Prolog
Tregenna Farm, Tasmanien, 24. Dezember 1888
Wie ein blutroter Ball ging die Sonne am wolkenlosen Horizont auf. Obwohl es erst sechs Uhr war, flimmerte die Luft bereits jetzt vor Hitze über den Wiesen, die sich meilenweit dem Betrachter darboten. Lorna Marshall lehnte am Fensterrahmen und starrte auf das Land. Auf ihrer Stirn hatten sich Schweißperlen gebildet. Eine Tür klapperte, und Lorna sah ein Hausmädchen mit einer Kanne Milch über die hölzerne Veranda laufen.
»Komm wieder ins Bett, Liebes. Es ist noch früh.«
Lorna drehte sich um. Clark Marshall richtete sich aus den Kissen auf und gähnte ausgiebig. Seine Haare, die immer noch dicht und voll und nur von wenigen grauen Strähnen durchzogen waren, standen zerzaust in alle Richtungen von seinem markanten Schädel ab.
Lorna lächelte und sah ihn liebevoll an.
»Ich kann nicht mehr schlafen, Clark, und es gibt heute noch so viel zu tun.«
Clark grinste und streckte sich.
»Ja, du musst zum zehnten Mal kontrollieren, ob die Zimmer der Jungs ordentlich geputzt und die Geschenke verpackt worden sind und ob die Köchin auch wirklich ihre Lieblingsspeisen vorbereitet hat.«
Lorna griff nach einem Kissen auf dem Stuhl neben ihr und warf es Clark mitten ins Gesicht.
»Mach dich ruhig lustig über mich, Clark Marshall! Du hast die beiden doch genauso vermisst wie ich, das kannst du nicht leugnen.«
Statt einer Antwort streckte Clark beide Arme aus, und Lorna eilte zum Bett, kniete auf den Vorleger und schmiegte den Kopf an seine Brust. Clarks Hand streichelte zärtlich über ihr Haar.
»Du hast recht, Liebes, auch ich kann es nicht erwarten, bis die Jungs endlich wieder daheim sind.«
Das Herz war Lorna schwer geworden, als ihr älterer Sohn Seamus vor drei Jahren die Farm verließ, um in Hobart zur Schule zu gehen.
Richtig schlimm war es aber im letzten Jahr gewesen, als auch Gordon diesen Weg antrat. Es gab jedoch keine andere Möglichkeit, ihre Schulbildung zu vervollständigen, als das exklusive Internat in der Hauptstadt. Hier oben im Norden von Tasmanien in der Nähe von Launceston gab es keine vergleichbare Einrichtung, in der die Kinder der vermögenden Farmbesitzer unterrichtet und für das Leben ausgebildet werden konnten. Wegen der weiten Entfernung kamen die Söhne nur zweimal im Jahr nach Hause, und jedes Mal war das für Lorna und Clark ein großes Fest. Heute, an Weihnachten, würden beinahe alle Nachbarn aus der Umgebung am Abend auf die Farm kommen. Seit Jahren war es Brauch, dass die Marshalls von Tregenna zum Fest luden, denn die Farm war im Umkreis von hundert Meilen das prächtigste und reichste Anwesen. Und die Leute kamen gerne. Die Farmen lagen so weit auseinander, dass man sich während des Jahres selten sah, und Zeit für regelmäßige Festivitäten hatten nur wenige von ihnen. So nahm man gerne die Gelegenheit wahr, an Weihnachten den neuesten Klatsch und Tratsch, aber auch Geschäftliches auszutauschen.
»Seamus ist vor zwei Monaten achtzehn geworden und damit ein richtiger Mann«, sagte Lorna. »Es ist unglaublich, wie die Zeit vergeht. Mir scheint, als wäre es erst gestern gewesen, dass ich ihn als Säugling in meinen Armen gewiegt habe.«
Clark lachte und drückte Lorna einen Kuss mitten auf die Lippen.
»Noch ein Jahr, dann wird Seamus auf der Farm mithelfen, während Gordon wohl die juristische Laufbahn einschlagen wird.« Der jüngere Sohn der Marshalls interessierte sich mit seinen fünfzehn Jahren schon sehr für alles, was mit Gesetz, Recht und Ordnung zu tun hatte. »Einen Anwalt oder Richter in der Familie zu haben, das kann nicht schaden.«
Lorna seufzte, aber ein Lächeln huschte über ihr Gesicht.
»Auch wenn mich Seamus um mehr als einen Kopf überragt und Gordon ein wandelndes Lexikon ist, für mich werden sie immer meine beiden kleinen Jungs bleiben.« Sie löste sich von ihrem Mann und erhob sich. »Jetzt muss ich mich aber sputen, sonst werde ich die beiden noch im Nachthemd empfangen.«
Die Zeit schien nicht vergehen zu wollen, bis endlich die Kutsche durch den großen hölzernen Torbogen mit der Aufschrift Tregenna Farm rollte. Die Räder waren noch nicht zum Stillstand gekommen, als der Schlag bereits aufgerissen wurde und ein großer, schlanker junger Mann heraussprang, gefolgt von einem etwas kleineren, dessen rötliche Haare unordentlich vom Kopf abstanden und der ein jüngeres Abbild seines Vaters war.
Lorna breitete beide Arme aus und schämte sich nicht ihrer Tränen, als sich die Söhne an ihre Brust schmiegten.
»Fröhliche Weihnachten, Mama«, ertönte es im Chor, und dann sagte Seamus: »Mensch, habe ich einen Hunger! Ich könnte ein ganzes Rind vertilgen.«
Lorna lachte.
»Ganz so viel hat Mrs. Carson nicht vorbereitet, aber ich glaube, sie hat vorhin Lammpasteten mit Minze in den Ofen geschoben .«
»Mein Leibgericht! Komm, Gordon, wir schauen, ob sie schon fertig sind.«
Die beiden Jungen stoben davon, und Lorna sah ihnen lächelnd nach. Auch wenn sie an der Schwelle zum Erwachsensein standen, benahmen sie sich oft genug wie zwei wilde Lausejungen.
Während des Lunchs erzählten Seamus und Gordon Erlebnisse aus dem Schulalltag, und Gordon erwähnte wie nebenbei seine hervorragenden Noten und die Auszeichnung, die er im letzten Monat für seine außergewöhnlichen Leistungen erhalten hatte.
Seamus verzog in gespielter Empörung das Gesicht.
»Mein kleiner Bruder ist ein Streber, da kann ich nicht mithalten«, sagte er neckend. »Wozu brauche ich Latein und Griechisch, um Schafe züchten zu können? Die verstehen nur Englisch, mir liegt das Lernen von trockenen Vokabeln einfach nicht.«
»Stell dein Licht nicht unter den Scheffel, Seamus«, warf Clark ein. »Du kannst vieles, bei dem dein Bruder sich etwas ungeschickt anstellt. Lateinische Sprachkenntnisse nützen nichts, wenn es gilt, einen Zaun zu reparieren, und im Gegensatz zu dir hat Gordon zwei linke Hände, wenn es um handwerkliche Tätigkeiten geht, nicht wahr, mein Sohn?«
Gordon grinste, nahm sich eine dritte Pastete von der Platte und biss statt einer Antwort herzhaft hinein.
Voller Stolz blickte Lorna auf ihre kleine Familie. Gerne hätte sie noch mehr Kinder gehabt, eine Tochter wäre schön gewesen, aber Gott hatte sie und Clark mit zwei prächtigen, gesunden und intelligenten Söhnen belohnt. Sie selbst war jetzt achtundvierzig Jahre alt, fühlte sich aber wesentlich jünger und agiler, ebenso wie Clark, der die Fünfzig bereits überschritten hatte. Die Farm und die Schafzucht warfen von Jahr zu Jahr höhere Erträge ab, und von Missernten, Bränden, Überschwemmungen oder sonstigen schweren Schicksalsschlägen waren sie weitgehend verschont geblieben. Heute war Weihnachten, das sie im Kreise von zahlreichen Freunden feiern würden, und in wenigen Tagen brach ein neues Jahr an .
Kurz glitt ein Schatten über Lornas Gesicht, denn für einen Moment stieg in ihr die Erinnerung an Weihnachtstage auf, an denen es draußen stürmte und regnete, manchmal sogar schneite. Weihnachtstage, an denen ein großes Feuer im Kamin prasselte und heißer Weinpunsch ausgeschenkt wurde. Weihnachtstage, an denen sie mit Menschen, die sie liebte, Hand in Hand in der Kirche gestanden und aus voller Kehle gesungen hatte .
»Mama, hast du nicht zugehört?«
Gordons Stimme riss Lorna aus ihren Erinnerungen.
»Oh, verzeih, was hast du gesagt?«
»Ich fragte, ob ich in den nächsten Ferien einen Freund aus dem Internat zu uns einladen darf. Seine Eltern unternehmen eine Reise nach Europa, er müsste dann ganz allein in der Schule bleiben.«
Lorna lächelte, doch plötzlich fiel es ihr schwer, wieder unbeschwert glücklich zu sein.
»Aber sicher, mein Junge. Bring ihn ruhig mit.«
Clark beobachtete seine Frau und runzelte sorgenvoll die Stirn. Die Söhne hatten den Stimmungswandel nicht bemerkt, er aber kannte den Ausdruck in Lornas Augen, der sich wie ein trüber Nebel über ihre Pupillen legte, wenn sie an die Vergangenheit dachte. Als sie damals vor zwei Jahrzehnten einwilligte, seine Frau zu werden, hatte sie eine Bedingung gestellt.
»Clark, ich kann nur deine Frau werden, wenn du bereit bist, die Vergangenheit zu vergessen und niemals Fragen zu stellen. Du weißt, was ich getan habe, aber ich möchte . nein, ich muss alles hinter mir lassen.«
Clark hatte zugestimmt, denn er hatte Lorna begehrt wie keine Frau zuvor. Und er liebte sie noch heute unvermindert und hätte keinen Tag in den letzten zwanzig Jahren missen mögen. Aber es zerriss ihm beinahe das Herz, wenn er sah, wie Lorna grübelte und ihre Gedanken nicht aus der Vergangenheit lösen konnte. Wie oft hatte er versucht, sie zum Reden zu bewegen, in der Meinung, Lorna würde eine Last von den Schultern genommen, wenn sie über alles sprach. Aber Lorna hatte geschwiegen, so wie sie heute erneut schwieg. Seine Liebe war groß genug, ihren Wunsch zu respektieren, und stark genug, keine Fragen zu stellen. Clark wusste nicht viel über Lornas Kindheit und Jugend. Er wusste nur, dass sie vor vielen, vielen Jahren einen Menschen getötet hatte .
»Dad, wo bist du jetzt mit deinen Gedanken?«
Hastig fuhr er sich über die Augen und wandte die Aufmerksamkeit Seamus zu, der eine Frage zu einer neuen Kreuzung zweier Schafarten stellte, an der Clark seit einiger Zeit experimentierte.
Bewundernd glitt Clarks Blick über die anmutige und elegante Gestalt seiner Frau, die trotz der Jahre und der zwei Geburten noch rank und schlank war. Lorna war keine Schönheit im landläufigen Sinn, aber von einer Natürlichkeit und Herzlichkeit, die Clark vom Tag...