Schweitzer Fachinformationen
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Mit jedem Kilometer, den sich Kriminalhauptkommissar Richard Linde auf der Landstraße von Schwabach kommend Wendelstein näherte, wuchs sein Unbehagen. Er versuchte sich auf das zu fokussieren, was ihn dort erwarten würde, doch es gelang ihm nicht. Ohnehin hatte er zur Sachlage bislang nur wenige Informationen erhalten, der Anruf war direkt von der Leitstelle gekommen. Linde war gerade dabei gewesen, sich ein paar Umzugskisten vorzunehmen, in denen er seine Wanderkarten vermutete. Fündig war er nicht geworden, dafür war er auf ein paar Langspielplatten gestoßen, die er schon jahrelang nicht mehr bewusst in Händen gehalten hatte. Er hatte David Bowie aufgelegt, sich ein zweites Frühstück gemacht und dann weiter ausgepackt, als das Diensthandy läutete und ihn an seine Rufbereitschaft erinnerte. Während er aus dem T-Shirt schlüpfte und sich ein ordentliches Hemd überzog, beförderte er die Kartons mit dem Fuß zurück in die Ecke - möglicherweise würde er die Karten diese Woche nun nicht mehr brauchen. Aber diesen Gedanken schob er fürs Erste beiseite.
Ausgerechnet Wendelstein . Als hätte er mit den Kartons die Büchse der Pandora geöffnet. Nervös trommelte er nun mit seinen Fingern auf dem Lenkrad herum und nahm die vertraute Strecke mit seltsam distanziertem Blick wahr. Ein halbes Jahr war es her, dass er zuletzt in seinem alten Wohnort gewesen war. Ein halbes Jahr, das zumindest räumlich für etwas Abstand gesorgt hatte, aber tief in seinem Inneren noch keineswegs, das wurde ihm jetzt deutlich bewusst.
Es war gegen halb ein Uhr am Nachmittag, als Linde das Ortseingangsschild passierte und kurze Zeit später nach rechts in Richtung Altort abbog. Der Tag war ein ausgesprochen strahlender, nur die wenigen, rasch ziehenden Wolken erinnerten an das Sturmtief der vergangenen Nacht. Etliche Leute waren unterwegs, um in den Läden rund um das Alte Rathaus Besorgungen zu machen, oder sie steuerten eine der beiden Eisdielen an, um einen der ersten richtigen Frühlingstage zu feiern. Da reichte es, dass die Sonne vom Himmel strahlte, wenn sie auch noch nicht wirklich wärmte. Unmittelbar vor dem »Flaschner«, wie die Einheimischen den Traditionsgasthof Goldener Stern nannten, verengte sich die Straße, und Linde fuhr rechts heran, um die entgegenkommenden Fahrzeuge passieren zu lassen.
Fast zehn Jahre hatte er in Wendelstein gelebt - und in dieser Zeit hatte sich der einst so beschauliche Ort gewaltig verändert, war mehr und mehr zu einer Vorstadt Nürnbergs mutiert, über die Tag für Tag eine unglaubliche Blechflut hereinbrach.
Während Linde noch wartete, um einen Bus und mehrere große Wagen passieren zu lassen, fühlte er sich mit einem Mal beobachtet. Er blickte über die Straße und sah einen Mann in seine Richtung winken. Es schien ihm, als ob er den alten Herrn kannte, vielleicht ein Nachbar oder ein Lehrer von Nicolas? Er konnte ihn nicht einordnen, nickte ihm aber kurz zu. Dann ging es weiter.
Linde stieß hörbar die Luft aus, als er sich mit dem Dienstwagen der angegebenen Adresse näherte und bereits von Weitem sah, dass dort alles zugeparkt war. Er beschleunigte und sah im Vorbeifahren den grauen Kombi von Dr. Hennig in zweiter Reihe stehen. Linde seufzte. Bis zu diesem Moment hatte er an der vagen Hoffnung festgehalten, dass sich der Todesfall noch als natürlich herausstellen könnte. Nicolas und er wollten am frühen Mittwochabend in die Berge aufbrechen, und Linde freute sich auf die Tour mit seinem Sohn, der seit eineinhalb Jahren in Freising studierte. Aber die Tatsache, dass der Leiter der Kriminaltechnik vor Ort war, machte diese Hoffnung augenblicklich zunichte.
Linde entschied sich jetzt, am Ende der Straße zu wenden und in einer der ersten Seitenstraßen zu parken. Er kannte das Wohnviertel, das auf einer leichten Anhöhe über dem Fluss Schwarzach lag, recht gut. Schmucke Einfamilienhäuser mit Gärten säumten die Straße. Viele der Häuser stammten noch aus den Sechzigerjahren und waren, nachdem die alten Besitzer verstorben waren, von den Erben oder neuen Eigentümern liebevoll saniert worden. Einige hatten behaglich wirkende Anbauten aus Holz erhalten, angepasst an die ursprüngliche Bausubstanz. Dazwischen ragte immer wieder ein futuristisch anmutendes Architektenhaus wie ein Fremdkörper zwischen den alten Siedlungshäusern auf. Wer den nötigen finanziellen Hintergrund besaß, kehrte der Stadt den Rücken und erwarb hier für sich und seine Familie eine Immobilie »auf dem Land«. Allzu oft musste dann die alte Substanz weichen, und es entstand eine dieser geschmacklosen Bausünden. Den dörflichen oder gar ländlichen Charakter hatten diese Wohnviertel schon lange verloren, dachte Linde bei sich, als er aus dem Wagen stieg und sich umsah. Auffallend oft waren die Anwesen von hohen Zäunen in grauer Kunststoff-Optik oder neuerdings von Gabionen umgeben. So wurden die mit Steinen gefüllten, stabilen Metallkörbe genannt, hatte Linde sich von Jo Bergmans, seinem jungen Assistenten, aufklären lassen. Nur hin und wieder ließen diese massiv und befremdlich wirkenden Sichtschutzmaßnahmen einen Blick auf Schaukeln, Stelzenhäuser, Trampoline sowie mehr oder weniger geschmackvolle Sitzgarnituren für die ganze Familie zu, mit denen diese Gärten in aller Regel ausgestattet waren.
Die Hausnummer 7, eine gelb-terracotta getünchte Anlage mit mehreren Wohneinheiten, hob sich in angenehmer Weise von dieser neureichen Atmosphäre ab, wie Linde fand.
Beim Näherkommen zog der Kommissar die Blicke einiger Nachbarn auf sich, die auf dem gegenüberliegenden Gehweg miteinander tuschelten. Linde erwiderte den knappen Gruß des Streifenbeamten mit einem Nicken und trat in den Hauseingang.
»Tag, Chef!« Jo Bergmans kam ihm in der Diele entgegen. Obwohl er dunkle Ringe unter den Augen hatte und auch sonst etwas unausgeschlafen wirkte, informierte er wie gewohnt knapp und routiniert. »Es handelt sich um eine Frau Alessandrini. Irmgard Alessandrini, geborene Mittermeier. Hat nach der Trennung den Namen ihres Ehemanns offenbar behalten.«
Linde nickte und schmunzelte innerlich über den großen gelblichen Fleck, der auf Bergmans' Revers prangte. »Gibt es einen weiteren Zugang zum Haus?«
»Ja, über den Wintergarten. Aber Einbruchspuren haben die Kollegen bislang keine gefunden«, schloss Jo mit unterdrücktem Gähnen.
Gemeinsam betraten sie den großzügigen Wohnbereich, während Bergmans weiter resümierte.
»Laut der Haushaltshilfe, von der sie gegen halb zehn aufgefunden wurde, lebte sie hier offenbar allein. Allerdings ist ein Sohn, Elio Alessandrini, ebenfalls in der Wohnung gemeldet.«
»Habt ihr ihn schon erreicht?«, erkundigte sich Linde.
»Bislang nicht. Und aus der Haushaltshilfe, einer Branka Perkovic«, las Bergmans jetzt von einem Notizblock ab, »war noch nicht viel rauszubekommen, sie ist ziemlich durch den Wind.« Er zeigte auf eine Tür am Ende des Flurs. »Eine Sanitäterin kümmert sich dort in der Küche um sie.«
»Kannst du das dann übernehmen?«, bat Linde seinen Mitarbeiter und nickte dem Team des Erkennungsdienstes zu, das im Wohnbereich an verschiedenen Stellen seiner Arbeit nachging.
»Bitte auf den Korridor achten!«, rief ihm ein Mitarbeiter beim Eintreten denn auch mahnend zu, während Linde sich die Einmalhandschuhe überstreifte und einen eigentümlichen Geruch wahrnahm, der schon in der Diele zu ahnen gewesen war, wenn auch nur vage. Hier im Wohnzimmer gewann er deutlich an Kontur und hatte etwas Harzig-Würziges, zugleich aber auch eine eigene, frische Komponente. Es war kein Parfum und auch kein Kerzenduft, Linde konnte den Geruch nicht einordnen und sog ihn noch einmal bewusst ein.
»Weißer Salbei!«, rief ihm jetzt eine junge Polizistin, die ihn beobachtet hatte, aus einer Ecke zu und hielt ein kleines Bündel grünlich-weißer Kräuter in die Höhe. »Wird traditionell zum Reinigen von Räumen verwendet.«
»Soll böse Geister vertreiben .«, scherzte ein anderer Kollege, »hat hier aber offenbar nicht funktioniert.«
Lindes Blick fiel jetzt auf den leblosen Körper, der nahe am Eingang ausgestreckt auf dem Boden lag und von Dr. Hennig aus verschiedenen Perspektiven fotografiert wurde. Da er den Chef der Kriminaltechnik nicht unterbrechen wollte, sah er sich für einen Moment in dem großen Raum um, der zum Garten hin in einen kleinen Wintergarten überging. Linde hatte es sich zu eigen gemacht, immer zuerst das Wohnumfeld in Augenschein zu nehmen. Die Einrichtung, die Dinge, mit denen sich ein Mensch umgab, aber auch kleine Details aus dem Alltag verrieten oft mehr als die üblichen biografischen Einzelheiten, die man dem Lebenslauf entnehmen konnte. Lieblingsstücke, denen dieser Mensch einen besonderen Platz zugedacht hatte, Bilder oder Fotografien, die er aufgehängt, einen Artikel, den er aus einer Zeitschrift herausgerissen hatte, oder eine...
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