Schweitzer Fachinformationen
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Seit seinem elften Lebensjahr, seit jenem furchtbaren Ereignis, nannte man ihn nicht mehr Hasan, sondern Chahina. Chahina war ein ungewöhnlicher Name für einen Berberjungen, doch er passte ganz gut, denn er bedeutete ungefähr so viel wie »Wheels« oder »Fortbewegungsmittel«. Mit elf Jahren war Hasan auf grausame Weise in einen Joker verwandelt worden, der einem kleinen Lastwagen glich.
Seine Körpermasse hatte sich verdoppelt - während der fiebrigen Umwandlung hatte er so viel gegessen wie zehn Hasans -, und er war würfelförmig geworden, mit einer Mulde auf dem Rücken und einer halslosen Ausbeulung, wo vorher Kopf und Schultern gesessen hatten.
Seine Hände und Füße hatten sich in Hornkolben verwandelt, mit flachen, runden Scheiben, die alle paar Monate - je nach Beanspruchung - abplatzten, aber doch ein Teil von ihm blieben, so wie die Armbänder um das Handgelenk eines Mädchens. Chahina hatte herausgefunden, dass er die Scheiben, wenn er die vier kolbenartigen Gliedmaßen auf eine bestimmte Art abspreizte, als . nun ja, als Räder benutzen konnte. Auf diesen Rädern konnte er eine Straße in der Stadt oder eine marokkanische Landstraße entlangfahren wie ein Laster. Mit nur einem augenfälligen Unterschied.
Chahina stieß sich mit seinen Beinen ab, sodass er hin und her schwankte und aussah wie ein Laster mit kaputter Aufhängung .
»Ah«, sagte einer seiner Kunden, ein stämmiger holländischer Waffenschmuggler namens Kuipers, als er Chahina das erste Mal in Aktion sah. »Sie sind ja wie Hans Brinker!«
Anscheinend konnte man Chahina sogar im gitterförmigen Gesicht ablesen, dass er es nicht kapierte.
»Ein Schlittschuhläufer«, erklärte Kuipers. Und wie ein bekloppter Clown ahmte er die Links-/Rechtsbewegungen eines Jungen auf Schlittschuhen nach.
Hans Brinker? Chahina war sich nicht sicher . doch von diesem Tag an nannte er seine Fortbewegungsart »Schlittrollern«.
Und in den vergangenen elf Jahren hatte er sich schlittrollernd eine Karriere als Kurier aufgebaut, der illegale Substanzen, Schmuggelware und ja, auch Waffen von Ort zu Ort beförderte, für gewöhnlich zu merkwürdigen Zeiten und in großer Heimlichkeit, häufig auf wenig befahrenen Routen. Seine Fähigkeit, heimliche Fortbewegung mit gesundem Menschenverstand zu kombinieren, brachte ihm in der Verbrecherwelt Nordafrikas und Südeuropas viele Fans ein. Er war sogar so beliebt, dass einer seiner Hauptkunden, der seine Geschäfte in die Vereinigten Staaten ausweitete, ihn »einlud«, als Fracht - was sonst? - auf einem Frachter mitzufahren.
Nachdem er sich einmal an die Härten des Lebens als Jokerimmigrant in New York und Umgebung gewöhnt hatte, hatte Chahina die verhältnismäßige Leichtigkeit seines neuen Schmugglerdaseins allmählich zu schätzen gelernt. Die Straßen waren besser. Die Polizei war im Allgemeinen vorhersagbarer und aufrichtiger (Chahina übertrat die Geschwindigkeitsbegrenzungen nicht und wurde deshalb nie angehalten).
Und es gab keine Räuber! Chahinas Jahre in Amerika waren einträglich gewesen, die Zukunft war vielversprechend.
Doch am Abend des 7. Mai 2012, eines Montags, machte er einen Fehler.
Chahina sah häufig auf menschliche Fahrer und ihre Fahrzeuge herab, weil er sie für minderwertige Geschöpfe hielt, da sie ohne einander nutzlos waren. Er hingegen war sowohl das Hirn als auch die treibende Kraft seiner selbst.
Manchmal aber wünschte er sich, er hätte ein wenig Hilfe beim Navigieren, denn dann hätte er nicht die falsche Abzweigung genommen, als er in Richtung Norden aus Tewksbury herausgefahren war, an der Stelle, wo die 519 und der Old Turnpike zusammen verliefen. Er hatte zehn Minuten vergeudet, weil er auf dem OT nach Westen gefahren war, wo es eigentlich weiter nach Norden gegangen wäre.
Normalerweise hätte ihm dieser kleine Umweg keine Probleme bereitet, doch Chahina hatte eine Deadline. Um 20 Uhr sollte er seine Fracht bei einem Kunden am Rand des Stephens State Park abliefern . Bei der Adresse schien es sich weder um einen Betrieb noch um ein Wohnhaus zu handeln, sondern eher um freies Feld.
Um die verlorene Zeit wieder reinzuholen, brach Chahina mit seiner selbst auferlegten Regel, sich an Geschwindigkeitsbegrenzungen zu halten. Das war riskant, denn um schneller zu fahren, musste er noch kräftiger schlittrollern.
Er bemerkte den verdutzten Blick von zwei ihm entgegenkommenden Fahrern, doch aus Erfahrung wusste er, dass sie ihn schlicht für ein ausländisches Lastwagenmodell von ungewöhnlich schlanker und runder Bauweise halten würden.
(Bei Nachtfahrten war Chahina gezwungen, Stirnlampen als Scheinwerfer zu tragen. Seitlich der Augen schnallte er sie sich an, damit er das Nötigste erkennen konnte und damit andere Verkehrsteilnehmer ihn als Lastwagen identifizierten. Die schnellste Art, die Aufmerksamkeit der Verkehrspolizei zu erregen, war, wenn man nachts ohne Licht über eine Landstraße heizte .)
Was Chahina am meisten verabscheute, war der Regen, durch den er die letzten zwei Monate fast täglich gefahren war.
Zum einen war er einfach unangenehm. Nach Chahinas Verwandlung in einen Joker, der wie ein Laster aussah, war er nackt gewesen - allein das war ein Schock für den Jungen gewesen, der zuvor in der Öffentlichkeit nie weniger angehabt hatte als T-Shirt und lange Hose. Sein älterer Bruder Tariq hatte ihm geholfen, eine »Hose« aus einer Plane zu nähen, die seinen Unterleib bedeckte und aussah wie die Abdeckung eines richtigen Lasters. Diese frühe Notlösung hatte Chahina danach noch verbessert, indem er besser passende und verschiedenfarbige »Hosen« angefertigt hatte, um für jede Umgebung gerüstet zu sein. Heute zum Beispiel trug er eine graue Plane.
Aber sie waren alle nicht wasserdicht, und deshalb hatte Chahina beim Schlittrollern das Gefühl, in einer Pfütze zu sitzen, während ihm der Regen auf Nacken und Rücken platschte.
Schlimmer noch, der Regen machte es schwerer, etwas zu erkennen. Und er verlor beinahe seine Griffigkeit. (Seine »Hände« und »Füße« verfügten nicht über das Profil eines Autoreifens.)
Fünfzehn Minuten nachdem er Staten Island verlassen hatte, hatte der Regen eingesetzt, noch ehe er die Goethals Bridge nach New Jersey überquert hatte.
Es war kein starker Regen - aber es brauchte nicht viel, um Chahina das Leben schwer zu machen.
Zum Glück bestand seine Fracht nur aus zwei Dutzend Kunststoffcontainern. Denen machte ein bisschen Feuchtigkeit nichts aus.
Nachdem er aus Hackettstown heraus war und gerade an Bilby vorbeifuhr, wichen die Industriegebiete alten Farmen und Wäldern.
Der wenige Verkehr, der sich in den Regen hinauswagte, versiegte mit der einbrechenden Dunkelheit vollends. Wheels holte Luft und stieß sich kräftiger ab. Ihm war klar, dass er nicht nur die Geschwindigkeitsbegrenzung, sondern auch seine Energiereserven strapazierte - warum hatte er nicht mehr gegessen? Seine Mitbewohner machten sich über seine Ernährung lustig, weil er immer so viel .
Plötzlich lag jemand vor ihm auf der Straße.
Wheels überfuhr ihn. Es war fast, als würde man in den Vorstädten über eine Bremsschwelle rasen . und die Bremsschwelle dabei wie ein menschlicher Körper schmatzen.
Und es tat verdammt weh. Auch wenn sie eine dicke Hornhaut hatten, so waren seine Räder eben doch nur seine nackten Hände und Füße. Diesen Kerl zu überfahren war, wie mit dem Zeh gegen den Bordstein zu stoßen.
Er verlor die Bodenhaftung, verlor die Kontrolle, rutschte und schlitterte wie ein Betrunkener auf einem vereisten Bürgersteig, bis er zu einer Linkskehre gelangte, hundert Meter weiter den Highway entlang .
Und in einen Graben krachte, der vor den Bäumen dahinter gähnte.
Der Aufprall drückte ihm die Nase ein. Seit Tariq ihm - vor seiner Zeit als Wild Card - eine gescheuert hatte, weil er einen Schokoriegel gestohlen hatte, hatte ihm nichts mehr so wehgetan.
Er war so verblüfft, dass er nicht hätte sagen können, wie lange er in dem Graben gelegen hatte, den Kopf nach unten, das Hinterteil nach oben und insgesamt nach rechts geneigt. In der Dunkelheit war es ihm nicht möglich, die Zeit abzuschätzen. Waren ein paar Sekunden vergangen? Minuten?
Er hoffte inständig, dass es keine Stunde gewesen war.
Sich aus dem Graben zu befreien erforderte Geduld. Ihm ging es wie einem Footballspieler mit einer gebrochenen Rippe: Jeder Versuch, sich zu bewegen, schmerzte.
Schließlich gelang es ihm, sich aufzurichten . Mit der guten linken »Hand« drückte er sich so weit hoch, dass seine hinteren »Füße« wieder Halt auf der Straße fanden.
Erst als er sich auf der Straße wieder ganz aufgerichtet hatte, merkte er, dass er einen der Container verloren hatte. Er konnte ihn nirgends entdecken. Und selbst wenn er ihn gefunden hätte: Er konnte ihn nicht wieder aufheben und aufladen.
Es war, als würde man einen Zahn verlieren - aber wahrscheinlich weitaus schmerzhafter, wenn er erst einmal bei seinem Kunden war.
Tja, es war nicht das erste Mal, dass Wheels etwas verloren hatte . er war geschlagen und auf andere Art misshandelt worden. Aber er wusste, dass es besser war, mit neunzehn von zwanzig Stücken aufzutauchen, als die Konfrontation komplett vermeiden zu wollen.
Allerdings war da noch ein anderes Problem.
Langsam und unter Schmerzen rollte Wheels ein paar Dutzend Schritte den Highway zurück zu der Stelle, wo er den Typen überfahren hatte . Wheels konnte wenig für ihn tun, vorausgesetzt, er lebte noch. Und inzwischen zählte jede Sekunde.
Wheels war in seinem kurzen Leben jedoch schon so oft misshandelt worden. Er konnte es nicht...
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