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Elisabeth Clarkwell beerdigte ihren Mann an dem Tag, an dem ihre Namensvetterin, die zukünftige Königin von England, ihre große Liebe heiratete. Es war ein kalter, nebliger Novembermorgen, ein scharfer Wind wehte über den Friedhof von Highgate und ließ Elisabeth unter ihrem zerschlissenen Mantel frösteln.
Sie war allein gekommen, niemand sonst gab Hugh Clarkwell das letzte Geleit. All ihre Bekannten hatten sich entschuldigt, sie versuchten lieber, einen Blick auf das glückliche Brautpaar in der prächtigen Kutsche zu erhaschen. Elisabeth konnte es ihnen nicht verdenken, jeder sehnte sich nach dem Anblick von etwas Schönem in dieser hässlichen, vom Krieg ausgezehrten Stadt. Einzig ihr Onkel Robert hätte ihr gern zur Seite gestanden, doch er war inzwischen zu schwach, um das Bett zu verlassen, ganz zu schweigen davon, dass er sich auf die beschwerliche Zugreise von Norfolk nach London hätte machen können.
Die Zeremonie war kurz und schlicht. Elisabeth konnte sich keine aufwändige Feier leisten und schon gar keinen teuren Sarg. Die Kosten für die Beerdigung hatten ohnehin schon einen Großteil ihrer eisernen Reserve aufgebraucht. Wie in Trance ließ sie alles über sich ergehen und kam erst wieder zu sich, als sie sich auf den Heimweg machte und die Highgate Road hinunter in Richtung Chalk-Farm lief. Je mehr sie sich dem alten Gospel-Oak-Bahnhof näherte, desto grauer und schmutziger wurde es rechts und links von ihr. Gebäude mit vernagelten Fenstern säumten die Straße, von den Fassaden bröckelte der Putz, und wo Bomben niedergegangen waren, klafften hässliche Löcher in den Häuserzeilen. Über allem lag der Gestank der Kohleöfen und der ewige, allgegenwärtige Staub, der sich in den Falten der Kleidung festsetzte, in Nase und Ohren eindrang und einen widerlichen Geschmack auf der Zunge hinterließ.
Schlagartig überfiel Elisabeth ein Gefühl von Einsamkeit, so übermächtig, dass ihr schwindelig wurde. Sie musste einen Augenblick stehen bleiben und sich an eine niedrige Mauer lehnen, sonst wäre sie gestürzt.
»Alles in Ordnung, Miss?«, hörte sie eine Stimme.
Sie hob den Kopf. Vor ihr stand ein junger Mann, kaum zwanzig, in einem abgetragenen Anzug. Sein Kinn war frisch rasiert, sein Haar akkurat zurückgekämmt. Es glänzte so tiefschwarz, als hätte er Schuhcreme statt Pomade benutzt.
»Mir geht es gut«, erklärte sie rasch. »Nur ein kleiner Schwindel.«
»Ich kann einen Arzt rufen.«
»Nein, nicht nötig.« Sie zwang sich ein Lächeln auf die Lippen. »Ich habe wohl zu wenig gegessen.« Sie straffte die Schultern und lief weiter, noch bevor der Mann etwas erwidern konnte. Ein weiteres freundliches Wort, und sie hätte die Tränen nicht länger zurückhalten können.
Als sie ihre Hände in die Manteltaschen schob, stieß sie mit den Fingern an den kleinen Gegenstand, den sie heute Morgen eingesteckt hatte. Es war ein winziger Vogel aus Porzellan, kunstvoll bemalt. Dem armen Tier fehlte ein Flügel, doch je nachdem, wie man ihn hielt, war der Defekt nicht zu sehen. Die Figur war einer der wenigen Gegenstände, die Elisabeth vor mehr als zwanzig Jahren aus ihrer Heimat mitgebracht hatte. Das Vögelchen, eine alte Puppe, eine Spieluhr und die Kette mit dem Medaillon, die sie um den Hals trug und die sie von ihrer Großmutter zur Geburt bekommen hatte.
Als sie Hugh im Herbst 1944 zur Feier ihrer Verlobung zum ersten Mal in ihre Wohnung in den St Ann's Gardens hinaufgebeten hatte, war ihm das kleine Porzellantier auf dem Kaminsims sofort aufgefallen.
»Wir haben beide etwas einbüßen müssen in diesem verfluchten Krieg«, hatte er zu dem Vogel gesagt. »Aber wir lassen uns nicht unterkriegen, nicht wahr, mein Freund?«
Elisabeth hatte ihn nicht berichtigt. Die Porzellanfigur war nämlich nicht bei einem Bombenangriff vom Sims gefallen, sondern schon beschädigt aus Deutschland angereist, im Juli 1926, als man Elisabeth als Dreijährige nach dem Tod ihrer Eltern zu ihrem Onkel Robert brachte. Sie selbst hatte den Vogel einmal wütend zu Boden geworfen, als sie ein Kleid anziehen sollte, das sie nicht mochte, weil es am Hals kratzte. Das war anlässlich einer anderen Beerdigung gewesen. Aber daran wollte sie nicht zurückdenken.
Hugh war wie dieser Vogel gewesen, versehrt, aber standhaft, und deshalb hatte Elisabeth ihm die Figur mitgeben wollen auf seine letzte Reise. Und dann hatte sie es doch nicht fertiggebracht, sie stattdessen in der Manteltasche festgehalten, sich an sie geklammert, als würde ein Teil von Hugh bei ihr bleiben, wenn sie das Tier nie wieder losließ.
An jenem Abend 1944 hatten sie gemeinsam eine Flasche Wein geleert und auf die Zukunft angestoßen. Elisabeth war trotz des Krieges voller Zuversicht gewesen. Mit Hugh an ihrer Seite würde sie alles durchstehen, davon war sie fest überzeugt. Er würde ihre Familie sein, wenn Onkel Robert nicht mehr da war, ihr Freund, ihr Gefährte in dieser zunehmend bedrohlichen, lauten und verwirrenden Welt.
Elisabeth war nie besonders gesellig gewesen, schon als kleines Mädchen nicht. Sie kam besser mit Tieren zurecht als mit Menschen, darin glich sie ihrem Onkel. Und seit ihre Schulfreundin Margaret, mit der sie die Wohnung in den St Ann's Gardens gemeinsam angemietet hatte, zu Beginn des Krieges nach Durham zu ihrer Familie zurückgekehrt war, hatte sich ihr gesellschaftliches Leben auf einen gelegentlichen Plausch mit ihrer Vermieterin beschränkt, bei dünnem Tee in deren enger Küche im Erdgeschoss des Hauses.
Mit ihren Kolleginnen auf der Arbeit verband Elisabeth nicht viel. Die vergnügten sich am Wochenende bei Musik und Tanz mit den GIs im Rainbow Corner, dem amerikanischen Rotkreuzclub in der Nähe des Piccadilly Circus. Die Amerikaner waren spendabel mit Zigaretten und Cola und hatten Zugang zu unbegrenzten Mengen irischen Whiskeys, doch nicht alle Frauen, die den Club besuchten, waren von untadligem Ruf. Viele arbeiteten dort als bezahlte Hostessen.
Elisabeth konnte mit derartigen Vergnügungen nichts anfangen. Sie zog den Geruch nach Heu und Leder dem Duft eines exklusiven Parfüms vor. Und sie saß lieber im Sattel als auf einem Barhocker, auch wenn sie in letzter Zeit kaum Gelegenheit dazu gehabt hatte.
Hugh Clarkwell war ihr auf Anhieb sympathisch gewesen, weil er ähnlich menschenscheu zu sein schien wie sie. Er würde sie nicht auf Partys oder in Nachtclubs schleppen, sondern wie sie einen ruhigen Abend am Kamin mit einem Buch auf dem Schoß vorziehen.
Der Wein, mit dem sie auf ihre Verlobung angestoßen hatten, hatte sauer geschmeckt, aber sie waren froh gewesen, überhaupt eine Flasche aufgetrieben zu haben. Während sie an den Gläsern nippten, gingen im Osten von London Brandbomben nieder, und das Rattern der Luftabwehrgeschütze zerriss die abendliche Stille.
Das trübte Elisabeths Stimmung jedoch nicht. Hugh wachte die ganze Nacht an ihrer Seite, genau wie zwei Wochen zuvor, als sie sich im Camden-Town-Luftschutzkeller zum ersten Mal begegnet waren, und sie fühlte sich sicher und geborgen.
An dem Tag, an dem sie sich kennengelernt hatten, war Elisabeth wie immer spät dran gewesen, weil sie von ihrem Arbeitsplatz bei der Midland Bank in der Poultry, wo sie als Stenotypistin tätig war, mehr als eine Stunde für den Heimweg nach Camden brauchte. Als der Alarm losging, hatte sie gerade ihr Abendessen beendet und wollte es sich mit einem Buch im Sessel bequem machen. Die Fenster ihrer kleinen Wohnung hatte sie bereits verdunkelt, und sie freute sich auf einen ruhigen Abend.
Sie überlegte kurz, einfach zu Hause zu bleiben. Wirklich sicher war man ohnehin nirgendwo, auch in den unterirdischen Schutzräumen nicht. Zwei ihrer Arbeitskolleginnen waren beim Einschlag einer Bombe in den U-Bahnhof Bank in der Londoner City im Januar 1941 ums Leben gekommen.
Aber dann griff sie doch nach ihrer Handtasche, klemmte sich Decke und Kissen unter den Arm und eilte nach draußen. Die Batterie ihrer Taschenlampe war schwach, sodass sie kaum etwas sah. Als sie die Buck Street erreichte, wo in einem trutzigen Backsteingebäude der Eingang zum Camden Town Luftschutzkeller lag, sah sie gerade eine Familie mit fünf Kindern die Treppe hinunterstolpern. Das jüngste weinte und schrie, bestimmt hatte man es aus dem Schlaf gerissen. Sie eilte auf den Eingang zu.
Doch der Luftschutzwart hielt sie zurück. »Alles voll, Miss, ich darf niemanden mehr reinlassen. Versuchen Sie es in der U-Bahn-Station.«
»Aber ich habe ein Ticket«, protestierte Elisabeth und öffnete ihre Handtasche.
In die U-Bahnhöfe gelangte man mit der Bahnsteigkarte, doch für die tiefer gelegenen Luftschutzräume, in denen es Stockbetten gab und man die Nacht nicht auf dem Boden verbringen musste, brauchte man eine Eintrittskarte.
»Tut mir leid, Miss. Ich habe meine Befehle. Voll ist voll.«
Schon war das Dröhnen der Motoren zu hören, und die Scheinwerfer der Flugabwehr zerschnitten die Finsternis der Nacht.
»Aber .« Hektisch sah Elisabeth sich um. Wäre sie doch nur zu Hause geblieben! Wo sollte sie jetzt hin? Wieder einmal dachte sie, dass es besser gewesen wäre, auf ihren Onkel zu hören, der sie immer wieder beschworen hatte, zu ihm nach Norfolk zu kommen, wo man vom Krieg so gut wie nichts mitbekam. Aber dann hätte sie ihre Wohnung und ihre Arbeitsstelle verloren.
»Gibt es ein Problem?«, hörte sie eine Stimme.
Elisabeth drehte sich wieder zum Eingang um und entdeckte einen hochgewachsenen, gutaussehenden Mann, der neben dem Schutzwart stand und sie freundlich anlächelte.
»Ich habe ein Ticket, aber der Herr hier lässt...
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