Schweitzer Fachinformationen
Wenn es um professionelles Wissen geht, ist Schweitzer Fachinformationen wegweisend. Kunden aus Recht und Beratung sowie Unternehmen, öffentliche Verwaltungen und Bibliotheken erhalten komplette Lösungen zum Beschaffen, Verwalten und Nutzen von digitalen und gedruckten Medien.
Nicht mehr ganz nüchtern, aber schon wieder frohen Mutes schlenderte Lucien am frühen Abend von seiner Wohnung durch die engen Gassen von Villefranche-sur-Mer zum Restaurant P'tit Bouchon. Er hatte keinen Tisch reserviert, was in seinem Fall auch nicht nötig war, denn ihm gehörte das Lokal. Auf dem Weg begegnete ihm eine hübsche junge Frau. Früher hätte sie ihn stürmisch umarmt. Immerhin hatten sie mal eine Nacht zusammen verbracht. Dass sie sich das in der Öffentlichkeit nicht mehr traute, lag an ihrer Uniform der Police municipale. Es war ihm unerklärlich, warum sie ausgerechnet einen Beruf mit so rigiden Bekleidungsvorschriften ergriffen hatte, das passte gar nicht zu ihr. Auch stand sie jetzt streng genommen auf der anderen Seite des Gesetzes. Dass sie ihm dennoch einen flüchtigen Kuss auf die Wange hauchte, überraschte ihn. Durfte sie das überhaupt? Gleichzeitig ging ihm durch den Kopf, dass es nicht schaden konnte, bei der kommunalen Polizei eine Verbündete zu haben. Schon deshalb, weil er mit seiner Vespa bevorzugt bei Rot über Ampeln fuhr und Einbahnstraßen notorisch missachtete.
Lucien kam an der Église Saint-Michel vorbei. Vor der Kirche hatte er eine weitere unerwartete Begegnung. Diesmal mit dem Pfarrer, der ihn mit den Worten Salut à toi, mon ami begrüßte. Dabei hob er die Hände zum Himmel. Gleichzeitig versperrte er ihm geschickt den Weg, sodass sich Lucien auf ein Gespräch einlassen musste.
»Lucien, mein lieber Freund, dich schickt der Himmel«, begann der Pfarrer.
Lucien dachte, dass seine von den Vätern ererbte Mission eher in der Hölle ihren Ursprung hatte. Denn das Töten von Menschen vertrug sich nicht mit dem fünften Gebot.
»Wie du weißt«, fuhr der Pfarrer fort, »hat dein Vater, Gott hab ihn selig, unsere Kirche gelegentlich mit einer großzügigen Spende bedacht. So hat erst seine finanzielle Zuwendung die Instandsetzung der wunderbaren Mosaikziegel auf dem Dach unseres Glockenturms ermöglicht. Er war ein wahrer Christenmensch.«
Lucien ging der Ablasshandel der katholischen Kirche durch den Kopf, mit dem man sich im Mittelalter von seinen Sünden freikaufen und die Zeit im Fegefeuer verkürzen konnte. Er fürchtete nur, dass das bei seinem Vater nicht funktionierte.
»Ich erinnere mich«, sagte Lucien. »Wobei meine Mutter die treibende Kraft hinter den Spenden war.«
Der Pfarrer nickte.
»Ich weiß, die Contessa Laetitia hatte ein goldenes Herz. Wie so viele Italienerinnen stand sie der Kirche besonders nahe.« Er räusperte sich verlegen. »Nun hoffe ich, dass auch du, mein lieber Lucien, unserer Kirche einen Dienst erweisen kannst. Hast du einen Moment Zeit? Dann würde ich dir gerne unsere fantastische Orgel zeigen. Sie stammt aus dem Jahre 1790 und ist ein Meisterwerk der Gebrüder Grinda aus Nizza .«
»Ich bin leider etwas in Eile«, unterbrach ihn Lucien. »Außerdem kenne ich die Orgel. Kombiniere ich richtig, dass nach den Mosaikziegeln auf dem Glockenturm nun die Orgel restauriert werden muss?«
»Du kombinierst richtig, mein Sohn. Leider ist das ein ausgesprochen kostspieliges Unterfangen. Nun hoffe ich, dass du die ehrenvolle Tradition deiner Familie fortsetzt und uns mit einer großzügigen Spende hilfst.«
Lucien fragte sich, warum er das tun sollte. Er hätte nur etwas davon, wenn er häufiger in die Kirche ginge und die Orgel mit eigenen Ohren hören könnte. Dann aber kam ihm die Vorliebe seiner Mutter für Orgelmusik in den Sinn. Vor allem die Werke von Johann Sebastian Bach hatten es ihr angetan. Auch jene der Franzosen César Franck und Olivier Messiaen. Die Namen kannte er von ihr. Sein persönlicher Musikgeschmack war definitiv ein anderer.
»Wie großzügig müsste eine solche Spende ausfallen?«, fragte Lucien lächelnd.
Im Gesicht des Pfarrers löste sich die erwartungsvolle Anspannung.
»Das, mein Sohn, bliebe natürlich dir überlassen. Aber eine fünfstellige Summe wäre von großem Nutzen.«
Fünfstellig? Das eröffnete einen großen Spielraum, überlegte Lucien.
»Dann gehen Sie mal davon aus, dass sich die Familie Chacarasse an der Orgel beteiligt«, sagte er.
Der Pfarrer bekreuzigte sich.
»Ich danke dir, mein Sohn.«
»Sie müssen nicht mir danken, sondern meiner verstorbenen Mutter. Sie hätte es so gewollt.«
»Que Dieu la bénisse, Gott segne sie!«
Weil es nur noch wenige Schritte bis zum P'tit Bouchon waren, blieben ihm weitere Begegnungen erspart. Erst recht solche, die ins Geld gingen. Wäre er nur ein kleiner Restaurantbesitzer, hätte ihn der curé kaum um eine Spende gebeten. Allenfalls hätte er sich zum Abendessen einladen lassen. Lucien kannte seine Vorlieben. Gerne bestellte er chateaubriand au foie gras. Das Rinderfilet mit Gänsestopfleber war eines der teuersten Gerichte auf der Speisekarte. Gleiches galt für den Pinot noir aus dem Burgund. Der Pfarrer hatte einen erlesenen Geschmack - vorausgesetzt, er musste nicht zahlen.
Vor dem Betreten des Lokals warf Lucien einen Blick auf die Schiefertafel mit den plats du jour. Zum Auftakt, pour commencer, empfahl sein Chefkoch Roland heute tartare de tomates à la menthe fraîche. Danach, à suivre: les raviolis de daube à la niçoise. Und als Hauptgang entweder eine ganze dorade oder gambas flambées. Lucien lächelte zufrieden. Erst vor einigen Tagen hatte er sich mit Roland, nicht zum ersten Mal, eine heftige Diskussion geliefert. Er solle nicht immer Tagesgerichte empfehlen, die so kreativ waren, dass sie keiner verstand - nicht einmal das Servicepersonal. Offenbar hatte Roland die Kritik beherzigt. Blieb abzuwarten, wie lange er durchhielt.
Die Tische im P'tit Bouchon waren schon zum Teil belegt. Paul, der an einem Stehtisch mit dem carnet de réservation stand und die Gäste willkommen hieß, begrüßte Lucien mit der Nachricht, dass sie komplett ausgebucht seien. Er habe schon die ersten unangemeldeten Gäste wegschicken müssen. Allerdings habe er eine Ausnahme gemacht. Vor fünf Minuten sei plötzlich Achille Giraud aufgetaucht. Er wollte den Capitaine der Gendarmerie nationale nicht brüskieren und habe ihn an Luciens table du patron gesetzt.
Paul hob entschuldigend die Schultern. Er wisse, dass er ihm damit den Abend verdorben habe .
»Pas de problème«, unterbrach ihn Lucien. »Achille ist zwar ein Quälgeist, aber einer, den ich lieber zum Freund als zum Feind habe. Außerdem hat er mich schon entdeckt. Zu spät also, um mich zu verdrücken.«
»Er hat bereits einen Weinwunsch geäußert. Ob wir einen Château Margaux auch glasweise ausschenken, hat er gefragt.« Paul sah Lucien verschmitzt an. »Weil er sich wie immer eingeladen fühlt, schlage ich einen kleinen Etikettenschwindel vor. D'accord?«
Lucien verstand sofort, was er vorhatte.
»Natürlich bin ich einverstanden«, antwortete er grinsend. »Aber nicht übertreiben. Ganz so dumm ist Achille nämlich auch nicht. Ein Rotwein aus dem Médoc sollte es schon sein.«
Eine Viertelstunde später kam Paul mit einer Flasche Margaux an ihren Tisch. Er entschuldigte sich für die Verspätung. Aber eine Champagner-Bestellung für einen wichtigen Stammgast sei dazwischengekommen. Paul zeigte kurz die Flasche mit dem Etikett. Amüsiert beobachtete Lucien, wie er dabei den Flaschenhals verdeckte, damit die entfernte Kapsel nicht auffiel. Das konnte Paul gut, denn er hatte riesige Hände. Mit seiner hünenhaften Statur entsprach er kaum der Vorstellung eines feingliedrigen Sommeliers. Er wirkte eher wie ein Catcher - was er bis zu seiner Anstellung im P'tit Bouchon auch gewesen war.
Achille nickte zustimmend. Un bon millésime, stellte er fest. Ob er sich mit den Jahrgängen wirklich so gut auskannte?
Lucien fand, dass der Capitaine immer dreister wurde. Früher hatte er sich mit preisgünstigen Weinen begnügt. Mittlerweile war er beim Margaux angelangt. Viel Steigerungsmöglichkeiten gab es kaum. Das nächste Mal vielleicht ein Pétrus? Da würde Lucien nicht mitspielen. Obwohl ihm klar war, dass der Capitaine etwas gegen seine Familie in der Hand hatte. Er wusste nicht, was, aber offenbar so viel, dass sein Vater ihm regelmäßig einen Scheck hatte zukommen lassen. Lucien hielt es für klug, diese Tradition fortzusetzen. Aber regelmäßige Einladungen ins P'tit Bouchon hatten sie nicht vereinbart. Erst recht nicht Weinbestellungen in dieser Preisklasse.
Paul entkorkte die Bouteille. Nach Luciens Überzeugung nicht zum ersten Mal. Er dekantierte den Wein in eine Karaffe.
»Er bräuchte noch etwas Luft zum Atmen«, sagte er.
»Kann schon sein«, erwiderte Achille, »aber Luftholen kann er in meinem Gaumen. Nun schenk schon ein!«
Lucien schwenkte den Wein im Glas. Er tat so, als ob er die Farbe begutachten würde. Er inhalierte die Aromen. Ohne weitere Verkostungsrituale nahm er einen ersten Schluck.
»Très bon«, stellte er fest. Das war nicht gelogen. Für einen durchschnittlichen Cru bourgeois war er wirklich nicht schlecht.
»Excellent«, stimmte ihm Achille mit einem Zungenschnalzer zu.
Einem weiteren vergnüglichen Verlauf des Abends stand also nichts mehr im Wege. Bald hatte der Capitaine einen Schwips. Auto fahren dürfte er jedenfalls nicht mehr. Mit einem Blaulicht auf dem Dach aber ging es wohl doch. Zum Abschied bedankte sich Achille für Luciens Großzügigkeit. Er gab ihm einen Kuss auf die Stirn. Lucien ertrug es mit Fassung. Den einen küsste die Muse, bei ihm tat es halt ein...
Dateiformat: ePUBKopierschutz: Wasserzeichen-DRM (Digital Rights Management)
Systemvoraussetzungen:
Das Dateiformat ePUB ist sehr gut für Romane und Sachbücher geeignet - also für „fließenden” Text ohne komplexes Layout. Bei E-Readern oder Smartphones passt sich der Zeilen- und Seitenumbruch automatisch den kleinen Displays an. Mit Wasserzeichen-DRM wird hier ein „weicher” Kopierschutz verwendet. Daher ist technisch zwar alles möglich – sogar eine unzulässige Weitergabe. Aber an sichtbaren und unsichtbaren Stellen wird der Käufer des E-Books als Wasserzeichen hinterlegt, sodass im Falle eines Missbrauchs die Spur zurückverfolgt werden kann.
Weitere Informationen finden Sie in unserer E-Book Hilfe.