Schweitzer Fachinformationen
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Es war ein lautes Haus. Vom frühen Morgen an schien der Lärm mit jeder Stunde des Tages zuzunehmen und sich gleichzeitig auch zu verändern. Erst hörte man nur das Klappern hinter der geschlossenen Küchentür, wenn der Ofen angeheizt, das Geschirr vom Vorabend gespült und das Frühstück vorbereitet wurde. Friedliche Geräusche noch, bis die Standuhr in der Diele die sechste Stunde schlug. Dann aber war der sanfte Bann der Stille durchbrochen. Oben, im Schlafzimmer der Eheleute, wurden Fenster aufgerissen, Schubladen herausgezogen und zugeworfen, die kleine Tür zum Abtritt zugeknallt und wieder aufgestoßen. Es hörte sich an, als fänden Kämpfe statt. Über allem aber schallte die scharfe Stimme des Hausherrn, der es grundsätzlich unerhört eilig hatte. Lautstark empörte er sich über das wohlige Räkeln, mit dem sich seine junge Frau vom Schlafe befreite, während sich ihr dichtes schwarzes Haar auf dem Kissen ausbreitete wie ein lockender Fächer. Doch ihr Gatte sah nicht den Glanz dieser Locken, und er hörte nicht das leise Seufzen zwischen Schlaf und Wachen. Er trieb sie nur an, zählte ihr auf, was heute noch alles zu geschehen habe, und schrie wütend auf, weil er sich beim Rasieren geschnitten hatte. Natürlich trug seine Frau die Schuld an diesem Missgeschick, denn er hatte den Verdacht, sie nehme das Ausmaß seiner Verpflichtungen nicht genügend ernst.
Auf dem Weg nach unten schlug er einen Haken ins Kinderzimmer. Er beugte sich über das Gitterbett, in dem seine kleine Tochter lag - seine zweite, die erste war mit kaum neun Monaten am Durchbruch der Zähne gestorben. »Auf, auf, ihr Hasen, hört ihr nicht den Jäger blasen?«, drängte er. »Los, Clärchen, der Tag wartet nicht.« Er tätschelte die Wange des Kindes, das mit den dunklen, mandelförmigen Augen seiner Mutter ungerührt zu ihm aufblickte. Als einziger Mensch im Hause ließ es sich durch die Hektik des Vaters nicht aus der Ruhe bringen.
Für einen kurzen Augenblick hielt er inne. Er nahm die weichen Kinderhände zwischen die seinen. Mit den Daumen strich er über die schlafwarmen Finger, die ihm lang und kräftig erschienen, wie er es sich schon vor ihrer Geburt bei seiner Tochter gewünscht hatte. Feste Hämmerchen, die unbarmherzig die Tasten seiner Klaviere malträtieren würden, dass sämtlichen Ohrenzeugen Hören und Sehen verging. »Der Tag wartet nicht«, wiederholte er. »Das Leben wartet nicht.« Damit befreite er sich aus der Welt seiner Träume, stürmte die Treppe hinunter, riss der Haushälterin die Kanne mit dem Zichorienkaffee aus der Hand und goss sich selbst ein, weil ihm bei anderen alles zu langsam ging.
»Gütiger Himmel, Herr Wieck!«, murrte die Haushälterin wie jeden Morgen. »Alles mit der Ruhe!« Worauf er ihr, hastig sein Schmalzbrot hinunterschlingend, erklärte, wenn sie nicht bald etwas mehr Fofo entwickle, werde er sie eigenhändig noch vor Monatsende auf die Straße setzen. Doch Johanna Strobel zuckte bloß die Achseln. Alles nur leere Drohungen. Ins tiefste Mark traf er sie nur, wenn er sie vor Besuchern »unsere Haushaltsschnecke« nannte.
Noch vor acht Uhr standen die ersten Schüler vor der Tür: die ältesten Anfänger zuerst, denn die mussten am Morgen nicht mehr zur Schule. Friedrich Wieck unterrichtete sie in Dreiergrüppchen, wobei er selbst auf einem Schemel stand und dirigierte. »Logier'sches Institut« nannte er seine Musikschule, in der er nach der Methode eines gewissen Bernhard Logier lehrte, der in Kassel als Militärhornist wirkte und den Drill der Heeresausbildung auf die musikalische Erziehung übertragen hatte.
Dafür hatte er einen Spezialapparat entwickelt, ein Metallgestänge, das den Schüler in ideal aufrechter Haltung am Pianoforte fixierte. Für die Hände gab es zwei hölzerne Blöcke, je nach Alter des Schülers in verschiedenen Größen. In diese Blöcke waren Löcher gebohrt, durch die der Schüler seine Finger steckte, die damit ebenfalls in die bestmögliche Haltung gezwungen wurden. Spielereien und nervöses Gezappel waren so nicht möglich.
Während Friedrich Wieck auf seinem Schemel temperamentvoll den Takt schlug, wiederholten die Schüler das immer gleiche, einfache Fünftonmotiv c, d, e, f, g, das erst nach Wochen leicht variiert wurde, bis nach Monaten die Hände und Finger an Kraft gewonnen hatten und den Spielern die erwünschte Körper-, Hand- und Fingerhaltung in Fleisch und Blut übergegangen war. Sie waren nun endlich so weit, dass es ihnen Schmerz bereitet hätte, schlaff in sich zusammenzusinken oder die Handgelenke fallen zu lassen.
Damit waren sie reif für die nächste Phase der Ausbildung, in der es um weitere Kräftigung und Gelenkigkeit der Finger ging. Nun spielte jeder Schüler allein: stundenlang Übungen aus Czernys »Kunst der Fingerfertigkeit« und aus den Cramer'schen Etüden, stundenlang Geläufigkeit, stundenlang Monotonie. Während dieser Lektionen stand der Lehrer nicht mehr auf seinem Schemel, sondern saß in einem Schaukelstuhl, der sich kaum bewegte, wenn der Schüler sich konzentrierte, der jedoch immer schneller und schneller hin und her schwang, wenn der Takt nicht eingehalten wurde oder die ermüdeten Finger danebengriffen. Im schlimmsten Fall kippte der Schaukelstuhl dann fast um. Wenn der Schüler jetzt noch immer nicht erfasst hatte, dass äußerste Disziplin gefordert war, sprang Friedrich Wieck urplötzlich auf, packte den Schüler an den Schultern und schüttelte ihn. Er schrie ihn an, zerriss seine Noten, schleuderte sie zu Boden und trampelte darauf herum. Dadurch etwas beruhigt, griff er in die Rocktasche, holte eine Münze hervor und legte sie dem Schüler auf den Handrücken. Nun galt es, weiterzuspielen, ohne dass die Münze zu Boden fiel. Wer hier nicht lernte, sich zu konzentrieren, würde es nirgendwo lernen.
Manchmal kam es vor, dass ein Schüler nicht in der Lage war, die Strenge seines Lehrers zu ertragen. Dann musste das Lehrverhältnis gelöst werden, was wohl keiner der Beteiligten bedauerte. Um die Einkunftsquelle nicht zu verlieren, übernahm zuweilen Wiecks junge Ehefrau Marianne, selbst eine konzertreife Pianistin, die sensiblen Schüler, die nun von allen anderen glühend beneidet wurden, denn Marianne war schön, freundlich und einfühlsam, und die Stücke, die sie mit ihren Zöglingen einstudierte, stammten von den großen Meistern Mozart, Beethoven und Bach. Diese zu lieben hatte Marianne bei ihrem Vater, dem Kantor Tromlitz in Plauen, gelernt, während der Autodidakt Friedrich Wieck für deren Werke nur ein ärgerliches Schnauben übrig hatte, weil sie seiner Meinung nach in erster Linie aufs Gemüt oder auf den Geist zielten, anstatt die Schüler zur Virtuosität zu führen, was doch wohl das Ziel jedes richtigen Klavierunterrichts war. »Meister sind etwas für Könner«, pflegte er zu sagen, »für Könner, nicht für Mehlwürmer!«
Der Lärm nahm kein Ende. Immer neue Schüler strömten ins Haus. In der Werkstatt im Hinterhof, in der Friedrich Wieck seine eigene Pianoforte-Fabrik eröffnet hatte, hämmerte und bohrte es. Im Laden an der Straße stand die Türglocke kaum still. Kunden versuchten sich an den neuen Flügeln der Firma Wieck und an den Instrumenten, die der umtriebige Inhaber aus Wien importiert hatte. Man kaufte Trillermaschinen und Fingeranspanner, um das Werkzeug Hand zu kräftigen, und wühlte in den Heften und Broschüren, die auf den Tischen an der Straßenseite ausgelegt waren.
Friedrich Wieck war überall. Er eilte hin und her, sprach mit jedem, drängte und bedrängte jeden. Wenn er dabei im Hintergrund die Kasse klingeln hörte, tat es seiner Seele wohl, und er hatte das Gefühl, auf dem richtigen Weg zu sein. Wohlgemerkt: erst auf dem Weg, noch nicht angekommen. Die Welt war so unendlich weit und bot so viele Möglichkeiten! Man musste sie nur ergreifen und sich nach dem Geld, das auf der Straße lag, bücken.
Wenn er an dieser Stelle seiner Gedanken angelangt war, fiel ihm wieder sein kleines Mädchen ein, Clara mit ihren langen, starken Fingerchen. Sie würde das Tor zur ganz großen Welt für ihn aufstoßen. Längst hatte er ihr Leben verplant, doch noch war sie zu jung.
So hastete er weiter hin und her zwischen Übungsraum, Laden und Werkstatt, und am Abend, wenn sich seine Frau vor Müdigkeit kaum noch aufrecht halten konnte, öffnete er die Türen seines Salons für jeden Besucher, der Lust hatte, über Musik zu diskutieren und bei einem Glas Gerstenbier Gleichgesinnte zu treffen. Gäste waren potentielle Kunden. Auch wenn sie vielleicht nichts kauften, würden sie doch seinen Namen weitertragen. Irgendwann sollte jeder in der Stadt Leipzig und darüber hinaus wissen, wer das war: Friedrich Wieck, einst der schwächliche kleine Fritze aus Pretzsch bei Torgau, dessen Eltern zu arm waren, Klavierstunden für ihn zu bezahlen, obwohl er sich doch nichts sehnlicher wünschte, als ein berühmter Musiker zu werden.
Ein offenes Haus. Lärm bis in die späten Nachtstunden. Johanna Strobel war zu müde, um die Teller und Gläser noch aufzuräumen. Der Diener August schwankte, wenn er, die Augen halb geschlossen, den Gästen das Tablett mit den Getränken präsentierte, und Marianne Wieck nickte neben dem Bett der kleinen Clara ein. Sie schreckte erst auf, wenn ihr Gatte, umweht von einer leichten Bierfahne, hereinpolterte und ihr Vorwürfe machte, weil sie seine geschäftlichen Kontakte nicht genügend unterstützte. Er war noch immer hellwach. Auch Marianne schüttelte nun zuweilen ihren Schlaf ab und verteidigte sich. Doch das wollte er nicht hören. Immer lauter wurde es, sodass die Dienstboten trotz ihrer Erschöpfung aufwachten. »Sie streiten schon wieder«, murmelte Johanna Strobel dann...
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