Schweitzer Fachinformationen
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Als Mary erwachte, war es schon wieder heiß. Das angefeuchtete Laken, das sie vor dem Zubettgehen an die Gardinenstange gehängt hatte, hatte seine kühlende Wirkung schon lange eingebüßt, und die Sonne stürzte sich gierig auf die Fasern, versuchte sie zu versengen, mit ihrer Leuchtkraft zu durchdringen. Mary versuchte, noch ein wenig weiterzuschlafen und vielleicht noch eine halbe Stunde mehr Energie hinüber in den Tag zu retten. Aber ihre Augen hatten das Licht schon wahrgenommen, bevor sie ganz auf waren, und ihre Ohren die rauchige Morgensymphonie auf der Route 1, und es war nichts mehr zu machen.
Es war aber auch nur richtig, dachte sie auf dem Weg nach unten, dass so ein Tag früh anfing. Sie hätte so wenig im Bett liegenbleiben können wie ein fünfjähriges Mädchen am Weihnachtsmorgen. Dabei war sie eine alte Frau von ein paarundsechzig Jahren. Sie stellte den Wasserkessel auf, nahm sich eine Banane aus der Obstschale und verzehrte sie vor dem Spülbecken. Sie öffnete das Fenster und fragte sich wie fast immer am Morgen, heute aber mit besonderem Nachdruck, ob das Meer zu hören war.
Während der Kessel anfing zu pfeifen, holte sie die Schere aus der Schublade und schnitt einen Teebeutel auf. Sie schüttete die befreiten Teeblätter in die Kanne und das heiße Wasser obendrauf, ein winziges Zeichen des Widerstands. Es hatte klein angefangen und war zu einem Ritual geworden, nicht minder beständig als jeder Samowar. Sie ließ den Tee ein paar Minuten ziehen, in denen sie sich anstrengte, die Gedanken des Tages nicht mit sich durchgehen zu lassen. Noch nicht. Dann schenkte sie sich eine Tasse Tee ein und ging damit durchs Wohnzimmer hinaus in den Garten.
Sie setzte sich auf ihr Bänkchen und betrachtete das Licht, mittlerweile froh, dass sie nicht im Bett geblieben war. Sie ließ die Farbformationen vor sich Revue passieren und versuchte sich vorzustellen, ob und wie ihre Anwesenheit wohl eine Auswirkung auf die Komposition haben mochte. Aller Wahrscheinlichkeit nach keine, abgesehen von der Tatsache, dass sie in der Rolle der Zeugin dabei sein konnte. Welch ein Geschenk für ahnungslose Augen! Sie versuchte, den ständigen sprunghaften Veränderungen zu folgen – eine Leinwand, die sich mit jedem Blinzeln in Perfektion neu erschuf, sich in zu kurzen Intervallen verwandelte, als dass eine Abstraktion möglich gewesen wäre. Sie wollte sich das Rot merken, für das man alle Namen des Spektrums benötigte, um es angemessen zu beschreiben, und vor allem, was für ein Gefühl es hervorrief, und sie merkte, dass sie darüber die orangenen Blaus und violetten Grüns vernachlässigte, deren intensives Glühen sie genauso ergriff. Sie setzte die Teetasse an die Lippen und blies, den Blick immer noch geradeaus gerichtet, über die Oberfläche der Flüssigkeit.
Die schwarze Nachbarskatze lief durch den Garten, vor dem ekstatischen Rasengrün grau, eng umschlossen von einem Neonheiligenschein. Ein wenig ließ sie das wie einen Boten wirken, und Marys Blick folgte dem Weg der Katze durch die Nachbarbeete. Dann sprang sie auf eine Mülltonne und hinauf auf das flache Dach der Gartenhütte, wo sie sich in der steigenden Hitze zusammenrollen – beziehungsweise wahrscheinlich eher ausstrecken würde.
Mary blickte hinunter in ihren Tee. Auf der Oberfläche schwammen zwei Teeblätter. Das eine war lang und geschwungen, als habe es ein Scharnier in der Mitte. Das andere war kleiner, runder und kräftiger, und sie dachte an ihre beiden Söhne. Bevor der Tag um war, würde der Längere der beiden heimkehren, an diesem letzten Julitag.
Sie ging zurück ins Haus an die Küchenspüle, stellte den Kaltwasserhahn an und ließ den Bodensatz ihrer Tasse vom Wasser wegspülen. Sonnenlicht strömte zum Fenster herein, und die Strahlen berührten die braune Flüssigkeit und verwandelten sie in einen goldenen Bach, der deutlich vom Wasser zu unterscheiden war. Als sie den Hahn zudrehte, waren noch ein paar vereinzelte Tropfen im Becken übrig – bernsteinfarben sahen sie jetzt aus –, und sie versuchte sich vorzustellen, wie lang es dauern würde, bis sie das weiße Emaille verfärbt haben würden; das stille, beharrliche Einnisten über Jahre hinweg, das sich auch dann noch hartnäckig hielt, wenn scheinbar alles abgeflossen war.
Sie schaltete das Radio ein, so leise, dass sie es nur hören konnte, wenn sie stillstand, dann ging sie zu der kleinen Speisekammer vorn an der Haustür, um Brot und Speck für Harrys Frühstück zu holen. Die Schlagzeilen und den Wetterbericht um sieben, der für die nächsten Tage eine für ältere und geschwächte Mitbürger gesundheitlich bedenkliche Gluthitze vorhersagte, hörte sie sich an. Sie briet den Speck, der gewaltig in der Pfanne spritzte: Nach Schweinefleisch schmeckte er, aber ansonsten war er zu wässrig und taugte nichts. Das Spritzgeräusch tötete ihr den Nerv und meldete sich in einer Hirnregion ungefähr drei Zentimeter über ihren Ohren. Den fertigen Speck stellte sie in den Backofen, um ihn warm zu halten, bis Harry endlich aufgestanden war. Jetzt lief Musik im Radio, und sie summte mit, auch wenn sie das Lied gar nicht kannte und nur wenige Töne der Melodie traf. Am Ende des Lieds drehte sie den Apparat etwas lauter, und der Ansager verkündete Künstler und Titel. Sie hatte noch nie von dem Musiker gehört und Mary fragte sich, ob der Ansager wohl auch einmal Bills Namen in seinem unermüdlichen Geplapper erwähnen würde.
Sie wusch die Bratpfanne ab und stellte das letzte Geschirr vom Vorabend weg, dann ging sie mit dem Wäschekorb in den Flur, um die Kleidungsstücke abzunehmen, die sie die Nacht über zum Trocknen auf den Ständer gehängt hatte. Das meiste waren Hemden von Harry, die alle dieselben Abnutzungserscheinungen an den Achseln und rund um den vierten Knopf aufwiesen. Mechanisch faltete sie die Oberhemden in der Mitte zusammen, damit das Bügeln später weniger langwierig sein würde.
Zurück in der Küche drehte sie das Radio noch einen Tick lauter und ließ sich immer wieder von dem seltsam blumigen Frühstücksgeplauder ablenken. Jetzt war auch Harry von oben zu hören, für den das Knarren der Bodendielen eine wesentliche Ausdrucksform zu sein schien. Genau wie in Plainfield hatte er die Dielen zu einem Teil seiner Körpersprache gemacht. Diese Art, wie manche Leute darauf bestanden, sich anderen ständig bemerkbar und ihr Leben hörbar und sichtbar zu machen.
Er kam in die Küche, zog seinen Stuhl lautstark unter dem Tisch heraus und grunzte Mary beim Hinsetzen Guten Morgen zu. Sie servierte ihm den Speck aus dem Ofen; Butter und Toast, der genau im Augenblick seines Auftauchens fertig geworden war, standen bereits auf dem Tisch. Harry drehte augenblicklich das Radio lauter, und die Stimmen nahmen den Raum über dem Tisch ein. Mary setzte sich ihrem Mann gegenüber und tat nichts, während er aß.
Vor allem war sie erleichtert über die Hartnäckigkeit des Radios. Es führte die Gespräche, um die sie sich sonst vielleicht selbst hätte bemühen müssen. Der Ansager und seine Gäste überschlugen sich fast vor gezwungener Fröhlichkeit und verströmten eine so gar nicht morgendliche Penetranz, die unbedingt nach bester abendlicher Sendezeit klingen sollte. Im Grunde dachte sie allerdings bei allem, wozu Harry nickte und zustimmende oder empörte Geräusche machte, selbst bei den banalsten Äußerungen, wie sehr sie es vorgezogen hätte, an keinem von beidem teilzuhaben. Sie dachte über den Kompromiss des Ehelebens nach, der Institution, die nicht zwischen ihren beiden Personen bestand, sondern zwischen ihr und der Fähigkeit, viele Dinge von sich fern zu halten.
Harry beendete sein Frühstück, schob seinen Stuhl bedächtig zurück und hielt sich am Tisch fest, als er aufstand, um ins Bad zu gehen. Mary wusste, dass er mindestens eine Viertelstunde darin verschwinden würde, und brachte das Radio mit einem rachsüchtigen Daumendruck zum Verstummen, bevor sie seinen Teller und seine Tasse abwusch.
Als alles wieder ruhig war, versuchte sie, sich noch einmal die Farben der Morgendämmerung vor Augen zu führen. Sie kippte den restlichen Tee, diesmal von der Farbe alter Bronze, auf der ein schillernder Film schwamm, aus der Kanne in den Spülstein.
Sie wollte alles für sich behalten, innerhalb der Grenzen dessen, was sie wusste – den Morgen, die dämmernde Erwartung. Eine Aufregung, die nicht geteilt werden durfte, aus Angst, dass sie sich wie eine optische Täuschung in Luft auflösen würde. Sie behielt das Gefühl für sich, weil ihr die Worte dafür fehlten; Worte mischten sich nur ein, um das Lebendige, den zündenden Funken von Selbst und Seele auszulöschen. Sie dachte an die See, flog im Geiste durch leere Straßen, rasend schnell über rote Ampeln und Stoppschilder hinweg und landete bis zu den Knöcheln in der Gischt. Vier Meter hoch stand sie und nur wanderndes...
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