Schweitzer Fachinformationen
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KAPITEL 1
Glückstadt. Im Monat December 1893 kamen 39 Personen zur polizeilichen An- und 53 zur Abmeldung. Im Polizeigefängnis waren 128 Personen inhaftiert, und zwar 5 wegen Bettelns, 5 wegen Trunkenheit, 1, welcher nach Holland transportiert werden soll (ist aus dem Reichsgebiet verwiesen), 2 zur Verbüßung von Militärstrafen, 1 wegen Verdachts des Diebstahls und 4 wegen Obdachlosigkeit.
Original: Glückstädter Fortuna, Januar 1894
Glückstadt, Januar 1894
Es war mühevoll und gefährlich gewesen, zwischen den Eisschollen auf der Elbe in den Hafen von Glückstadt einzufahren. Der Winter in diesem Jahr war hart. Doch endlich erreichte die »Alte Möwe« ihren Liegeplatz im Binnenhafen. An der Reling hingen Eiszapfen. Die Männer hatten Sand an Deck gestreut, um auf den vereisten Planken nicht auszurutschen. Mit steif gefrorenen Händen standen sie bereit, um ihr Schiff gleich hinter der Schleuse festzumachen.
Überall im Hafen sah man Männer in Arbeitsjacken und groben Leinenhosen von und zu den Schiffen eilen. Sie waren mit der Flut eingelaufen und lagen in Zweierreihen auf beiden Seiten des Binnenhafens. Viele von ihnen fuhren auf Fisch oder brachten Waren aus England und Holland nach Glückstadt. Drüben, am Kai vor den schmucken Häusern, gab es eine neue Pferdebahn. Sie beförderte die Fänge und Waren direkt von den Schiffen in die Stadt oder zum nahen Bahnhof. Hier aber, auf der Rethövelseite, mussten die Fässer vom Anleger erst mühsam den Deich hochgerollt und auf die Fuhrwerke der Händler gehievt werden, die die Waren dann wie eh und je in die Stadt schafften.
Seit einiger Zeit fand sich unter den vielen Ewern und Kuttern auch ab und zu eines dieser neuen Dampfschiffe, aus deren Schornsteinen eine stinkende Rußfahne hervorquoll.
Die Besatzung der »Alten Möwe« begann, die Ladung zu löschen. In den Kantjes zu Haukes Füßen lag der letzte Fang, den sie vor Cuxhaven gemacht hatten. Hauke hievte eines der halbhohen Fässer mit gesalzenem Hering hoch und stemmte es auf seine Schulter. Dann nahm er die schmale Planke hinauf an Land.
Auf dem Deich sah man die Händler ungeduldig warten, dass der vereidigte Prüfer der Stadt, den man hier Heringswracker nannte, die Qualität des Fanges endlich festlegte. Dann konnten sie mit den Kapitänen der Schiffe über den Preis verhandeln.
»Das gibt heute gutes Geld«, meinte der Mann neben Hauke. Er hieß Hinnerk, und seine ehrliche Art hatte Hauke auf der Fahrt von Holland nach Glückstadt gefallen. Sie gingen zurück an Bord, um weitere Fässer zu holen. Hauke sah kurz zum Niedergang am Heck. Dort schob sich soeben der Kopf von Kapitän Jensen durch die Luke. Hauke meinte, trotz der Entfernung den alkoholvernebelten Atem des Mannes riechen zu können. Auch die anderen hatten Jensen bemerkt und beobachteten finster, wie er an Deck krabbelte und sich mühsam aufrichtete. Seit sie das Ijsselmeer passiert hatten, hatte die Mannschaft ihn nicht mehr gesehen. Die Schirmmütze saß schief auf seinem schmierigen Haar. Mit der einen Hand hielt er sich an der Reling fest und mit der anderen versuchte er ungelenk, sein Hemd in die fleckige Hose zu stopfen.
Verächtlich spuckte Hinnerk auf die Planken des Schiffes. »He kann obends nich so veel drinken, dat he morgens kenn Dörst mehr hett.« Regungslos stand er neben Hauke, die Fäuste in seinen Hosentaschen vergraben. »Wir machen da draußen die Arbeit, und der pennt stinkbesoffen in seiner Koje. Kommt nur zum Pissen hoch.«
Schweigend blickte die Mannschaft dem Betrunkenen hinterher, wie der schwankend die Planke zum Anleger nahm.
»Wenn der reinfällt, lassen wir ihn ersaufen«, schlug Hinnerk vor, und die Männer grinsten.
Hauke fuhr nachdenklich durch seinen vollen Bart und schwieg. Er würde dazu nichts sagen. Jensen war ihr Kapitän, wenn auch ein schlechter. Aber wer war er selbst, so ein Urteil abzugeben?
Als sie bald darauf das letzte Fass aus dem Bauch des Ewers geholt hatten, setzten sich die Männer mittschiffs. Mit kalten Fingern packten sie ihren Priem aus oder holten die Pfeifen hervor. Sie warteten auf ihre Heuer.
Hauke aber machte sich Sorgen. Von Hinnerk hatte er erfahren, dass Jensen die Männer schon im letzten Hafen um einen Teil ihrer Bezahlung betrogen hatte. Eine steile Falte stand zwischen Haukes Brauen, als er zum Anleger sah, wo Jensen darauf wartete, dass der Prüfer käme und sein Zeichen auf die vielen Fässer machte. Für diesen Fang hatten die Männer hart arbeiten müssen, denn der Sturm vor Cuxhaven hatte es in sich gehabt. Es war nicht einfach gewesen, den Fisch in den hohen Wellen an Bord zu holen.
Ein wenig abseits schoss Hauke ein Tau auf, während er die Mannschaft im Auge behielt. Keiner sagte ein Wort, alle starrten sie hinüber zu Jensen.
Hauke wusste, dass es Zeit war, dass er das Schiff verließ. Er hatte sein Versprechen gehalten und sich mit harter Arbeit die Überfahrt von Amsterdam nach Glückstadt verdient. Sein Soll war erfüllt. Sobald Jensen wieder an Bord war, würde er ordnungsgemäß abmustern.
Er würde zum Friedhof hinter der Kirche am Marktplatz gehen. Sein letzter Weg sollte ihn zum Grab seiner Frau und seines kleinen Sohnes führen. Er wollte dort beten und sie um Verzeihung bitten. Dann hätte er alles erledigt, was es an irdischen Dingen noch zu regeln gab.
»Verdohrig no mol!« Jensens Stimme riss Hauke aus seinen Gedanken.
Schon zum dritten Mal hatte der Kapitän versucht, den Fang zu zählen, wobei er sich schwer auf den Fässern abstützen musste. »Hauke!«, schrie er jetzt. »Wie viele sind es?«
»Vierundvierzig Kantjes, davon zwanzig Vollheringswrack, sieben Stör und zwei Kisten Aal«, antwortete Hauke.
Der Besoffene deutete eine Verbeugung an und torkelte los. Er hielt auf den Heringswracker zu. Der Mann war kleiner als Jensen. Über seinem dicken Wintermantel trug er einen grauen Kittel. Den Kopf hatte er in einen Wollschal gewickelt, sodass kaum mehr als seine rot gefrorene Nase hervorlugte.
Jensen grüßte ihn wortreich, doch der Mann ignorierte die ausgestreckte Hand des Betrunkenen. Da klopfte Jensen ihm auf die Schulter und lachte überschwänglich. Selbst aus dieser Entfernung konnte Hauke sehen, wie der Heringswracker versuchte, dem Fuselnebel des Kapitäns zu entkommen.
Hinnerk kam zu Hauke herüber. Er griff nach dem Priem in seiner Jackentasche. »Wenn der Alte uns noch mal übers Ohr haut, dann gnade ihm Gott«, murmelte er. Flink holte er seinen Kautabak aus dem geölten Stück Segeltuch, brach ein wenig davon ab und steckte es sich in den Mund. Den Rest verstaute er sorgfältig in dem Tuch und ließ das Päckchen zurück in seine Tasche gleiten. »Wir kriegen wieder nur den Fliegendreck! Den Rest steckt er ein für Fusel und Weiber.« Schweigend sah Hinnerk zum Deich hinüber. »Würde ja gerne bei der neuen Heringsfischerei anheuern.« Er zeigte mit seiner großen Hand, die in geflickten Handschuhen steckte, zum Deich hinauf, der hinter dem Anleger lag. Deutlich war das obere Stockwerk eines langen Gebäudes zu erkennen.
»Die bauen eine Flotte auf. Und diese .« Hinnerk suchte ein Wort, aber es fiel ihm nicht ein. »Also, mein Vetter hat denen sein ganzes Erspartes gegeben. Da gab's dann Papier für. Is was richtig Feines, diese .«
»Aktiengesellschaft«, half Hauke.
»Jo, genau!« Hinnerk sah ihn erleichtert von der Seite an. »Na ja, mein Vetter is ja auch Bauer. Die versteh'n wat vom Geldverdienen. Er hat mir erzählt, dass die Fischerei dann jedem gehört, der so ein Papier gekauft hat. Und wenn die Gewinne kommen, bekommst du dein Geld, oder so.« Er schob den zerkauten Priem in die andere Wange. »Weißt du, Hauke, die da oben woll'n noch in diesem Jahr raus. Vier Logger mit neuen Netzen woll'n die losschicken. Das wird 'ne große Sache. Dann ist Glückstadt der größte Hafen für Heringe im ganzen Reich. Der Kaiser selbst hat Geld geschickt, damit es losgehen kann.« Hinnerk lächelte breit. »Tscha, also, wenn ich du wäre, würde ich bei denen anheuern. Kannst doch als Steuermann für die fahren. Ach was, besser noch als Kapitän. Bist zehnmal mehr wert als der Jensen.«
Hauke schwieg. Er wollte nie wieder ein Schiff befehligen. »Lass man gut sein, Hinnerk. Bin auch so ganz zufrieden.« Das stimmte nicht. Und er ahnte, dass Hinnerk ihm nicht glaubte.
Er begann ein weiteres Tau aufzuschießen. Dann hängte er es über einen der hölzernen Belegnägel, die an der Reling in einem Brett mit Löchern steckten. Diese Knüppel waren aus hartem Holz. Man musste sie nur herausziehen, um das schwere Tau zur Hand zu haben. Plötzlich schoss Hauke ein heftiger Schmerz durch den Kopf. Er wankte, stützte sich am Mast ab. Eine kurze Erinnerung flammte in ihm auf. Kaltes Wasser, etwas lag in seiner Hand. Luft! Er bekam keine Luft mehr! . Da war das Bild auch schon verschwunden. Tief atmete Hauke ein, presste eine Faust auf den Kopf. Als der Schmerz nachließ, richtete er sich auf. Fragend sah Hinnerk ihn an.
»Alles gut«, log Hauke und tröstete sich. Auch das würde bald vorüber sein.
Knappe, rohe Worte flogen von Schiff zu Schiff, bellten über Köpfe hinweg, fragten nach Fängen, feilschten um Ladungen und tauschten die neusten Nachrichten aus.
Hauke betrachtete all das mit wenig Interesse. Da stieß Hinnerk ihm den Ellbogen in die Rippen und wies zum Deich hinüber.
»Hübsch, oder?« Hauke folgte seinem Blick.
Eingehüllt in einen dicken wollenen Mantel, den der Wind um ihre Beine flattern ließ, stand dort eine junge Frau. Am Arm trug sie einen Korb, während sie mit...
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