Schweitzer Fachinformationen
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Er sah den Regen kommen.
Er drückte sich flach an die Betonwand und sah, wie sich die Wolken über dem Hof übereinandertürmten, grau, schwarz, beinahe violett. Sah, wie sie sich näherwälzten. Wie die warme Luft zitterte.
Die anderen sahen es nicht.
Die Sirene hatte sie zurück nach drinnen gerufen, nur er stand noch draußen, allein.
Die Schatten der Wolken glitten über den Hof, ließen den Stacheldraht auf der Mauer aufglänzen wie im Scheinwerferlicht.
Von drinnen hörte er den Wald. Vogelstimmen, grünes Rascheln von Laub: ein Wald, für immer im Frühling gefangen. Er hörte ihn, weil der Wald sich direkt hinter den Lüftungsschlitzen befand. Bei guter Führung durfte man die grüne Welt für eine gewisse Zeit betreten. Man brauchte eine Brille dazu, denn der Wald war künstlich, 3-D-animiert, nichts als ein Bildschirm an der Wand, 360 Grad.
Die Vogelstimmen verstummten: Der Strom war weg.
Er hob das Gesicht zum Himmel, spürte die ersten Tropfen.
Sie hatten nicht bemerkt, dass 23010014/S/BG/411 nicht mit den anderen vom Hofausgang zurückgekommen war. Natürlich würden sie es merken, würden ihn holen, er gab ihnen noch eine Minute.
Jetzt fielen die ersten Tropfen, er roch sie, Regen auf Asphalt, und dann war das Wasser da: eine Sturzflut, ein Chaos, die Böen drückten die Spiralen des Stacheldrahts zur Seite.
Das war kein Sturm wie die letzten. Das war ein Orkan.
Der Himmel war dunkel. Nacht am Tag. Die Justizvollzugsanstalt war ebenfalls dunkel. Das Notstromaggregat war nicht angesprungen.
Er stand da, klitschnass, und spürte den Sturm in seinem Haar.
Es hätte mal wieder einen Schnitt gebraucht, aber beim letzten Mal, als der Friseur in der JVA gewesen war, hatte er sich darum gedrückt. Er hasste es, wenn sie ihm sagten, wie kurz sein Haar zu sein hatte. Wenn sie über ihn bestimmten. Die da oben.
Er war jetzt klitschnass, und endlich kühlte die Luft ab, die seit Wochen kochte.
»Hey!«, schrie er. »Hörst du, Sturm? Ich habe keine Angst!«
Er taumelte von der Wand weg, mitten in den Hof, ins Chaos, und auf einmal fühlte er sich betrunken, er lachte, ganz allein im Sturm. Und dann hörte er das Wasser.
Von jenseits der Mauern. Irgendwo dort war der Fluss, und der Fluss brüllte wie der Orkan.
Flussaufwärts tobte das Unwetter vielleicht schon länger, und er brauchte sie nicht zu sehen, um es zu wissen: Da war eine Flutwelle. Eine Flutwelle wie zuletzt vor fünf Jahren. Der Fluss bäumte sich auf und schrie.
Zwischen der JVA und dem Fluss wuchs der Sendemast in den Himmel, seine roten Warnlichter blinkten im brodelnden Himmel. Und dann sah er, wie der Mast brach.
Wie er fiel. Gleichsam in Zeitlupe. Der Mast fiel in Richtung der JVA. Fiel auf ihn zu.
Und er hatte eine seltsame Vision: Vor ihm stand sein kleiner Bruder, der die Hand ausstreckte. Tim.
»Du musst nach Hause kommen«, sagte Tim. »Das hier ist der Anfang vom Ende. Alles geht kaputt. Komm nach Hause!«
»Ich kann nicht«, antwortete er. »Und du bist viel zu klein, um solche Sachen zu sagen.«
»Nee, ich bin schon groß, du warst ja auch ein Jahr lang weg! Ich bin acht, Hannes.«
»Ich bin vierhundertelf«, sagte er.
»So alt kann man gar nicht sein«, sagte Tim.
Er sah den Mast auf sich zukommen, und er wusste, dass sein Bruder recht hatte. Dass alles zu Ende war. Dann landete der Mast, legte sich über das Dach des Gebäudes und drückte es ein, zwei Meter neben Hannes; die Platten dort barsten mit einem Krachen, das der Orkan schluckte. Ein Stück Beton traf ihn, da war ein scharfer Schmerz an seiner Schulter und seiner Stirn, und für einen Moment schwebte er in einem schwarzen Nichts.
In diesem Nichts stand ganz klar ein Gedanke: Warum? Warum habe ich gelebt? Wozu?
Eckdaten des Häftlings 411: geboren im Ghetto vor der Stadt. Hauptaufgabe: stundenlanges Anstehen in der Schlange für das Nationale Grundeinkommen, das nie reichte. Schule: nicht geschafft. Jobs: keine. Nur schwarz. Hobbys: sich die Welt schön trinken. Haftgrund: Schulden, Beamtenbeleidigung, Diebstahl eines Rollers.
Im Ghetto hungerten sie, die Hitze fraß vor dem Fenster die Straße, die Kinder spielten Fußball auf der rissigen toten Erde und lachten, und die Alten, die in den offenen Fenstern lehnten, erzählten Geschichten von früher, als es noch Gras gegeben hatte zwischen den Blocks.
Vielleicht war es gut, all dem zu entkommen: der großen, leeren Sinnlosigkeit.
Nur eins war schade: Er hatte nie geliebt.
Er war mit ein paar Mädchen im Bett gewesen - klar. Aber geliebt hatte er nie.
Er ließ sich fallen in das schwarze Nichts . Dann schüttelte ihn jemand, jemand kniete über ihm. Das sind sie, dachte er, die Wärter, sie zerren mich wieder rein, du kannst noch nicht mal selber entscheiden, wann du stirbst. Und er wand sich, wehrte sich.
»Scheiße noch mal, was soll das?«, schrie jemand durch den Sturm. »Komm zu dir, Mann!«
Hannes blinzelte. Wischte etwas aus seinen Augen. Blut, das von seiner Stirn herunterlief. Das Gesicht über ihm war bullig und vernarbt. »Neunundzwanzig«, sagte er.
Neunundzwanzig nickte. Sie nannten ihn den Schlächter.
»Los, komm!«, schrie er. »Die Sicherheitssysteme sind zusammengebrochen!« Der Regen rann über die breite Narbe an seiner Stirn, tropfte in seine Augen. »Wir können einfach gehen!«
Und Hannes sah zu, wie er auf eine der Mülltonnen kletterte und sich aufs Dach zog, das an dieser Stelle jetzt mehrere Meter niedriger war, eingedrückt vom Sendemast. Er sah all das verschwommen, sein Kopf dröhnte noch immer von der Kollision mit dem Stück Beton. Drinnen schrie jemand, Panik war ausgebrochen. Dann merkte er, dass noch jemand auf dem Dach stand. Direkt neben dem gefällten Mast. Er hielt sich daran fest, um nicht von den Böen fortgetragen zu werden, und reckte einen Arm in den Himmel, über den jetzt Blitze zuckten.
Der Prediger.
Er war verrückt, das sagten sie alle, er war älter als Hannes, vielleicht Ende zwanzig, und er stand im Essensraum auf und hielt Predigten. Von der Freiheit. Von einem Europa, das einmal vereinigt gewesen war. Von einer gemeinsamen Währung, einer goldenen Zeit. 2024, sagte er, vor sechzig Jahren . Er sprach auch von Fluten und Stürmen, vom Untergang der Welt in der letzten großen Hitzewelle, und seine dunklen Augen glühten.
Die Häftlinge lachten ihn aus, quälten ihn, die Wärter quälten genauso, sie machten sich einen Spaß daraus; er ertrug alles mit der Sanftmut eines Lammes. Aber wenn er seine Reden hielt, war er ein Löwe. Unheimlich. Und jetzt stand er da, auf dem Dach, und brüllte etwas in den Sturm. Vermutlich hielt er eine seiner Predigten.
Hannes versuchte, die Schmerzen in seinem Kopf zu ignorieren, war mit einem Sprung auf den Mülltonnen, dann auf dem Dach, kämpfte sich geduckt voran durch die Böen. Die Wunde an der Stirn blutete noch immer, aber langsam versiegte das Blut, und er hatte auch keine Zeit dafür. Jetzt sah er auf der anderen Seite des Daches den Fluss, sah, wie die Wassermassen sich in den Straßen überschlugen, Autos, Motorräder, Menschen mitrissen.
»Komm!«, schrie er dem Prediger zu.
Sie liefen gemeinsam übers Dach, krochen eigentlich mehr, waren drüben, sprangen. Rannten. Vor ihnen rannte Neunundzwanzig.
Dann verschwand er zwischen den Häusern, und jetzt waren sie ebenfalls dort. Die Stadt war ein einziges Durcheinander, Treppen führten hinab zu den Straßen unten am Ufer. Doch die Straßen hatten sich ebenfalls in reißende Flüsse verwandelt. Ein Kinderwagen schwamm vorbei.
Der Prediger sah Hannes an und nickte. »Wir müssen weg!«, schrie er. »Den Fluss runter!« Er zeigte in die Richtung, und Hannes entdeckte Neunundzwanzig, er schien die gleiche Idee gehabt zu haben; er stand auf einer Mauer neben dem Wasser und sah sich ganz offenbar nach etwas um, das sich als Boot eignete. Der Prediger zog Hannes mit sich, sie wateten durchs Wasser, an ertrunkenen Autos vorbei, ein Hund schwamm neben ihnen - war fort.
Und dann schwamm etwas vorbei. Ein losgerissener Schwimmsteg, blauer Kunststoff: wie ein Floß.
Neunundzwanzig sprang.
Hannes und der Prediger erreichten das Floß Sekunden später, Hannes stemmte sich hoch, der Regen nahm ihm die Sicht, aber irgendwie gelang es ihm, auch den Prediger hinaufzuzerren. Neunundzwanzig kauerte bereits auf dem Floß.
»Haut ab!«, brüllte er. »Ich war zuerst da!«
In diesem Moment zerbrach das Floß. Neunundzwanzig und der Prediger befanden sich auf der einen Hälfte, Hannes auf der anderen, doch die Hälfte drüben war zu klein für zwei, sie kippte . Hannes wischte sich den Regen und mehr Blut aus dem Gesicht. Als er wieder hinsah, war nur noch Neunundzwanzig auf dem Floß. Hannes suchte den Fluss nach dem Prediger ab.
Da war nichts. Nur das brodelnde Wasser.
Stunden später kam Hannes zu sich und sah sich um, und der Regen hatte nachgelassen. Er befand sich auf einer winzigen Insel im Fluss. Er wusste noch, dass er an Dächern voller Menschen vorbeigetrieben...
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