Schweitzer Fachinformationen
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3. August | Mittagessen im Stasi-Komplex der Normannenstraße/Ruschestraße. Pilzgulasch für 3 Mark 50. Die große Fensterreihe des riesigen Saals ist mit protzigen Ornamenten bemalt, sozialistischer Realismus. Ich sehe mir die Gesichter der Essenden an. Die Leute, die an den langen Sprelacarttischen sitzen, ihre Tabletts tragen, lachen oder diesen roten Tomatensaft schlürfen. Ich kenne diese Gesichter. Diese Blicke kenne ich, genau wie die Bewegungen, wenn sie mir den Kopf zudrehen. Ich habe es erlebt, aber das ist vergangen, und an der Revolution hatte ich keinen Anteil. Zurückgekommen in ein fremdes Land, ertappe ich mich dabei, nach den alten Spuren des Mangels und der Eingrenzung zu suchen, wie nach Vertrautem.
Längst vergangen die Zeit, als wir am Brandenburger Tor standen und uns darüber stritten, was besser sei - anderthalb Jahre Haft in der DDR wegen Kriegsdienstverweigerung oder zehn Jahre bezahlter Arbeit in der Braunkohle unter Tage, was in der CSSR die Strafe für dasselbe Delikt war. Währenddessen posierte eine amerikanische Touristengruppe lachend vor der Absperrung zum Brandenburger Tor, mühte sich um Fotohaltung. »What a horrible wall.« Keep smiling. Vergessen. Vielleicht ist es das.
Der Ort meines Mittagessens kommt mir vor wie die besonders perverse Form eines Abenteuerspielplatzes. Die Mörder und Menschenschinder verjagt. Ich sehe sie in den Bussen und Straßenbahnen eines Landes wieder, das meine Heimat war, das ich so genau kannte, dass ich aus ihm nur noch fortwollte. Abfahren, flüchten. Nur weg. Jetzt komme ich wieder, jetzt könnte etwas Neues beginnen. Die Fixpunkte verschwinden, zum Glück. Wird die Kraft reichen?
Übrigens, so eine Frau, die mit mir die Kantine verließ und im Paternoster ins Erdgeschoss fuhr: Dass ich mich nicht täusche, die Leute hier seien nicht von der Stasi, hier hätte man jetzt das Personal der Reichsbahn eingesetzt. Wo die frühere Belegschaft sei, wisse sie nicht. Lachende Bemerkungen über den unwahrscheinlichen Lauf der Geschichte - nirgends. Niemand scheint richtig verarbeitet zu haben, was mit ihm geschehen ist. Was mit uns allen geschehen ist.
Ich sitze auf Mielkes Sessel. Auf Mielkes Sessel sitze ich. Marko Martin, Schüler, Lehrling, Hilfsarbeiter, seine Angst versteckend in den Warteräumen der Abteilung Inneres, sitzt auf dem Sessel des Genossen Armeegeneral Erich Mielke, der in Moskaus Auftrag im Spanischen Bürgerkrieg heimlich hinter der Front Trotzkisten liquidiert hat. Das Politbüromitglied Erich Mielke, von dem nur mit Vorsicht gesprochen wurde und von dem man nie die Vorstellung eines normalen Menschen hatte, verrichtet nun als verblödeter Greis im Knast seine Notdurft, während hinter Marko Martin nicht mehr der Luftgewehrlauf des Genossen Lehrmeister Nebel liegt, sondern der Bodensee, die weißen Boote darauf, in der Ferne die Berge der Schweiz. Sitzt auf Mielkes Sessel. Greift zum roten Telefon auf dem Tisch. Alles ist wieder möglich, oder wäre es. Die Freude muss sich in Sätzen erst verbal artikulieren, die gefühlsmäßige Aufregung mit Worten hochtreiben. Zu spät. Wie ich nun zum roten Telefon greife, dieses Bild hätte ich sehen müssen, als ich jeden Morgen 5 Uhr früh im Zug nach Wittgensdorf saß. Als der Lehrling nicht wusste, was sie wieder mit ihm anstellen würden. Wenn jetzt ein junger Mann mit einer hübschen Angestellten über die Pläne einer Gedenkstätte in der ehemaligen Stasi-Burg plaudert, ist das schön, weil jetzt geredet und nicht mehr geschlagen und verschwiegen wird und weil ich selbst in Bermudas und T-Shirt im Sonnenschein auf Mielkes Sessel sitze und der Frau zuhöre und mir Notizen mache. Sie erzählt von den Spezialitäten des Hauses Nr. 1 der Stasi-Zentrale in der Normannenstraße. Goldene Panzer auf dem Schreibtisch, die Internationale aus silbernen Spieldosen. Ein DDR-Wappen, in das in altdeutscher Rittermanier ein Schwertknauf gebohrt ist, rote Feudalherren. Eine Landkarte mit eingezeichneter Stoßrichtung nach Braunschweig, geheime Todesschwüre der Stasi-Mitarbeiter, die ihr Leben bedingungslos der Partei opfern sollten. Das erzählt sie mir.
Hier bin ich groß geworden. Die Totalität der Gegenwart. Vergangenheit nur noch in Segmenten abrufbar. Die Unfähigkeit zu vergleichen, Freude und Hoffnung daraus zu schöpfen.
Im Nachbarraum tagte früher die Stasi-Elite. Das Zimmer ist eingerichtet im Stil der 50er Jahre, der Geruch von Agentenfilmen des Kalten Krieges liegt förmlich in der Luft. Holzparkett, die Wände ringsherum mit Holzschränken umstellt, helle Maserung, längliche Lampenschirme an der Decke, hinter verschiedenen Spiegeln in den Schränken orange Veloursvorhänge, neben der Tür ein gerahmtes Farbfoto: Erich Mielke zusammen mit den Fußballspielern des FC Dynamo Berlin, er selbst im Anzug, an schwarzrotgoldener Schnur eine Goldmedaille am Hals. Daneben, einen Blumenstrauß haltend, im blauen Anorak und blöd grinsend, Egon Krenz. Dicht darunter eine Bronzeplastik mit zwei Panzern, die von zwei Seiten auf eine Anhöhe zusteuern, auf der wuchtig das DDR-Emblem prangt, Hammer und Zirkel im Ehrenkranz.
Im Hof des riesigen Gebäudekomplexes, quadratische Unterdrückerarchitektur, sah ich an einem Fenster die aufgesprühten Worte: »Ihr Mörder habt Matthias Domaschk umgebracht!« Ich frage einen Uniformierten, dem ich vorher meinen Ausweis zeigen musste, der zum Besuch der Mielke-Suite berechtigte. »Weeß ich och nich so jenau. Böse Jeschichte. Is die Treppe runterjeflogen und war gleich hin. Is schon Jahre her. Unjeklärt bis heute. Wat weeß ick?«
Leben - angefüllt mit Verrat und Misstrauen. Hinterlassene Leere. Was nun? Ich habe auf Mielkes Sessel gesessen, aber was will das schon bedeuten? Auf dem Schreibtisch davor lag ein Teller mit blauem Rand, der oben im Halbrund mit den Worten bedruckt war: »25 Jahre Ministerium für Staatssicherheit«, während sich in der Mitte eine gewehrhaltende Hand vor grauem Hintergrund reckte. Neben dem Teller Lenins Anweisungen für die Tscheka. Ich blätterte in dem dicken Buch mit dem roten Umschlag und den grauen Seiten. »Niederschlagung eines Aufstandes der linken Sozialrevolutionäre 1920.« Blätterte weiter.
Gehe fort, hinaus durch dieses Tor, das jetzt offen steht, und die Pförtnerin sagt, sie sei von der Reichsbahn und wisse nicht genau, was hier früher gewesen sei. Hätte jetzt andere Sorgen. Und die großen Häuser stehen im Sonnenlicht. An ihren Mauern die Plakate: »>Bild< kämpft für Sie. Robby darf bleiben.« Schweigen. Verraten nichts von der Revolution im vergangenen Herbst, vom Januar, als in der Nacht Berliner die Normannenstraße stürmten und Hans Modrow, untergehakt mit Ibrahim Böhme, vor Ort zu den Menschen sprach, abwiegeln wollte. Wer sind diese Männer?
August 1990 in Berlin. Heute gab die Sozialministerin die neuen Arbeitslosenzahlen bekannt, während man sich in Bonn und Ostberlin über die Wahlmodalitäten verständigt hat. Die surrenden Kameras vor schwitzenden Ministern und Staatssekretären, ihre gestrigen Dementis, die heute schon Lüge sind, die hastigen, abgebrochenen, wieder aufgenommenen Sitzungen, die Beteuerungen, die Vermutungen und vorläufigen Gewissheiten in den Gängen der Parlamente. Die neuen Bürgerrechtsgruppen sollen draußen bleiben. Was sind das für Leute? Die Stummheit inmitten des Lärms.
In diesen schwülen Sommertagen erlebe ich die letzten Zuckungen eines Staates auf Abruf, dessen Ende genauso unwürdig verläuft wie seine gesamte Existenz. Was erwarte ich eigentlich? Dass wieder die Menschen mit dem Ruf »Wir sind das Volk« durch die Straßen ziehen, anstatt dem Sommerschlussverkauf entgegenzustürmen? Welchen Idealismus, für was denn noch? Fürchte ich die postkommunistische Langeweile, die Bequemlichkeit des Gehirns, die Unwilligkeit, sich zu erinnern, wenn keine Mauern und Knastschließer mehr Gedächtnishilfe leisten?
Zwei Städte gehen ineinander über, fallen übereinander her. Die Unnatürlichkeit der Trennung verschwindet. Doch deshalb jetzt neue Gebote aufstellen: »Du sollst dich nicht gewöhnen«? Weil die Normalität erkauft scheint mit der gedanklichen Kapitulation vor 28 Mauerjahren? Wer bin ich, um zu richten? Sich wundgestoßen haben am Beton und sein Zerbröckeln lachend überstehen: Habe ich das etwa geschafft?
DDR-Bürger: Menschen, die sich schon im Namen durch ihren Staat definieren, dem sie zujubeln, dem sie sich verweigern, dem sie zu entkommen suchen. Wann ist man wirklich entkommen? Der staatliche Untergang führt scheinbar nicht zum explosiven Anstieg der Lebenswut der Bürger. Stehen weiter geduldig irgendwo an, geben ausweichende Antworten, wenn man sie über die Vergangenheit fragt, quälen sich in blauen DDR-Socken mürrisch durch den Alltag. Sind sie einander gram, weil sie, wie der polnische Schriftsteller Kasimir Brandys sagt, »sich und einander ihre Fähigkeit bewiesen haben, unter Diktatoren zu leben«? Ein buntes Panorama - von Existenzangst und Genussgeilheit, von in Wermut ertränkter Frustration in schrillen Szene-Kneipen, von Selbstmordversuchen und hastigen Kopulationen hinter neuen Westreklamen - wird vor den grauen Fassaden der Häuser nicht geboten. Die bunten Vögel einer Großstadt halten sich im Osten zurück. Die Nutten bleiben in den Hofeingängen. Politische Diskussionen? Höchstens schlecht abgezogene Trotzkistenflugblätter, die alsbald überklebt werden mit Ankündigungen von Schlagerfestivals ohne Grenzen. Es geht im alten Trott. Keine Spur von urbanem Nachtleben. Die Angst und die Lust kehrt sich immer noch nach innen. Das Gefühl von Erstickenmüssen, von Restauration, die in ihrem Mief die Vergangenheit einer Revolution nicht einmal mehr erahnen lässt. Dafür steigern die Zeitungen das Tempo. »Kohl will Wahlen im Oktober«, »Opposition spricht von Putsch«, »Heißer Herbst erwartet: DDR...
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