Schweitzer Fachinformationen
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Die Stille nach dem Ton II: BLACK EASTER
Isabell betrachtete ihre nackten Füße, während sie vorsichtig einen Schritt vor den anderen setzte. Die Räder des Infusionsständers, den sie neben sich herschob, erzeugten ein leises, leierndes Quietschen. Eine der Radhalterungen hatte zu wenig Bodenhaftung und rotierte ständig surrend um sich selbst. Niemand kam der jungen Frau auf dem Korridor entgegen. Keine Stimmen waren zu hören, keine Geräusche von Betriebsamkeit oder arbeitender Elektronik. Die Flure waren menschenleer, ebenso die Betten der Krankenzimmer. Das leise Quietschen und das Klackern der Ständerrollen über Fugen und Türschwellen waren die einzigen Geräusche im gesamten Kliniktrakt.
»Hallo?« Isabell stoppte vor der Tür eines Bereitschaftsraums. Als auf ihr wiederholtes Klopfen niemand antwortete, öffnete sie die Pforte und warf einen Blick hinein. Das Zimmer war leer, so wie alle, an denen sie in den vergangenen Minuten vorbeigelaufen war.
Das Ende des Korridors bildete eine schwere Doppelpforte aus Milchglas, mit großen runden Türdrückern, deren Metall sich unter Abertausenden von Berührungen schwarz verfärbt hatte. Das Licht, das aus dem dahinterliegenden Raum hindurchschien, war rot und wollte nicht so recht zur starren, funktionalen Hässlichkeit des Gebäudes passen.
Isabell lauschte, dann drückte sie eine der Türen auf und blieb verwundert stehen.
Jenseits der Glaspforte lag ein kleines, traditionell dekoriertes chinesisches Restaurant, dessen Ambiente einen geradezu grotesken Kontrast zu dem hinter Isabell liegenden Krankenhausflur bildete. Was sie sah, weckte Erinnerungen an den Geruch von Frühlingsrollen, süßsauren Soßen und gedünstetem Gemüse. In Wirklichkeit, so stellte sie nach wenigen Atemzügen fest, roch es im Inneren des Restaurants jedoch nach gar nichts. Zuerst glaubte Isabell, es wäre ebenfalls verwaist - bis sie den alten Mann erblickte, der an der Fensterfront zu ihrer Rechten an einem der Tische saß und nun lächelnd eine Hand hob.
»Hallo, junge Dame«, begrüßte er sie. »Nicht so schüchtern, kommen Sie rein. Hier gibt es Glückskekse.«
Isabell verharrte zwischen Tür und Angel. Sie blickte über ihre Schulter und lauschte in die Stille des hinter ihr liegenden Klinikflurs in der Hoffnung, irgendwo möge ein Licht aufleuchten oder eine Schwester auftauchen und sie mit einem freundlichen Lächeln aufwecken.
Als nichts dergleichen geschah, betrat sie das Restaurant, woraufhin die Glastür sich lautlos hinter ihr schloss.
»Hallo«, grüßte sie den Fremden. »Wo sind denn alle?«
Der alte Mann schob die Unterlippe vor. »Vermissen Sie jemand Bestimmtes?«, fragte er.
»Nein, ich .« Isabell schaute sich um. »Ich dachte nur, weil es so .«
»Kommen Sie, setzten Sie sich.« Der Fremde wies auf den Platz ihm gegenüber. »Betrachten Sie sich als meinen Gast.«
Zögernd folgte sie seiner Einladung, wobei ihr Blick umherwanderte. Sie betrachtete die kleine Vase mit der Tischpflanze vor sich, die Bonsaireihe auf der Fensterbank, die traditionellen chinesischen Papier- und Holzlampen und die von Schnitzereien und Seidengemälden verzierten Wände.
Schließlich sah sie aus dem Fenster, hinab auf den leeren, vier Stockwerke tiefer liegenden Parkplatz. Ihr Blick wanderte weiter, suchte Leben und Bewegung, doch auch auf den Straßen rührte sich nichts.
»Möchten Sie einen Tee, oder vielleicht eine Kleinigkeit essen?«, fragte der alte Mann.
Isabell musterte ihr Gegenüber. Der Fremde trug einen vornehmen, wenn auch ein wenig aus der Mode gekommenen dunkelgrauen Zweireiher. Seine Haare erschienen ihr zu voll für sein Alter. Sein markantes, frisch rasiertes, doch kränklich bleiches Gesicht wirkte auf sie wie das eines in Ehre ergrauten Filmstars, doch ihr wollte weder ein Name noch ein relevanter Streifen einfallen, der zu ihm passte.
Schließlich erinnerte sie sich an seine Frage und horchte in sich hinein, verspürte jedoch weder Hunger noch Durst und schüttelte den Kopf.
»Sind Sie Arzt?«, fragte sie.
Ihr Gegenüber hob in einem Anflug von Belustigung die Augenbrauen. »Wirke ich so seriös auf Sie? Jeden Tag sterben auf der Welt mehr als 160.000 Menschen. Denken Sie also nicht, ich würde mich speziell um Sie kümmern. Ich befinde mich an Milliarden von Orten gleichzeitig. Ich erwarte nicht, dass Sie das verstehen. Nehmen Sie es einfach als gegeben hin.«
»Also kein Arzt«, schlussfolgerte Isabell.
»Bedaure, nein, ich rette für gewöhnlich niemanden. Das ist nicht mein Job.«
»Und was ist Ihr Job?«
Statt zu antworten, griff der Mann hinter sich, fischte eine kleine Schüssel mit drei in Goldfolie verpackten Glückskeksen vom Nachbartisch und hielt sie ihr hin. »Orakel?«
»Ernsthaft?«
»Nehmen Sie einen.«
Isabell blies enerviert die Backen auf. Dann pflückte sie einen der Kekse heraus, packte ihn aus, brach ihn entzwei und betrachtete die Bruchstücke. »Er ist leer«, stellte sie fest.
»Oh, das tut mir leid.« Der alte Mann stellte die Schale zurück auf den Nachbartisch. »Aber wie heißt es so schön: Ein jeder ist seines Glückes Schmied.«
Isabell steckte sich eine der Kekshälften in den Mund. »Wie heißen Sie?«, fragte sie kauend.
»Nennen Sie mich Vidoc.«
Ein zweifelndes Stirnrunzeln. »So wie der Detektiv?«
»Eigentlich war er ein Krimineller«, sagte ihr Gegenüber lächelnd. »Aber ja, so wie der Detektiv. Nur ohne das Quarantäne-Q.«
Isabell zog eine Grimasse. »Witzig. Und der Name ist echt bescheuert.« Sie sah wieder aus dem Fenster zu einer etwa hundert Meter entfernt stehenden Kirche hinüber. Die Turmuhr stand auf Viertel vor neun. Ihr Blick wanderte zurück auf die Tischpflanze und schließlich ziellos durch den Raum. »Es ist so still«, sagte sie und erhob sich wieder. Den Infusionsständer vorsichtig neben sich herschiebend, ging sie langsam hinüber zur gegenüberliegenden Fensterfront. »Ich kann die Sonne nirgendwo sehen«, rief sie, nachdem sie eine Weile auf der anderen Seite des Restaurants hinausgeblickt hatte. »Ist es Morgen oder Abend?«
»Beides.«
Isabell wandte sich um. Über ihrer Nasenwurzel hatte sich eine kleine Zornesfalte gebildet. »Machen Sie sich über mich lustig?«
»Nichts läge mir ferner, meine Teuerste.«
»Nennen Sie mich nicht >meine Teuerste
»Verärgerung. Das gefällt mir wesentlich besser, als Ihnen dabei zuzusehen, wie Sie dasitzen und Maulaffen feilhalten.«
»Bitte?«
Vidoc machte eine beschwichtigende Handbewegung. »Na gut, wie darf ich Sie nennen?«, fragte er. »Sie haben ja leider noch kein Schild am Zeh.«
Isabell sah hinab auf ihre Füße. »Was für ein Schild?«
»Kleiner Pathologenwitz. Also?«
Sie setzte sich wieder zu ihm und sah ihm in die Augen. »Isabell.«
»Ah, Isabell .« Vidoc klatschte in die Hände, ohne dass dabei ein Laut erklang. »Wissen Sie, welcher Tag heute ist, Isabell?«
Sie blickte erneut aus dem Fenster. Die Kirchturmuhr zeigte immer noch Viertel vor neun.
»Was ist mit der Uhr los?«
»Sie weichen meiner Frage aus.«
»Ich weiß es nicht.«
»Heute ist der 13.«
»Etwa Freitag, der 13.?«
»Nein, junge Frau. Montag. Es ist Ostermontag. Wir befinden uns mitten im klassischen Auferstehungstriduum.«
Isabell verzog die Mundwinkel. »Glauben Sie an Gott?«
»Tut das nicht sogar der Teufel?« Der Anflug eines spitzbübischen Lächelns schlich sich auf Vidocs Lippen. »Ein Sprichwort sagt: Den Seinen gibt's der Herr im Schlafe.«
»Was machen Sie hier, wenn Sie kein Arzt sind?«
»Ich bin hier, um Sie rechtzeitig vor Gottes Almosen zu wecken.«
Isabell verdrehte die Augen. »Sie sind ein Zyniker vor dem Herrn, was?«
Der alte Mann lachte auf. »Ja, so könnte man es sagen. Ja .«
»Na schön, jetzt mal ehrlich: Wer sind Sie?«
Vidoc linste mal nach hier, mal nach dort, machte dabei ein gespielt ratloses Gesicht und fragte: »Vielleicht - der Koch?«
»Sie sind Schauspieler, habe ich recht? Sie üben Ihre neue Rolle. Was spielen Sie?«
»Faust, Gretchen. Mephisto. Schon seit Ewigkeiten. Vorherrschend arbeite ich jedoch als Muse der Imagination und als Souffleur - für all jene, die wie Sie ihre Visionen gelebt haben: Dichter, Künstler, Tänzer, Schriftsteller.«
»Warum sprechen Sie in der Vergangenheit?«
»Weil Sie Vergangenheit sind, Isabell.« Vidoc beugte sich ein Stück vor und studierte ihre Augen. »Dieses Lied, an das Sie denken müssen, diese Songzeilen in Ihren Gedanken, diese schönen Frauenstimmen in Ihrem Kopf, welche ständig dieselbe Strophe wiederholen wie ein Mantra: God bless the world, it's so glorious, God bless the ones we've loved, God bless the ones we've lost .«
Sie griff sich an die Stirn. »Woher wissen Sie das?«
»Vergangenheit, meine Teuerste! Vergangenheit. Teile Ihrer letzten Erinnerungen. Fragmente des Gesehenen. Erinnerungen an Liebgewonnenes. Bruchstücke vergeblicher Hoffnungen.«
Isabell neigte den Kopf. »Muse der Schriftsteller, hm?«
Der alte Mann machte eine entwaffnende Geste. »War nicht meine Idee.«
»Klar doch . Vielleicht sind Sie ja auch so etwas wie Stephen King, nur mit einem mächtigen Sprung in der Schüssel!«
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