1 - Inhalt und Geleitwort [Seite 7]
2 - Einführung [Seite 15]
3 - Teil 1: Die vier Stufen der Risikokompetenz und deren Förderung [Seite 21]
3.1 - 1 Risiko und Risikokompetenz [Seite 23]
3.1.1 - 1.1 Vom Paradies zur Risikoanalyse [Seite 23]
3.1.2 - 1.2 Kinder erzählen über Glück, Pech und Risiken [Seite 28]
3.1.3 - 1.3 Die vier Stufen der Risikokompetenz [Seite 32]
3.1.4 - 1.4 Risikokompetenz in der Schule [Seite 36]
3.1.4.1 - 1.4.1 Motivation und Zielsetzung dieses Buches [Seite 36]
3.1.4.2 - 1.4.2 Eine Warnung vor Testeritis [Seite 38]
3.1.4.3 - 1.4.3 Eine Warnung vor intellektueller Frühförderung [Seite 39]
3.2 - 2 Unsicherheiten und Risiken erkennen (Kompetenzstufe 1) [Seite 43]
3.2.1 - 2.1 Aufmerksamkeit und Fokus [Seite 44]
3.2.2 - 2.2 Irreführende Stichproben und irregeführte Schätzungen [Seite 46]
3.2.3 - 2.3 Bestätigungsfehler, Echokammern und Filterblasen [Seite 49]
3.2.4 - 2.4 Statistiken erheben und verwenden [Seite 50]
3.3 - 3 Analysieren und Modellieren (Kompetenzstufe 2) [Seite 59]
3.3.1 - 3.1 Die Hilfsmittel für die zweite Kompetenzstufe [Seite 59]
3.3.2 - 3.2 Bildgitter und ihre Vorteile [Seite 64]
3.3.3 - 3.3 Bäume und Doppelbäume [Seite 72]
3.3.4 - 3.4 Anteile und der Vergleich von Anteilen [Seite 78]
3.3.5 - 3.5 Absolute und relative Risikoreduktion [Seite 80]
3.3.6 - 3.6 Merkmale im Verbund [Seite 85]
3.3.7 - 3.7 Natürliche Häufigkeiten statt Wahrscheinlichkeiten [Seite 90]
3.3.8 - 3.8 Das Rechnen mit Wahrscheinlichkeiten in der Oberstufe [Seite 95]
3.3.9 - 3.9 Der Werkzeugkasten zur Analyse und Modellierung von Risiken [Seite 99]
3.4 - 4 Abwägen und Vergleichen (Kompetenzstufe 3) [Seite 101]
3.4.1 - 4.1 Von mechanischen Waagen zu mentalen Prozessen [Seite 102]
3.4.2 - 4.2 Abwägen und Vergleichen als Grundlage für Entscheidungen [Seite 103]
3.4.3 - 4.3 Abwägen und Argumentieren bei Kindern und Jugendlichen [Seite 105]
3.4.3.1 - 4.3.1 Viele unbekannte gegen wenig bekannte Fürsprecher [Seite 106]
3.4.3.2 - 4.3.2 Kleine Streuung gegen große Streuung [Seite 107]
3.4.3.3 - 4.3.3 Ertrag und Risiko gegen Gesundheit und Umwelt [Seite 108]
3.4.3.4 - 4.3.4 Eigennutz gegen Gemeinwohl [Seite 109]
3.4.4 - 4.4 Ist bewusstes Abwägen typisch menschlich? [Seite 111]
3.5 - 5 Entscheiden und Handeln (Kompetenzstufe 4) [Seite 117]
3.5.1 - 5.1 Intuitives Entscheiden und Bauchgefühle [Seite 117]
3.5.2 - 5.2 Einfache Entscheidungsregeln und Heuristiken [Seite 121]
3.5.3 - 5.3 Komplexe Entscheidungsstrategien und Kalküle [Seite 124]
3.5.4 - 5.4 Bauchgefühle, Heuristiken und Kalküle: Ein Vergleich [Seite 131]
3.6 - 6 Spielplätze des Risikos [Seite 133]
3.6.1 - 6.1 Alte und neue Spielplätze [Seite 133]
3.6.2 - 6.2 Würfelspiele [Seite 134]
3.6.2.1 - 6.2.1 Das Gänsespiel [Seite 135]
3.6.2.2 - 6.2.2 Mensch ärgere dich nicht [Seite 136]
3.6.2.3 - 6.2.3 Zwei Würfel [Seite 139]
3.6.2.4 - 6.2.4 Schweinereien mit dem Schweinwürfel [Seite 141]
3.6.3 - 6.3 Wer ist es? Oder das Risiko, Bits zu verschwenden [Seite 146]
3.6.4 - 6.4 Schach [Seite 147]
3.6.4.1 - 6.4.1 Zwei einfache Beispiele [Seite 149]
3.6.4.2 - 6.4.2 Ein etwas komplexeres Beispiel [Seite 151]
3.6.4.3 - 6.4.3 Risiko, Ressourcen und Persönlichkeit [Seite 153]
4 - Teil 2: Psychologie des Risikos und Anwendungsbereiche [Seite 157]
4.1 - 7 Risikobereitschaft: Was ist das und wie misst man sie? [Seite 159]
4.1.1 - 7.1 Wie misst man Risikobereitschaft? [Seite 159]
4.1.2 - 7.2 Risikobereitschaft und Persönlichkeit [Seite 163]
4.1.3 - 7.3 Risikobereitschaft in verschiedenen Lebensbereichen [Seite 165]
4.1.4 - 7.4 Risikobereitschaft über die Lebensspanne hinweg [Seite 166]
4.2 - 8 Ist Mut männlich und Vorsicht weiblich? [Seite 169]
4.2.1 - 8.1 Risikobereitschaft bei Jungen und Mädchen [Seite 169]
4.2.2 - 8.2 Risikobereitschaft bei Männern und Frauen [Seite 171]
4.2.3 - 8.3 Geschlechtsunterschiede bei der Risikobereitschaft: Erziehung oder Natur? [Seite 173]
4.2.4 - 8.4 Männer wagen, Frauen zagen - und nun? [Seite 177]
4.3 - 9 Risiken im Alltag von Kindern und Jugendlichen [Seite 181]
4.3.1 - 9.1 Risiken von Kindern einst und jetzt [Seite 182]
4.3.2 - 9.2 Der digitale Alltag unserer Kinder und Jugendlichen [Seite 184]
4.3.3 - 9.3 Gefahren und Risiken des digitalen Alltags [Seite 186]
4.3.3.1 - 9.3.1 Das Fegefeuer der Eitelkeiten [Seite 186]
4.3.3.2 - 9.3.2 Big Brother und Big Data [Seite 192]
4.3.4 - 9.4 Digitalisierte Schule, kognitive Entwicklung und Bildung [Seite 198]
4.3.5 - 9.5 Chancen und Risiken der Digitalisierung - eine Bilanz [Seite 209]
5 - Schlussbemerkung [Seite 213]
6 - Zu den Materialien [Seite 215]
7 - Referenzen [Seite 217]
8 - Über die Autoren [Seite 223]
1 Risiko und Risikokompetenz
Es war einmal . So beginnen viele Märchen, insbesondere die der Gebrüder Grimm. Anschließend wird in der Regel der Protagonist des Märchens genannt und seine Geschichte erzählt - meist eine Folge von Ereignissen, Widerfahrungen und Prüfungen. Der Protagonist, von dem wir im ersten Kapitel erzählen, ist zunächst die Menschheit. Im ersten Abschnitt dieses Kapitels gehen wir der Frage nach, wie sich die Verfassung der Menschen und damit auch ihr Verhältnis zum Thema Risiko im Laufe der Zeit verändert hat. Im zweiten Abschnitt lassen wir dann Kinder zu Wort kommen, um so etwas über ihr Verhältnis zu Unsicherheiten, Wahrscheinlichkeiten und Risiken zu erfahren.
Auch wenn wir weder bei der Entwicklung der Menschheit noch bei der kindlichen Entwicklung weit zurückgehen werden, so reichen doch schon einige wenige Einblicke aus, um zu sehen, dass es ein weiter Weg war (bzw. ist) von einem ersten, intuitiven Erfassen von Risiken bis hin zu klaren Begriffen, adäquaten Modellen und kompetenten Entscheidungen in riskanten Situationen. Diesen Weg kann man auch als den Aufbau von Risikokompetenz beschreiben, und genau dies wollen wir im dritten Abschnitt etwas näher ins Auge fassen. Das vierstufige Modell für den Aufbau von Risikokompetenz, welches wir dort vorstellen, bildet dabei zugleich die Struktur für die folgenden vier Kapitel (2, 3, 4 und 5). Im letzten Abschnitt schließlich (1.4) besprechen wir methodisch-didaktische Aspekte der Vermittlung von Risikokompetenz.
1.1 Vom Paradies zur Risikoanalyse
Jedes Volk hat seine Mythen. Sie alle erzählen davon, wie die ersten Menschen aus einem göttlichen Weltengrund hervorgingen und zunächst auch in Gemeinschaft mit Göttern lebten. Aber die Mythen berichten des Weiteren, wie sich diese Verbindung veränderte. Gemäß einer der beiden Schöpfungsgeschichten aus dem Alten Testament wurden die ersten Menschen aus dem Paradies vertrieben, in welchem sie zuvor noch im Einklang mit dem Willen Gottes lebten. Und die germanische Sage berichtet von Ragnarök - der Götterdämmerung. Diese Trennungen und Distanzierungen wurden vielfach als Verlust erlebt, doch im Gegenzug erlangten die Menschen Selbstbewusstsein und wurden zur Eigenverantwortung aufgerufen.
Auf diesem Weg verstummten die Götter allerdings nicht von heute auf morgen und auch nicht für alle Menschen zur gleichen Zeit. Vielmehr gab es Vermittler. So haben die Götter z. B. noch zu den Propheten bzw. durch Orakel gesprochen, und dies zu Zeiten, als andere sie schon nicht mehr direkt vernehmen konnten. Das war zumindest das Verständnis der damaligen Menschen. Heutige Atheisten sehen das natürlich anders und haben z. B. für die wirren Reden und die Rauschzustände der Pythia, des Orakels von Delphi, ganz banale physiologische Erklärungen.
Aber nicht nur Personen, auch Gegenstände wurden zu Götterboten. Noch im Mittelalter wurden Runen, Würfel oder Muscheln für die "Divination" verwendet: Sie wurden zu Werkzeugen, um den Willen der Götter zu erforschen. Was sich für uns heute als Zufallsexperiment darstellt, das war für unsere Vorfahren in einem bestimmten Kontext ein Gottesurteil. Ähnliches lässt sich z. B. auch für eine Geburt sagen. Stirbt dabei heutzutage in einer Klinik Mutter oder Kind, so stehen die Ärzte am Pranger und müssen nachweisen, dass sie keine Fehler gemacht haben. Vor wenigen Jahrhunderten noch wäre niemand auf die Idee gekommen, hier von menschlichem Versagen zu sprechen - da war das einfach Gottes Wille. Was zeigt sich daran? Nun, aus dem Darinnen-Stehen in einer als göttlich empfundenen Ordnung, deren Weisheit man mit Ehrfurcht begegnete und der man sich fügte, wurde ein Sich-gegenübergestellt-Sehen einer Reihe von Gefahren und Bedrohungen, die es mittels Wissenschaft und Technik zu beherrschen gilt. Und damit sind wir auch schon unversehens beim Thema Risiko angelangt.
Woher kommt eigentlich das Wort "Risiko", und was war ursprünglich damit gemeint? Wir finden das lateinische Wort risicum erstmals ab der zweiten Hälfte des 11. Jahrhunderts, wo es in Verträgen, sogenannten commende, zwischen reisenden Kaufleuten und ihren Kapitalgebern in den italienischen Seerepubliken Genua, Venedig und Pisa verwendet wird (Scheller, 2017). "Risiko" ist vom Verb resicare abgeleitet, das unter anderem "zerreißen" oder "brechen" bedeutet, und beinhaltet nicht nur Gefahr (periculum), sondern auch Verlust. Die spanischen und portugiesischen Verben razgar und riscar für "zerreißen" sind davon abgeleitet.
Entsprechend verpflichteten Kapitalgeber die reisenden Kaufleute im Mittelalter, ihnen Werte - sollten diese verloren gehen - zu ersetzen. Kam es dann tatsächlich zu einem Verlust, so konnte das einen Händler vollständig ruinieren. Um dieses "Risiko" zu minimieren, begannen die Kaufleute sich zusammenzuschließen und gegenseitig abzusichern (Scheller, 2017). Die Idee der Versicherung war geboren.