Schweitzer Fachinformationen
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Wir hatten zwei gesunde Kinder, viele Freunde, wir waren sehr, sehr glücklich miteinander. Doch nicht lange. Sophia war gerade neun Monate alt, als die Katastrophe über uns hereinbrach. Im Mai 1999 entdeckten wir einen roten Punkt unter Sophias linkem Nasenflügel. Unser Kinderarzt untersuchte Sophia und vermutete einen Insektenstich. Das beruhigte uns für kurze Zeit. Was sollte schon Schlimmes sein? Sophia war ein robustes Kind, sie entwickelte sich doch prächtig! In den nächsten Wochen jedoch wuchs der rote Punkt bedrohlich. Eigentlich wollten wir im Juni zu einer Hochzeit nach Norddeutschland fahren, wo Verwandte von mir leben, aber dieser mittlerweile etwa zwei Zentimeter große Fleck ließ uns keine Ruhe. Eine nicht greifbare Bedrohung lag in der Luft. Unser Kinderarzt war im Urlaub, seine Urlaubsvertretung schickte Karen mit Sophia in die Uni-Klinik Ulm. Nach stundenlangem Warten wurde der Fleck flüchtig von einem Professor begutachtet. "Das ist ein Blutschwamm", sagte er, "kein Grund zur Sorge, das geht von allein wieder weg."
Der Termin für die Hochzeit rückte näher, aber ich konnte das warnende Gefühl in meiner Seele nicht mehr abschütteln. Karen erzählte mir, wie sehr sie sich schon freue, alle meine Verwandten im Norden Deutschlands zu treffen. "Wir werden sehen", war meine Antwort. Ich hatte die innere Gewissheit, dass wir nicht reisen würden. Wir einigten uns darauf, vorher doch noch einen Termin bei unserem Kinderarzt zu machen, dessen Urlaub mittlerweile beendet war. Wir sahen es seinen Augen an, dass ihm das Gewächs Sorgen machte. Er überwies uns an die Uni-Klinik München. Der dortige wirklich kompetente Arzt erkannte auf den ersten Blick, dass die Ulmer Diagnose falsch war. Er schwieg sich jedoch über seine Schlussfolgerung aus. Er wollte weitere Untersuchungen abwarten.
Ein zweitägiger Aufenthalt in der Klinik folgte. Meine Frau blieb bei Sophia. Als die beiden wieder nach Hause kamen, regnete es in Strömen. Ein düsterer Tag, wie eine Vorschau auf das, was uns noch erwartete.
Bis zur Diagnose verging eine Woche. Ich war unten im Keller, werkelte in meinem kleinen Büro am Computer herum, als ich oben das Telefon klingeln hörte. Kurz darauf kam Karen herein, völlig fassungslos, mit Tränen in den Augen. "Leukämie", sagte sie. "Sophia hat Leukämie."
Ich stand auf und nahm meine Frau in den Arm. In dieser Sekunde war ich unfähig, auch nur einen Gedanken zu fassen. Der erste, der mir durch den Kopf ging, war: "Tod. Sophia muss sterben."
Wie viele hatten auch wir irgendwo mal in der Zeitung oder im Fernsehen irgendetwas über Leukämie und Krebs mitgekriegt, aber das betraf ja immer andere, hatte nichts mit uns zu tun. Und nun plötzlich doch. Wie ein böser Schatten verdunkelte diese Krankheit den Raum. Karen ging sofort wieder rauf, ich folgte ihr. Sie schlug im Haushaltsmedizinbuch den Begriff "Leukämie" nach, um sich zu vergewissern. Es war wirklich das, was wir dachten: Blutkrebs.
Karen erzählte mir den Rest des Telefongesprächs, soweit dies in diesem Augenblick, wo alles stillzustehen schien, überhaupt möglich war. "Wir müssen morgen nach München in die Uni-Klinik, um alle weiteren Schritte zu besprechen. Sophia muss auf die Kinderkrebsstation." Mein Gehirn reagierte auf eine seltsame Weise. Ich war mir sicher: Morgen stellt sich alles als Irrtum heraus und wir können wieder nach Hause. Nicht unser Kind, das konnte und durfte nicht sein!
Im Halbtrancezustand riefen wir meine Schwiegermutter an, die dann sofort zu uns kam. Sarah wurde gleich bei ihr einquartiert. Roger - damals noch ein Bekannter, heute mein bester Freund - sagte zu, sich um die Hunde zu kümmern.
Wir weinten und versuchten uns vorzustellen, was auf Sophia zukommen würde. Alles, was uns damals durch den Kopf ging, ließ uns nur einen Bruchteil von dem ahnen, was uns wirklich erwarten sollte. Mir fiel ein, was ich aus Erzählungen wusste. Vor Jahren - ich war sechs oder sieben - hatte eine Schwester meines verstorbenen Vaters in Norddeutschland auch ein Kind durch Krebs verloren. Meine Cousine Beate wurde nur 18 Jahre alt. Sie wurde etliche Male operiert und medikamentös behandelt. Vergeblich. Die Schmerzen zum Ende hin müssen extrem gewesen sein. Drohte Sophia das gleiche Schicksal? Nein, nein, nein, das war ja fast zwei Jahrzehnte her, die Medizin war doch heute so viel weiter! In den Medien wurde ja auch immer über die großen Überlebenschancen bei Leukämie berichtet. Das war doch keine Krankheit mehr, an der man sterben musste, oder? Wir sollten die Wahrheit kennen lernen.
Karen und ich legten Sophia in ihr in fröhlichen Janosch-Farben gestrichenes Bettchen, zum letzten Mal für eine lange Zeit. Mit rotgeweinten Augen versuchten wir, Schlaf zu finden. Und ausgerechnet da sagte Sophia ihr erstes richtiges Wort: "Mamamam". Es klang fast wie ein Wimmern, immer wieder: "Mamamam, mamamam".
Irgendwann fielen wir in einen Dämmerzustand. Das Aufstehen am nächsten Morgen glich einer Tortur. Ich versuchte, die Augen aufzumachen, aber meine Lider waren durch das Weinen verklebt. Als ich sie endlich geöffnet hatte, brannten meine Augen so, dass ich mich nur blinzelnd ins Bad vorwärts tasten konnte. Mein Blick traf den Spiegel. Tiefrote Augäpfel, ein paar Äderchen waren geplatzt. Meine Seele hatte selbst im Schlaf weitergeweint, anders kann ich es mir nicht erklären. Karen stand mittlerweile auch in der Badezimmertür, ihr Anblick erschreckte mich noch mehr als meiner. Leichenblass und die Augen im gleichen Zustand. Die einzige, die trotz des ganzen Chaos lächelte, war Sophia.
Die Bahnfahrkarten waren schnell gekauft. Mit Sophia im Kinderwagen standen wir auf dem Bahnsteig. Dass wir von den anderen Wartenden gemustert wurden, war bei unserem Aussehen kein Wunder. Während wir da standen und auf den Zug nach München warteten, beherrschte mich nur noch Angst, pure, nackte Angst. Im Zugabteil saß Karen mir gegenüber, der Kinderwagen zwischen uns. Unsere Blicke trafen immer wieder das lächelnde Gesicht von Sophia. Doch ihr Lächeln saß schief - durch das Gewächs am linken Nasenflügel. Innerhalb von nur zwei Tagen hatte es sich so vergrößert, dass die Nase nach rechts weggedrückt wurde. Ich fühlte eine immense Liebe in der einen Seite meiner Seele, im anderen Teil herrschte Panik vor dem Ungewissen. Die siebzigminütige Zugfahrt dehnte sich und wollte kein Ende nehmen.
Im Münchner Hauptbahnhof hoben wir den Kinderwagen aus dem Zug und machten uns auf den Weg zum Haunerschen Kinderspital in der Uni-Klinik. Dort begann für Sophia, Karen und mich eine Tortur, die all unsere Vorstellung sprengte.
Die Kinderkrebsstation war im Moment unserer Ankunft überfüllt. Kurzerhand mussten wir uns in der chirurgischen Abteilung einfinden.
Gleich am ersten Tag folgte Untersuchung auf Untersuchung. Dabei wurde Sophia ununterbrochen mit Nadeln gepiesackt. Sie schrie aus Leibeskräften, völlig zu Recht. Ich will hier nur eine Begebenheit von vielen erzählen.
Eine junge Ärztin suchte lange vergeblich nach sichtbaren Adern. Als endlich eine gefunden war und die Nadel eindrang, kam kein Blut. Durch die Krampfung beim Schreien wurde es zurückgehalten. Da kam die Ärztin auf die Idee, es am Kopf zu probieren. Was dies für uns bedeutet hat, kann man sich vorstellen: Weit weg von Zuhause, herausgerissen aus dem normalen Leben.
Das Liebste wird unzählige Male gestochen! Sophia schreit wie am Spieß vor Angst und Schmerz! Wir Eltern wissen immer noch nicht, was passieren wird. Und dann soll die Nadel auch noch am Kopf angesetzt werden. Ich war kurz davor, der Ärztin an den Hals zu gehen, Sophia zu schnappen, meine Frau an die Hand zu nehmen und durch Flucht diesen Alptraum hinter uns zu lassen. Meine Nerven lagen total blank. Irgendwann waren die Untersuchungen zu Ende. Nun saßen wir wieder auf den orangefarbenen Plastikstühlen im Gang der Kinderkrebsstation Intern 3, völlig verloren. Ich beobachtete die vorbeilaufenden Kinder. Kahle Schädel, bleiche Gesichter. Ständer mit Infusionsflaschen im Schlepptau. Hinter einer Zimmertür schrie ein Kind aus Leibeskräften. Hier konnten, wollten wir nicht bleiben! Wie an einen Lichtschein in der Dunkelheit dieses schrecklichen Tages klammerte ich mich an die Hoffnung, dass sich die Diagnose als Irrtum erweisen würde.
Nach einer unendlich langen Wartezeit wurden wir schließlich in das Ärztezimmer gebeten, vor uns saßen ein Psychologe und zwei Ärzte, die all unsere Hoffnungen zerstörten. "Es sieht nicht gut aus für Ihre Tochter, der Leukämieverdacht hat sich bestätigt. Schon durch ihr geringes Alter hat Sophia schlechte Chancen, erfolgreich therapiert zu werden. Sie muss mit einer Chemotherapie behandelt werden. Dieses Chemotherapieprotokoll ist ganz neu, und wir hoffen, damit einen Erfolg zu erzielen. Aber wie gesagt, die Chancen stehen äußerst schlecht."
Meine Frau weinte bereits, auch Sophia begann zu weinen, angesteckt durch Karen. Meine beiden so zu sehen war so schrecklich für mich, dass ich es nicht beschreiben kann. Ich weinte nicht. Weil ich gar nichts verstanden hatte, und auch nichts verstehen wollte. "Was heißt das nun", fragte ich, "muss Sophia sterben?" - "Ja", lautete die Antwort, "aller Wahrscheinlichkeit nach, ja." Nun brachen in mir alle Dämme. Ich weinte und zitterte wie noch nie in meinem Leben. Dunkelheit, die von ganz unten zu kommen schien, schoss in meinem Inneren hoch. Karen und Sophia fest an mich gedrückt, saßen wir da, mit dieser nun ausgesprochenen Möglichkeit. Stand der Tod tatsächlich bei uns vor der Tür?
Irgendwann waren wir draußen auf dem Gang, unser Anblick muss noch mitleiderregender gewesen sein als der von...
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