Schweitzer Fachinformationen
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Ich war jung (und bin es immer noch: fünfundzwanzig Jahre - es passierte ja erst letzten Oktober, Oktober 1988), als ich unten in Washington, District of Columbia, einen alten Freund aus der Highschool besuchte. Ich war noch nie in den Vereinigten Staaten gewesen. Mein Freund arbeitet als Unternehmensberater, Abteilung Luftfahrt, bei einer Steuerberatungsfirma namens Price Waterhouse. Er ist ein kluger Kopf - er war auf der John F. Kennedy School of Government in Harvard - und verdient gutes Geld. Aber tagsüber musste er natürlich ins Büro, und das Wetter war sonnig und mild. Also sah ich mir Washington an. Ich besuchte die öffentlichen Plätze der Stadt, die Straßen, wo ein einziges Gebäude ganze Häuserblocks einnimmt und eine eigene Postleitzahl hat und man weiter und weiter und immer weiter geht, bis man schließlich an das monumentale Hauptportal kommt; ich besuchte die Plätze, wo selbst das grüne Gras vor Selbstvertrauen strotzt, denn nur eine Nation, die ihre Werte nie in Frage stellt, kann in ihrer Mitte so große, offene Rasenflächen haben; ich sah mir alles in der Stadt an, was es zu bestaunen und zu bewundern gibt.
Dann tauchte ich tiefer, riskierte mein Leben, so würden manche sagen. Mehrere Tage hintereinander sah ich mich an jenen Orten der Stadt um, die nicht für die Öffentlichkeit bestimmt waren. Ich ging Straßen entlang, die keinerlei historische Bedeutung hatten, und erkundete Gassen. Ich ging in die Kramläden an den Ecken, die Imbissbuden. Ich sah mir Schaufenster und Bushaltestellen an, Zeitungskästen und Reklameschilder an Strommasten, mit Brettern vernagelte Häuser und verwahrloste Grundstücke, Graffiti und den Unrat, der sich dahinter türmte, die zerbröckelnden Bürgersteige und die Wäsche, die zum Trocknen aus den Fenstern hing. Ich plauderte über Politik mit einem Penner auf einer Parkbank, der all seine irdischen Besitztümer in einem Einkaufswagen neben sich hatte. In Blickweite der Kuppel des Capitols - sie schien in der Luft zu schweben wie ein Fesselballon - stieß ich auf eine tote Ratte. Ich fand alles interessant, denn alles war Washington, und Washington war neu und exotisch für mich. Für eine so reiche und mächtige Stadt, in manchem Sinne die Hauptstadt der Welt, hatte sie viele heruntergekommene Viertel. Ganze Stadtteile, die dringend einen Anstrich nötig hätten und wo die Ausbesserungsarbeiten von Tag zu Tag verschoben werden, so wie man sich jeden Tag neu vornimmt, endlich gesünder zu essen oder etwas für seinen Körper zu tun.
Einmal auf dem Nachhauseweg fiel mir ein Schriftzug auf. MERRIDEW-THEATER stand in einem Bogen auf einem Ladenfenster. Einige Buchstaben waren ausgekratzt, nur die Umrisse waren noch zu erkennen. Eigentlich hieß es nur noch MER I EW T EA R. In der linken unteren Fensterecke stand ein kleines rot-weißes Pappschild: Mel - Herrenfriseur. Durch das Fenster sah ich in einen Raum, der wohl einmal zu dem Theater gehört hatte, und in dem jetzt zwei Friseurstühle standen. In einem saß ein Schwarzer, und ein zweiter Schwarzer - Mel? - schnitt ihm die Haare. Das Merridew existierte allem Anschein nach nicht mehr. Aber rechts von der Tür hing ein kleiner Schaukasten mit einem Blatt Papier darin. Ein Lebenszeichen? Ich ging hin.
Sonderkonzert im Merridew-Theater
Das Barock-Kammerensemble der
Vietnamkriegsveteranen von Maryland
spielt
Albinoni
Bach
Telemann
sowie als Welturaufführung das
Soldat-Donald-J.-Rankin-Streichkonzert
mit einer dissonanten Violine von John Morton
Donnerstag, 15. Oktober 1988, 20 Uhr
Jedermann willkommen!
Eintritt nur $ 10, Abendkasse
Das war am nächsten Abend.
Wunderbar. Noch eine Seite von Washington, die ich entdecken konnte, noch eine Hirnwindung, eine Kammer in seinem Herzen. Nicht dass der Vietnamkrieg mich sonderlich interessiert hätte. Das war ein ausländischer Krieg, ein US-Trauma, das mich als Kanadier nichts anging. Ich hatte die Filme gesehen, die Fernsehdokumentationen, dann und wann einen Zeitschriftenartikel gelesen, ich wusste, dass Lyndon Johnson als Präsident daran gescheitert war - aber es blieb Folklore für mich, genau wie der Zweite Weltkrieg, etwas, das lange vorbei war und jetzt der Stoff für bunte Bilder und Heldenepen abgab. Der Eintritt wäre mir auch zu teuer gewesen. Wenn ich Bach hören wollte, konnte ich das auf meiner Stereoanlage tun. Was mich ins Merridew-Theater zog, war das Ereignis selbst, die Vorstellung, dass es eine Art Happening war, und nicht die Aussicht auf einen Abend mit klassischer Musik. Obwohl ich schon gespannt auf das Rankin-Konzert war - was immer eine dissonante Violine sein mochte. Ich fragte meinen Freund, ob er mitkommen wolle. Ich hatte ihn ja seit meiner Ankunft kaum zu Gesicht bekommen.
Aber Price Waterhouse stand kurz vor einem Abschluss mit den Gewerkschaften von Texas Air, und die Antwort der Stadt New York auf ein Angebot, das sie für ihre Belegung der Flughäfen JFK und La Guardia gemacht hatten, war früher als erwartet eingetroffen. Er hatte zu tun.
So stand ich also am nächsten Abend um fünf vor acht allein vor dem Merridew. Ich drückte an die Tür. Sie war offen. Links von mir war der Eingang zu Mels Friseurladen. Geradeaus führte ein Gang in die Tiefe, und ich sah, dass am Ende ein Zettel an die Wand geheftet war. Ich ging den Gang hinunter, vorbei an mehreren geschlossenen Türen. Hier entlang stand auf dem Zettel, und ein Pfeil zeigte nach links auf eine Tür. Ich trat ein.
Ich fand mich im Foyer des Merridew. Zu meiner Rechten sah ich eine Reihe zweiflügeliger Glastüren - der Haupteingang zum Theater. Die Türen mussten einmal auf eine Straße geführt haben, die quer zu derjenigen verlief, von der ich gekommen war, aber sehen konnte ich davon nichts - sie waren mit Brettern vernagelt. Einige Scheiben waren zerbrochen. Vor den Türen lag ein ungeheuer langer zusammengerollter Teppich. Mein Blick wanderte zum Kartenschalter auf der anderen Seite des Foyers; seine Scheiben waren dick mit grauem Staub überzogen. Genau genommen lag auf großen Teilen des Foyers dick der Staub. Es war unmissverständlich: Das Theater war geschlossen, verfallen, und ich hatte es gerade durch die Hintertür betreten, wo früher die Büros gewesen waren. Aber die Lichter brannten, die Türen, durch die ich gekommen war, waren offen, und ich war mir sicher, dass ich mir Zeit und Ort für das Konzert richtig eingeprägt hatte. Ich trat einen Schritt vor und erblickte einen Tisch, der an einer großen Säule aufgestellt war. Zwei Männer saßen dahinter, ein Schwarzer, ein Weißer, der Weiße in einem Rollstuhl. Sie sahen mich an. Der Ausdruck »unbefugtes Eindringen« schoss mir durch den Kopf.
»Hallo. Das ist doch hier, wo heute Abend das Konzert ist, nicht wahr?«
»Das ist hier«, sagte der Schwarze.
»Oh, gut.« Ich ging zu dem Tisch. »Dann eine Karte, bitte.«
»Macht zehn Dollar.«
Ich gab meine zehn US-Dollar dem Weißen in dem Rollstuhl. Er steckte sie in die Zigarrenkiste, die er vor sich stehen hatte, strich sie sorgfältig auf den anderen Scheinen glatt, und gab mir ein Programm.
»Bin ich zu früh?«
»Nein, genau richtig«, antwortete der Schwarze. »Nimm dir einfach einen Stuhl. Du kannst sitzen, wo du willst.«
Mit einer lässigen Handbewegung lenkte er meinen Blick auf einen Stapel orangeroter Kunststoff-Klappstühle. Ich nahm mir einen. Aber ich wusste nicht, wohin ich damit gehen sollte. War das Konzert draußen? Auf dem Parkplatz? Warm genug war es ja.
»Da lang.« Diesmal zeigte er auf die Türen an der Rückseite des Foyers.
»Danke.«
Auf dem Weg zu den Türen blickte ich mich noch einmal um.
»Bringen Sie das gerade in Ordnung?« fragte ich.
»Wie bitte?«
»Das Theater, wird es renoviert?«
»Nee, das wird abgerissen.«
»Oh.«
Eine verdeckte Operation, dieses Veteranenensemble, dachte ich, als ich die Tür aufdrückte und den Theatersaal betrat. Ich stieg ein paar Stufen hinauf.
Die Tür hinter mir schwang noch hin und her, aber ich selbst stand wie angewurzelt da. Der Mann hatte das wörtlich gemeint; es wurde tatsächlich gerade abgerissen. Ich wusste gar nicht, was ich zuerst ansehen sollte. Es war ein großer Theatersaal, mit Logen und anderen ehrgeizigen Architekturdetails. Aber um mit dem Augenfälligsten anzufangen: Es war kein einziges Stück der alten Bestuhlung mehr da. Sämtliche Sitzreihen waren herausgerissen, offenbar mit brutaler Gewalt. Das Ergebnis sah wie etwas aus dem Ersten Weltkrieg aus: Zwischen schmutzigen, abgeschabten grünen Teppichbögen - den Schlachtfeldern Frankreichs - liefen Schützengräben aus geborstenem grauem Beton, mit kantigen Kratern, wo von den Befestigungen noch rostige Eisenstrünke geblieben waren. Es roch modrig, was wohl von den gelbbraunen, schwarz geäderten Schimmelflecken stammte, die überall die Wände bedeckten und ihnen das Aussehen großer mittelalterlicher Landkarten gaben, die das Voranschreiten der Pest verzeichneten. Und am Fuße der Wand mir...
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