grinste und zwinkerte Hans-Peter zu.
»Ich gebe zu, vor vier Wochen war ich nicht nur skeptisch, sondern richtiggehend unwillig, dich bei uns auf dem Bau zu beschäftigen. Ein Studierter, der ständig über den Büchern hockt und nur eingestellt wird, weil sein bester Freund das Jüngelchen vom Boss ist. Ich glaubte, du hältst keine zwei Tage durch und willst eine Extrawurst gebraten haben.«
»Na ja, wenn ich behaupten würde, die Arbeit wäre einfach, müsste ich lügen.«
Hans-Peter grinste und betrachtete seine Hände mit der roten, rissigen Haut und den abgebrochenen Fingernägeln, unter denen Dreck klebte. Die ersten Tage auf dem Bau hatte er sich vor Schmerzen tatsächlich kaum bewegen können und war kurz davor gewesen, alles hinzuschmeißen. Nie zuvor in seinem Leben hatte er körperlich derart hart gearbeitet. Er verfolgte jedoch ein Ziel, daher biss er die Zähne zusammen trotz des Muskelkaters in Bereichen seines Körpers, von denen er zuvor nicht gewusst hatte, dass er dort überhaupt Muskeln besaß. Die teilweise bissigen Kommentare der Kollegen, die ihn ständig aufzogen, er als Student hätte keine Ahnung, was es bedeutet, zu arbeiten, ignorierte er und bewies ihnen das Gegenteil. Sechs Tage die Woche von frühmorgens bis zum Einbruch der Dunkelheit, bei sengender Hitze und bei strömendem Regen, schleppte er Zementsäcke, Ziegelsteine, Holzlatten, bediente die Mischmaschine und schaufelte so viel Sand, dass er das Gefühl hatte, die halbe Sahara umzugraben. Seine Muskeln stählten sich, sein Gesicht, der Oberkörper und die Arme nahmen eine tiefbraune Farbe an, und bald fühlte er sich körperlich so gut wie nie zuvor. Hans-Peter hatte sich bewusst für die Arbeit auf dem Bau entschieden, denn bei keiner anderen Tätigkeit hätte er in vier Wochen so viel verdient. Es war ein Glücksfall, dass der Vater eines Kommilitonen der Inhaber dieser gutgehenden Baufirma in Kirchheim war. Klaus Unterseher war zugleich Hans-Peters bester Freund und sein Mitbewohner im Studentenwohnheim in Tübingen, in dem sie sich ein Zimmer teilten.
»Wenn du von der trockenen Juristerei die Nase voll hast«, sagte der Polier Wallner, »kannst du jederzeit bei uns anfangen. Männer wie dich können wir immer gebrauchen.«
»Danke, Capo, aber ich möchte doch lieber Rechtsanwalt werden. Die Zeit hier wird mir jedoch in guter Erinnerung bleiben, und vielleicht arbeite ich im nächsten Jahr wieder bei euch.«
Wallner fragte: »Warum hörst du eigentlich heute schon auf, so mitten im Sommer? Es sind doch gerade Semesterferien, und bis zum Herbst könntest du dir noch ein hübsches Sümmchen verdienen.«
Hans-Peter antwortete lachend: »Nächste Woche werde ich verreisen, dafür brauche ich das Geld.«
»Ich verstehe.« Der Polier nickte. »Wo soll's denn hingehen? Italien? Spanien? Zu gern würde ich mir auch mal die südliche Sonne auf den Bauch scheinen lassen, aber im Sommer Urlaub zu bekommen ist bei unserer Arbeit leider nicht drin.«
»Ich werde nach England fahren.«
»Nach England?« Hätte Hans-Peter gesagt, er wolle zum Mond aufbrechen, hätte Wallner nicht irritierter reagieren können. »Was willst du ausgerechnet in England? Es heißt, dort regnet es immer, das Essen sei ungenießbar und das Bier lauwarm und abgestanden.«
Hans-Peter zuckte mit den Schultern.
»Das habe ich auch gehört, aber das sind nur Klischees. Ich will mir lieber selbst ein Bild machen.«
»Wie willst du dich verständigen?« Wallner war immer noch skeptisch. »Ich glaube, auf der Insel spricht kaum jemand unsere Sprache.«
»Ich habe bis zum Abitur Englisch gehabt«, erklärte Hans-Peter, verschwieg aber, dass er in den letzten Monaten in jeder freien Minute die Sprache gepaukt hatte, um für seine Reise gut vorbereitet zu sein.
Aus einem Regal im Schuppen nahm Wallner zwei Flaschen Bier. Mit einem Plopp schnappte der Bügelverschluss auf, und Wallner reichte Hans-Peter eine Flasche.
»Na, dann genieß noch mal ein gutes Bierchen, damit du weißt, was du bei den Tommys vermissen wirst! Prost!«
Obwohl der Krieg seit zwanzig Jahren vorbei war, verwendeten nahezu alle Älteren noch immer diesen Ausdruck für die Einwohner Großbritanniens.
Die Flaschen stießen aneinander, und Hans-Peter nahm einen langen Schluck. Dass dieses Bier warm war, ließ er unkommentiert, denn auf der Baustelle gab es keinen Kühlschrank.
»Willste mir nicht verraten, was dich zu den Tommys führt?«, fragte Wallner gespannt. »Ich kann mir beim besten Willen nicht vorstellen, was ein junger Bursche wie du in England zu suchen hat.«
»Kennen Sie die Beatles?«
»Nein, was soll das sein?«
»Eine Beatgruppe aus England«, erklärte Hans-Peter, der mit Wallners Antwort gerechnet hatte. Kaum jemand, der über vierzig Jahre alt war, interessierte sich für moderne Beatmusik. »Ich will zu einem Konzert dieser Gruppe. In England sind die Beatles bereits große Stars, aber hier werden sie auch immer bekannter. Immerhin ist diese Gruppe in Hamburg aufgetreten und hatte dort ihre ersten großen Erfolge.«
Abwehrend hob Wallner die Hände.
»Lass mich bloß mit diesem ausländischen Gedöns in Ruhe. Diese Hottentottenmusik ist nichts für mich, außerdem ist das nur eine Phase, die bald wieder vorbei sein wird. Na ja, auf jeden Fall wünsche ich dir eine gute Reise. Noch ein Bier?«
Hans-Peter schüttelte den Kopf.
»Wenn's Ihnen recht ist, Capo, fahr ich gleich nach Hause.«
»Hol dir deinen Lohn im Büro ab«, sagte Gerhard Wallner und drückte Hans-Peters Hand so fest, dass dieser befürchtete, jeder einzelne Knochen würde brechen. »Ich wünschte, der Sohn vom Boss würde so ranklotzen wie du. Der hat sich hier aber noch nie blicken lassen, geschweige denn mal mit angepackt.«
»Klaus ist in Ordnung«, verteidigte Hans-Peter den Freund. »Ihm liegt eben mehr die geistige als die körperliche Arbeit.«
Die beiden Männer lachten, dann schwang sich Hans-Peter auf sein Mokick. Die Baustelle lag im sogenannten Paradiesle, einer beliebten Gegend der Stadt Kirchheim, in der in den letzten Jahren zahlreiche Ein- und Zweifamilienhäuser entstanden waren. Früher hatten die Kirchheimer auf dem ebenen Gelände vor den Toren der Stadt Obst- und Gemüsegärten angelegt, da innerhalb der Stadtmauern nicht genügend Platz war. Der Boden war fruchtbar, die Sonne schien ungehindert den ganzen Tag, und bei starkem Regen waren keine Überschwemmungen zu befürchten, da der Fluss Lauter weit genug entfernt lag. So erhielt die Gegend den Namen Paradiesle und entwickelte sich in den letzten Jahren zu einem beliebten Wohngebiet.
Zum Büro der Baufirma musste Hans-Peter die Stadt in Richtung Jesingen durchqueren. Stolz nahm er die prall gefüllte Lohntüte entgegen und verstaute sie sorgsam in der Innentasche seiner Jacke. Die Knochenarbeit hatte sich gelohnt, und in drei Tagen würde er auf dem Weg nach England sein. Allerdings hatte er, um arbeiten zu können, an der Uni zahlreiche Vorlesungen versäumt und war von seinem Freund Klaus notdürftig auf dem Laufenden gehalten worden. Da das Beatles-Konzert bereits Anfang August stattfand, hatte Hans-Peter mit dem Geldverdienen nicht auf die Semesterferien warten können. Da er aber leicht und gern lernte, würde er das Pensum spielend nachholen. Klaus Unterseher, der Sohn des Bauunternehmers, studierte ebenfalls Jura. Sie hatten sich in Tübingen kennengelernt und waren im selben Semester. Im Gegensatz zu Hans-Peter, der sich gern an der frischen Luft aufhielt - es musste ja nicht unbedingt beim Schleppen von Zementsäcken sein -, war Klaus Unterseher ein richtiger Stubenhocker. Am wohlsten fühlte er sich mit seinen dicken Gesetzesbüchern, sehr zum Leidwesen seines Vaters. Glücklicherweise hatte Klaus einen jüngeren Bruder, der mehr Interesse für das Familienunternehmen zeigte und die Firma eines Tages übernehmen wollte. Dass man es seinen Vätern nicht recht machen konnte, kannte Hans-Peter aus eigener leidvoller Erfahrung.
»Warum bittest du deinen Vater nicht einfach um das Geld für die Reise?«, hatte Klaus ihn gefragt, als Hans-Peter ihn bat, ihm eine Arbeit auf dem Bau zu besorgen. »Oder du arbeitest in der Sägemühle, da gibt es doch auch genügend zu tun.«
Hans-Peter hatte ausweichend geantwortet. Klaus wusste zwar, dass Hans-Peter und sein Vater kein sehr gutes Verhältnis zueinander hatten, dass Wilhelm Kleinschmidt nicht Hans-Peters leiblicher Vater war, ahnte der Freund jedoch nicht. Das...
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