Die Verlorenen von Marie-Galante
(Teil 1 von 2)
von Rafael Marques
Wer meine Abenteuer liest, der weiß, dass ich mich dem Orden der Templer eng verbunden fühle. Ihr Anführer Godwin de Salier ist sogar ein guter Freund von mir und hat mich schon unzählige Male im Kampf gegen die Mächte der Finsternis unterstützt.
Doch es gibt auch eine Gruppe abtrünniger Templer, die den Götzen Baphomet verehren, den Dämon mit den Karfunkelaugen.
Als mein Partner Suko und ich in die Karibik reisten, um dort einen übersinnlichen Fall aufzuklären, trafen wir erneut auf die fanatischen Diener Baphomets!
Für Callum Conway war die Arbeit Routine. Ladungssicherung kontrollieren, das Deck sauber halten und darauf achten, dass sich keine ungebetenen Gäste Zugang zu den Containern verschafften. In seinen zwanzig Jahren auf See hatte er schon fast alles erlebt, sogar dreiste Diebe, die sich in einem Hafen auf dem Schiff versteckten, um am nächsten Hafen mit ihrer Beute an Land zu gehen.
Diesmal blieb alles friedlich, weshalb er die Momente der Ruhe nutzte, um seinen Blick über den Horizont schweifen zu lassen. Die Arbeit auf der >Sun of the Sea<, einem unter britischer Flagge fahrenden Frachter, brachte es mit sich, dass die Crew und er Gegenden bereisten, die für viele Touristen Traumziele darstellten. Und wenn er sie auch nur aus der Ferne betrachten konnte, die zahlreichen Inseln der Karibik waren ein Traum.
Ihre Reise führte von New York nach La Guaira, dem zur venezolanischen Metropole Caracas zählenden Hafen am nördlichen Ende Südamerikas. Im Moment befanden sie sich wenige Seemeilen von Dominica entfernt, südlich des französischen Übersee-Départements Guadeloupe. Die See war ruhig, allerdings war Callum längst aufgefallen, dass sie eine ungewöhnliche Route fuhren, da sie normalerweise Guadeloupe westlich umrundeten.
Ein wenig wunderte ihn das schon, immerhin erzählte man sich über diesen Bereich der Kleinen Antillen eine düstere Legende. Ähnlich dem, was über das berühmte Bermuda-Dreieck berichtet wurde, sollten hier in der Vergangenheit immer wieder Handelsschiffe verschwunden sein.
Gut, solche Geschichten hörte er in so manchen Regionen der Erde, auch vor der Küste Afrikas, wo sich besonders die Mär vom >Fliegenden Holländer< hartnäckig hielt.
Als junger Mann war Callum von derartigen Sagen und Legenden fasziniert gewesen. Pioniere der Seefahrt, Abenteurer und Wagemutige, die spurlos in den Weiten des Meeres verschwanden, nie wiedergesehen wurden und Jahre später auf heruntergekommenen Zweimastern als Untote in die Welt der Lebenden zurückkehrten. Wiederum andere Schiffe fristeten ihr Dasein auf dem Meeresgrund und wurden manchmal von mutigen Tauchern entdeckt und geborgen, wobei sie dabei nicht nur Schätze an Land förderten, sondern auch die Geister der Vergangenheit.
Mittlerweile machte er sich um solche Dinge keine Illusionen mehr. Genauso wie um seinen Job, der ihn mit den Jahren einsam werden ließ. Aus Kostengründen arbeiteten auf den meisten Frachtern - auch auf der >Sun of the Sea< - billige Lohnkräfte aus Südostasien, vornehmlich von den Philippinen. Wenngleich er mit ihnen meist gut zurechtkam, bestand immer eine persönliche und kulturelle Distanz, die sich nicht überwinden ließ.
Und so verbrachte er die ruhigen Tage der manchmal wochenlangen Fahrten allein oder in Gesprächen mit Lee Barringham, dem Kapitän des Frachters.
Lee war schon zur See gefahren, als Callum Conway noch grün hinter den Ohren gewesen war, und würde bald in den wohlverdienten Ruhestand gehen.
Genau ihn funkte Callum jetzt an, während sein Blick auf der Guadeloupe vorgelagerten Insel Marie-Galante hängen blieb. Dabei beobachtete er einige Seevögel, die sich vom Wind treiben ließen.
»Sag mal, warum nehmen wir nicht die übliche Route, Lee?«, fragte er. »Sind dir die Ausblicke zu langweilig geworden?«
Ein Lachen drang durch das kleine Gerät an Callums Ohr. »Das ist eine meiner letzten Fahrten, verflucht! Ich hab keine Lust mehr, mich nach ungeschriebenen Gesetzen zu richten, und ich fürchte mich auch nicht vor Seemannsgarn. Keine Sorge, es wird schon nichts passieren. Außerdem können wir uns den kleinen Umweg vorbei an Marie-Galante leisten.«
»Dein Wort in Gottes Ohr.«
Mit dieser Erwiderung war das kurze Gespräch beendet. Callum, der im kommenden November seinen fünfundvierzigsten Geburtstag feiern würde, hatte sich etwas Ähnliches bereits gedacht. Durch Lee wusste er von manchen ungeschriebenen Gesetzen, an die sich selbst die modernen Schiffskapitäne hielten, ob nun aus Tradition oder Aberglaube.
Seufzend passierte Callum Conway einen der riesigen Container, die nicht nur für Caracas, sondern für zahlreiche Ziele in Südamerika gedacht waren. Auch Wertfracht zählte diesmal wieder dazu, nur würden ihnen in diesem Jahrhundert keine Freibeuter mehr aus ihren Verstecken in der Karibik auflauern.
Mit beiden Armen lehnte er sich an die Reling und betrachtete den Horizont. Bald würde einmal mehr die Sonne im Meer versinken, auch ohne Wolken ein bezauberndes Schauspiel.
Obwohl er inzwischen kein Träumer mehr war, versuchte er, seine Reisen so gut es ging zu genießen. Die Arbeit in einem engen, lauten Büro wäre für ihn unvorstellbar, er brauchte diesen Hauch von Freiheit, wenngleich die Arbeit auf einem Frachter wahrlich nicht nur aus Abenteuern und dem Betrachten schöner Landschaften bestand.
Noch ehe der glühende Ball hinter den Wellen verschwand, wandte er sich kurz ab. Eigentlich wollte er nur nachsehen, ob er noch allein war, doch der Anblick, der sich ihm nun bot, ließ sein Interesse am Sonnenuntergang schlagartig erlöschen.
Jenseits des Bugs breitete sich in wenigen Seemeilen Entfernung eine dunkelgraue Wolke aus, die sich zuvor noch nicht dort befunden hatte. Natürlich zog selbst in der paradiesischen Karibik gelegentlich Nebel auf, nur nicht so plötzlich und unerwartet.
Während er sich in Richtung Bug begab, funkte er erneut den Kapitän der >Sun of the Sea< an, der von der Kommandobrücke eine weitaus bessere Sicht auf die umliegenden Gewässer hatte.
»Siehst du das auch, Lee?«, sprach Callum in sein Funkgerät.
»Ja, Nebel. Und?«
»Also hör mal, vor ein paar Minuten war da noch keine Wolke.«
Trotz der mäßigen Verbindung war der Seufzer des Kapitäns nicht zu überhören. »Er kam schon ziemlich unerwartet, ja, aber was willst du jetzt von mir hören? Dass wir sofort kehrtmachen sollen, weil der Nebel uns sonst das Fleisch von den Knochen frisst?«
Callum lag es auf der Zunge, Lee von einer Geschichte zu erzählen, die ihm einmal in einer Bar am Hafen von London zu Ohren gekommen war. Laut dieser sollte so etwas vor vielen Jahren tatsächlich auf einer Bohrinsel in der Nordsee geschehen sein.
»Du willst also mitten durch die Wolke«, stellte er stattdessen fest.
»So sieht es aus«, bestätigte Lee. »Oder hast du Angst vor der alten Legende?«
»Das nicht ...«
»Also, stell dich nicht so an. Wir sind schließlich beide erwachsen und ich bald Rentner. Gönn einem alten Mann einen Hauch von Abenteuer.«
Callum verdrehte die Augen und beendete das Gespräch.
Was hatte er sich überhaupt dabei gedacht, Lee anzufunken? Im Nachhinein schallt er sich einen Narren dafür, immerhin lief alles darauf hinaus, dass er eben doch dieses Seemannsgarn nicht aus dem Kopf bekam. Natürlich handelte es sich bei der Nebelwolke lediglich um ein seltsames Naturphänomen.
Statt zum Bug zu gehen und den Nebel genauer in Augenschein zu nehmen, lehnte er sich wieder über die Reling und beobachtete die Sonne dabei, wie sie endgültig hinter dem Horizont versank. Ihr intensiver Schein würde natürlich noch eine ganze Weile bestehen bleiben und dem Betrachter eine melancholisch-nachdenkliche Atmosphäre schenken.
Das änderte sich, als der Frachter durch die ersten Nebelschwaden glitt. Callum wunderte sich ein wenig, dass er weder zu frösteln begann noch die in der Luft liegende Feuchtigkeit auf seiner Haut verspürte. Nicht einmal einen Luftzug registrierte er, als würde er sich in einem Vakuum befinden, das selbst das Rauschen des Wassers dämpfte.
Kurze Zeit später war der Nebel bereits so dicht, dass er nicht einmal mehr die Hand vor Augen sah.
»Lee, verflucht, wo hast du uns hingesteuert?«, murmelte er und war versucht, erneut das Funkgerät zu betätigen, doch es kam keine Verbindung zustande.
Plötzlich hörte er einen entsetzlichen Schrei über das Deck hallen. Wahrscheinlich war es einer der Philippinen. Er brüllte sich die Seele aus dem Leib, bis er schlagartig verstummte.
»Was ist los, verflucht?«, rief Callum Conway in das Grau hinein. »Hört ihr mich?«
Eine Antwort erhielt er nicht. Dafür glaubte er, eine fremde Hand auf seiner Schulter ruhen zu spüren, und als er sich umdrehte, begann er selbst zu schreien ...
50 Seemeilen vor Marie-Galante, vier Wochen später
»Champagner,...