Die Kälte, die die weiße Pracht mitgebracht hatte, war geradezu mörderisch. Viele ihrer Kameraden waren in dem Schneesturm zu Tode gekommen. Die Leichen, die ihnen auf ihrem Weg durch das Viertel aufgefallen waren, sprachen jedenfalls eine deutliche Sprache.
Kenny und Ronnie hatten den Sturm nur überstanden, indem sie sich in ihrer Wohnstätte verbarrikadiert hatten - einem riesigen Müllcontainer. Erst als sich das Wetter gebessert hatte, hatten sie sich aus dem Versteck gewagt. In den Lumpen, in die sie eingewickelt waren, war die Kälte kaum zu spüren. Nur an ihren Augen nahmen sie sie mehr als deutlich wahr. Erst wenn ein Stück ihrer Haut frei lag, spürten sie, wie gut es war, so dick eingepackt zu sein.
Hell's Corner - ein verfallenes Viertel, in dem sich vor allem die Blut-Dealer ausgebreitet hatten - hatte sich in den letzten Wochen verändert. Seit eben jene Dealer aus dem Gebiet verschwunden waren, traute sich auch die Polizei wieder hierher. Die Behörden hatten bereits einige Maßnahmen zur Säuberung von Hell's Corner eingeleitet - was jedoch bedeutete, dass unliebsame Anwohner mit Gewalt vertrieben wurden. Im Moment war von der Polizei allerdings nichts zu sehen.
Seit gut einer halben Stunde waren sie nun schon unterwegs, um irgendwie etwas Essbares in die Finger zu bekommen. Dafür durchforsteten sie eine Gasse nach der anderen. Meist fanden sie nichts als Schnee. Selbst die Eingänge der Häuser waren unter den weißen Massen verschwunden.
Inzwischen knurrte Kennys Magen wie ein räudiger Köter. Ronnie erging es sicher nicht anders. Auf der Straße zu leben, bedeutete oft, große Entbehrungen hinzunehmen. Aber meistens fand sich irgendwie doch eine Möglichkeit, sich den Magen aufzufüllen. Nur heute sah es düster aus.
Nach einer Weile erreichten sie eine etwas breitere Straße, die direkt zu den beiden riesigen Türmen führte, die dem Viertel seinen Namen gegeben hatten. An der verdreckten Fassade, deren Fensterscheiben fast alle eingeschlagen waren, hingen einige schmutzige Fahnen herunter. Teile des Gebäudes waren mit einer Eisschicht bedeckt.
Nicht weit von ihnen entfernt entdeckte Kenny zwei nebeneinanderstehende Straßenlaternen, an denen aus pergamentartigem Papier hergestellte Bänder hingen. Die darauf abgebildeten Schriftzeichen waren uralt und weder für ihn noch für irgendjemand anderen in der Stadt zu entziffern. Es war seit Jahrhunderten Tradition, sie vor der dritten Rauhnacht aufzuhängen. Nach alter Überlieferung sollte es sich bei den Schriften um Bannsprüche handeln, die böse Geister von der Stadt abhalten sollten.
Die Spruchbänder wurden normalerweise von Bediensteten der Stadt überall in Twilight City aufgehängt - und auch von diesen bewacht. Schließlich handelte es sich bei dem Pergamentpapier um eine Antiquität von unschätzbarem Wert. Nur, diesmal war weit und breit niemand zu sehen.
»Wenn ich nicht so Hunger hätte, würde ich mir das Pergament gleich mal schnappen«, murmelte Ronnie und tippte dabei auf seinen Magen. Trotz des Lebens auf der Straße besaß er einen beachtlich dicken Bauch. »Aber das schmeckt nur nach Leiche.«
Kenny starrte ihn kurz angewidert an. »Ich will gar nicht wissen, woher du das so genau weißt.«
Trotz seines knurrenden Magens trat er näher an das Spruchband heran. Dabei entdeckte er etwas, das er zuvor übersehen hatte. Mitten in den Schneemassen zeichneten sich einige rote Spuren ab. Er hatte keine Zweifel, dass es sich um Blut handelte. Obwohl niemand sonst in der Nähe zu sein schien, griff er in seine Lumpen und zog ein Messer mit krummer, gezackter Klinge hervor. Sicher war sicher.
»Hey, Kenny, was ist los? Warum hast du das Messer rausgeholt? Willst du dir von mir eine Scheibe abschneiden?«
»Halt die Klappe, Ronnie«, flüsterte er.
Vorsichtig trat er an den Blutflecken vorbei und näherte sich den Straßenlaternen. Ganz in der Nähe befand sich noch eine Bushaltestelle, deren Scheiben durch die Kälte zum Teil geplatzt waren. Auch an dem Glas entdeckte er Blutreste.
Kenny wollte schon weitergehen, als seine Füße an etwas hängen blieben. Mit seiner Messerhand griff er in den Schnee - und zog einen abgetrennten Arm hervor. Überrascht schrie er auf und zuckte zurück. Sein Geist erfasste jedoch sofort, dass der Arm nicht abgeschnitten, sondern mit brutalster Gewalt ausgerissen worden war. Der Ärmel der Jacke, die noch auf der Haut verblieben war, wies auf einen Mitarbeiter der Stadt hin.
»Scheiße, was ist das, Kenny?«, rief Ronnie und begann zu würgen.
»Ich weiß es nicht. Aber wir sollten von hier verschwinden.«
Kenny sah sich noch einmal um. Dabei entdeckte er in einer schmalen Seitenstraße zwei Schuhe, die aus einer Schneewehe herausragten. Als wollte man ihm ein Zeichen geben, fegte eine Windböe durch die Straße und befreite den Toten aus seinem weißen Grab. Jemand hatte dem Kerl förmlich die Brust aufgerissen. Selbst seine Kehle war nicht verschont geblieben. Da er noch beide Arme hatte, war das schon der zweite Tote.
»Hey, Kenny, was ist jetzt wieder?«, fragte Ronnie weinerlich. »Komm, sag doch was!«
»Weg hier!«
»Was?«
»Wir müssen weg von hier. Irgendeine Scheiße geht hier vor, und ich will nicht der Nächste sein, der dran glauben muss. Los jetzt!«
»Ja, ja .«
Kenny drehte sich um - und erstarrte. Aus einer anderen Straße wankten mehrere Gestalten auf sie zu. Sie waren noch gut zwanzig Meter entfernt, aber auch so konnte er gut erkennen, dass mit ihnen etwas ganz und gar nicht stimmte. Es waren Obdachlose wie sie, ebenfalls in graubraune Lumpen gehüllt. Sie besaßen jedoch weder Mützen noch einen Mundschutz. So fiel sein Blick auf ihre angeschwollene, von einem seltsamen Ausschlag überzogene Haut. Und auf die Münder. Als er das Blut entdeckte, das einigen von ihnen direkt von den Zähnen tropfte, wusste er, dass er die Mörder der beiden Stadtbediensteten vor sich hatte.
»Was zum .«, murmelte er und schüttelte den Kopf.
Sein Blick wanderte in Richtung der Türme. Der Weg zu den Wahrzeichen von Hell's Corner war frei. Immerhin etwas. Doch die anderen Obdachlosen waren sehr nahe. Zudem wirkte es, als würden sie ihre Schritte langsam beschleunigen. Als wäre eine Gier in ihnen erwacht.
Ronnie geriet in Panik. Er löste sich aus seiner Starre und rannte los, kam aber nicht weit. Schreiend stolperte er über etwas, das unter einer Schneewehe verborgen lag.
»Komm schon, Mann«, rief Kenny ihm zu und versuchte, ihn wieder auf die Beine zu zerren.
Die einarmige Leiche, die für Ronnies Sturz verantwortlich war, beachtete er dabei kaum. Bei den weit über hundert Kilo, die sein Freund auf die Waage brachte, war sein Rettungsversuch ein hoffnungsloses Unterfangen. Als er merkte, wie nahe die Veränderten ihm schon gekommen waren, ließ er ihn los und rannte davon.
»Kenny!«, schrie Ronnie ihm hinterher. Sein Ruf ging in einem erstickten Gurgeln unter. Wie wilde Tiere stürzten sich drei der Gestalten auf ihn. Kenny sah nur, wie Blut durch die Luft spritzte, dann wirbelte er wieder herum.
Mit aller Macht versuchte er, die Gedanken an das Ende seines Freundes aus seinem Kopf zu verdrängen. Doch es gelang ihm nicht. Schon gar nicht, als er die hechelnden Laute hinter sich hörte. Kenny rannte, so schnell er konnte, nur war er nicht in der Lage, in den schweren Lumpen Tempo aufzunehmen.
In diesem Moment sah er etwas, das wieder Hoffnung in ihm aufkeimen ließ. Mitten auf dem Platz vor den Türmen fuhr ein Streifenwagen der Polizei. Kenny schrie, so laut er konnte, und schwenkte dabei mit den Armen.
Hinter ihm brüllte jemand auf. Ein harter Stoß traf seinen Rücken und trieb ihm die Luft aus den Lungen. Schreiend taumelte er nach vorne, bis er über seine eigenen Füße fiel und zu Boden stürzte. Instinktiv drehte er sich dabei auf den Rücken. Vier der Männer und Frauen mit dem seltsamen Ausschlag hatten ihn fast erreicht. In ihren starren Blicken lag eine unbändige Gier. Ihre Münder waren weit aufgerissen, sodass Kenny auf die blutbesudelten Zähne blicken konnte, zwischen denen undefinierbare Reste hingen.
Dann stürzten sie sich auf ihn. Kenny brüllte und schlug um sich. Mehrmals fuhr die Klinge seines Messers in die Brust einer gut vierzig Jahre alten, braunhaarigen Frau. Dunkelrotes Blut spritzte ihm entgegen. Trotz der schweren Verletzungen griff sie weiter nach ihm und versuchte, ihm die Kehle aufzureißen. Erst als er ihr die Klinge mit voller Wucht in die linke Brustseite rammte, erstarrte sie. Ihr Blick brach, und schon im nächsten Moment kippte sie zur Seite.
Kenny verlor den Kontakt zum Messergriff. Das nutzten die Begleiter der Frau eiskalt aus. Mit gurgelnden Lauten stürzten sie sich auf ihn. Er war nicht einmal in der Lage, sich zu wehren. Die Kräfte der Angreifer waren um einiges größer als seine. Plötzlich rasten kaum zu beschreibende Schmerzen durch seinen Körper, als sich die Zähne der Männer in seinen Körper wühlten.
Sein Blick trübte sich. Wie aus lauter Entfernung drangen laute Schussgeräusche an seine Ohren. Kenny bekam das kaum noch mit. Während die ersten der Angreifer zusammenbrachen, rann das Leben immer schneller aus seinem Körper .
***
Lieutenant Ed Dandrigde drückte einfach ab. Sein Partner und bester Freund, Officer Charly Vincent, tat es ihm nach. Er feuerte fast sein gesamtes Magazin auf die vier Männer, die sich auf den Obdachlosen gestürzt hatten.
...