Schweitzer Fachinformationen
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Der gelblich weiße Klinikbau war kleiner, als sie erwartet hatte. Er sah aus wie eines der vielen Hotels mit ihren Flachdächern und schmucklosen Fassaden, an denen sie vorbeigefahren waren. Ein Zaun, dahinter Palmen, eine Auffahrt mit mannshohen Agaven, ein Parkplatz, Menschen, die emsig hinein- und herauseilten.
Man geleitete sie und Gravert in den hinteren Teil des Klinikgebäudes. Ein älterer Grieche mit stolzem Oberlippenbart erwartete sie bereits. Er stellte sich in bestem Englisch als Leitender Oberarzt vor. Ein uniformierter Polizist stand bei ihm und schaute mürrisch zu Thea und Gravert herüber, während der Arzt erklärte, dass die Obduktion auf dem Festland vorgenommen werden würde. Thea nahm alles wie durch Watte wahr. Sie wollte zu ihrer Tochter.
Der Oberarzt bat sie, ihnen zu folgen. Sie hatte seinen Namen nicht verstanden. Der Konsulatsmann drehte sich zu Thea, legte eine Hand auf ihren Unterarm und bot zum wiederholten Mal an, dass er die Identifizierung für sie übernehmen könne, wenn sie es wünsche. Stumm schüttelte Thea den Kopf.
Bis auf einen klapprigen Stuhl war der Raum leer und wirkte schäbig. Durch ein Fenster war statt Sonnenschein ein Nebenraum zu sehen. Dort ging ein Riss in der gefliesten Wand wie ein gezackter Blitz von der Decke bis nach unten. Es kostete Thea übermenschliche Anstrengung, den Blick an der Linie entlanggleiten zu lassen, Fuge für Fuge, bis er auf die schwarzen Locken eines Mannes traf, der in dem Raum wartete.
Langsam fuhren Theas Augen über seine Schulter, weiter am weiß bekittelten Arm entlang bis zu seiner Hand. Sie hielt den Zipfel eines Lakens, mit dem man Annas Körper bedeckt hatte.
Thea zögerte. Sie spürte die Ungeduld der Männer.
Auf einen Wink des Oberarztes hin hob der Pfleger das Tuch und schlug es bis zu den nackten Schultern der Toten zurück. Theas Knie wurden weich. Sie griff in die Luft, suchte Halt, fand Graverts Arm.
»Es tut mir leid«, flüsterte er. »Ich hatte Sie gewarnt. Der Unfall ist wirklich schwer gewesen. Ein Fall aus großer Höhe. Sie starb an inneren Blutungen.«
Jemand schob ihr einen Stuhl zu. Thea wollte sich nicht setzen. Stattdessen trat sie einen Schritt näher an die Scheibe, die sie von der Bahre mit dem toten Leib darauf trennte. Sie legte eine Hand auf das kalte Glas. Die langen Haare, das schmale Gesicht. Ja, es war Anna. Und auch wieder nicht. Was machte der Tod mit einem, wenn er erst einmal sein Werk vollendet hatte?
»Arm, rechts«, krächzte Thea. Als niemand reagierte, wiederholte sie die Worte ein wenig lauter und erklärte, dass Anna als Kind von einem Hund gebissen worden sei. »Sie hat Narben.«
Gravert sagte etwas zu dem Mediziner neben ihm. Der Arzt drückte auf den Knopf einer altmodischen Gegensprechanlage und gab einen Befehl, woraufhin der Pfleger den Arm freilegte.
Thea sackte zu Boden.
Die Ohnmacht konnte nicht lange gedauert haben. Man half ihr auf den Stuhl.
»Das ist nicht Anna.« Sie hörte ihre eigene Stimme wie aus weiter Ferne. Trocken und heiser fügte sie hinzu: »Not my daughter. Not Anna.«
Der Polizist, der bisher nur schweigend dagestanden hatte, grummelte etwas, das wie ein Fluch klang.
»Kennen Sie die Tote?«, wollte er in gebrochenem Englisch wissen.
»No.« Tränen liefen ihr übers Gesicht. Der Arzt reichte ihr sein Stofftaschentuch. Sie hatte keine Kraft, es zu benutzen. »Das ist nicht meine Anna.«
Eine Welle verzweifelter Erleichterung überfiel Thea. Sie hätte auflachen mögen, tat es aber nicht.
Etwas später saß sie vor dem Eingang der Klinik auf einer Steinmauer im Schatten einer Agave und versuchte, ihre Gedanken festzuhalten. Anna war nicht tot! Ihre Tochter lebte. Nur wer war die junge Frau auf der Bahre? Und wo war Anna? Die beiden jungen Frauen hatten eine gewisse Ähnlichkeit. Es war nur zu verständlich, dass man die Tote für Anna gehalten hatte. Nur wie war die Frau an den Ausweis ihrer Tochter gekommen?
Einige Meter weiter unterhielten sich der Mann vom Konsulat und der Polizist. Gravert griff nach seinem Handy. Griechische Worte drangen wie Gewehrschüsse aus seinem Mund. Die Männer schienen angespannt, was Thea als gutes Zeichen wertete. Vielleicht nahmen die beiden sie ernst und würden endlich nach Anna suchen.
Thea schloss die Augen, spürte die warme Sonne auf der Haut. Ihr Magen knurrte. Ihr fiel ein, dass sie seit dem Anruf nichts mehr gegessen hatte. Geschlafen hatte sie auch nicht. Bleierne Müdigkeit überfiel sie.
Als Thea die Augen wieder öffnete, ließ Gravert gerade sein Telefon in die Tasche seiner Jacke gleiten. Er wechselte einige Sätze mit dem Polizisten, der daraufhin grußlos wegging.
Der Mann vom Konsulat kam zu ihr. »Sobald die Polizei etwas weiß, wird sie sich bei Ihnen melden.«
Thea schaute ihn lange an. »Warum erst heute? Ich hatte bereits vor zwei Wochen angerufen und gesagt, dass Anna vermisst wird.«
»Es gab keine Anzeige. Die Behörden in Deutschland .«
Thea stand auf. »Ich habe herumtelefoniert und jedem erklärt, dass da etwas nicht stimmt. Alle haben mich wie eine verrückte Alte behandelt.« Sie dachte an Enno, ihren Ex-Mann, der sicherlich genau das den Beamten gesagt hatte, sofern überhaupt jemand nachgefragt hatte. Sie drückte ihre Wut zurück in den Bauch. »Sagen Sie mir, was wirklich passiert ist. Das war kein Unfall. Die Brandmale auf ihrem Arm. Stammen die von Zigaretten? Ich meine, hat da jemand .?«
Gravert schwieg. Thea versuchte, in seinem Gesicht zu lesen, was er dachte. Seine graublauen Augen schauten betroffen, die Grübchen in seinen Wangen wirkten im Sonnenlicht wie hineingemeißelt.
»Wer ist sie?« Thea dachte an die andere Mutter, die sicherlich in diesem Moment vor einem Telefon saß und verzweifelt auf den Anruf der Tochter wartete. Genauso wie sie es getan hatte. »Warum hatte sie Annas Ausweis bei sich? Ist meine Tochter auch in der Höhle gewesen, wo das arme Ding gefunden wurde?« Ein Schauder lief über ihren Rücken.
»Es gab keine Hinweise auf eine zweite Person. Der Fundort wurde akribisch untersucht, wie die Polizei mir mitteilte. Es ist ein Wunder, dass man sie überhaupt entdeckt hat. Sie müssen wissen, dass es auf der Insel Tausende Höhlen gibt.« Er seufzte. »Vielleicht kann die Botschaft in Athen Hinweise auf ihre Identität ermitteln. Mit etwas Glück stammt sie ebenfalls aus Deutschland und wurde dort irgendwo registriert, mit Fingerabdrücken oder Ähnlichem.«
»Hat man die Ärmste .?« Sie hielt die Luft an, wollte es nicht aussprechen. Gravert verneinte. »Gott sei Dank.« Thea lächelte ihn müde an. »Das ist gut. - Anna. Ohne Ausweis kann sie die Insel nicht verlassen, jedenfalls nicht, um nach Hause zu kommen. Sie muss also noch hier sein.«
»Sie könnte auch auf das griechische Festland gefahren sein. Dafür braucht sie keinen Ausweis«, widersprach Gravert.
»Vielleicht hat sie einen im Konsulat beantragt«, überlegte Thea laut. »Das müssten Sie doch wissen?«
»Es gibt neben der Botschaft in Athen zwei zuständige Honorarkonsulate auf Kreta, eines in Heraklion und eines in Chania. Ich werde dort nachfragen. Ich denke aber, Frau Winter, Sie müssen sich keine Sorgen machen. Höchstwahrscheinlich hat Ihre Tochter den Ausweis verloren, sich einen neuen besorgt und ist längst auf dem Heimweg nach Deutschland.«
Thea hörte ihm nur halb zu und öffnete den Reißverschluss ihrer Reisetasche. Sie zog ihr altes Handy heraus, tippte den Code ein, wischte ein wenig herum und präsentierte Gravert ein Foto. Es zeigte einen Teil von Annas blonden Haaren, den wuscheligen Pony und ihre lachenden Augen. Sie trug ein T-Shirt mit einem von Schüssen durchlöcherten blauen Kretaschild darauf. Thea kannte das Shirt nicht, dafür die karierte Bluse, die sie ihrer Tochter zum Geburtstag geschenkt hatte und die sie darunter trug. Hinter Anna lag ein Portal mit goldfarbener Aufschrift.
»>Rethymno Carlton<, wo ist das? Sie hatte dort einen Job als Kinderanimateurin angenommen. Damit wollte sie das Geld für die Weiterreise verdienen.«
»Das müssen Sie der Polizei geben.« Er hielt ihr die Hand hin, als wollte er ihr das Telefon abnehmen.
Schnell stopfte Thea das Gerät in die Gesäßtasche ihrer Jeans und lächelte fahrig. »Ich weiß, ich weiß. Aber ich denke, dass ich besser selbst nach ihr suche .«
»Frau Winter! So geht das nicht. Das sollten Sie der Polizei überlassen. Die wissen, was zu tun ist. Ich verspreche, wir werden Sie auf dem Laufenden halten. Fliegen Sie zurück und gedulden -«
»Gedulden?« Thea lachte auf. »Ich habe mich lange genug geduldet. Wenn ich nur noch einen einzigen Tag untätig herumsitzen muss, werde ich wahnsinnig. Außerdem hatten die Behörden ihre Chance. Und sie haben sie vertan. Ich traue niemandem. Nicht Ihnen oder dem Botschafter in Athen oder der Polizei.« Sie deutete zum Krankenhausgebäude hinüber. »Eine Leiche haben Sie bereits. Wollen Sie eine zweite?« Herausfordernd sah sie Gravert an. Er holte Luft, um ihr zu widersprechen, als sie ihn unterbrach. »Also sucht die Polizei zu guter Letzt doch noch nach meiner Tochter?«
Er nickte.
»Bestimmt nicht so hartnäckig, wie ich es tun werde. Anfangen werde ich in diesem Hotel.« Thea setzte sich in Bewegung. »Wenn Sie mir nicht helfen wollen, Herr Attaché, dann auf Wiedersehen«, rief sie über ihre Schulter zurück.
Mit festen Schritten marschierte sie auf das offene Tor zu, hinter dem die Straße lag. Sie hatte keine Ahnung, wie sie zu dem Hotel gelangen sollte. Weder konnte sie Griechisch, noch wusste sie, wo Rethymno lag. Als sie nach wenigen Metern Graverts Stimme...
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