Schweitzer Fachinformationen
Wenn es um professionelles Wissen geht, ist Schweitzer Fachinformationen wegweisend. Kunden aus Recht und Beratung sowie Unternehmen, öffentliche Verwaltungen und Bibliotheken erhalten komplette Lösungen zum Beschaffen, Verwalten und Nutzen von digitalen und gedruckten Medien.
1 Mit beiden Beinen ins Leben
Wenn du anfängst, den Gaben zu vertrauen, die dir geschenkt worden sind, wird dir der Sinn des Lebens klar. Du kannst ihn vielleicht nicht in Worte fassen, aber du wirst ihn verstehen.
Paul Ferrini
"Nächster Halt: Siegen", dröhnt es aus den Lautsprechern. Der Zug rollt unter durchdringendem Quietschen der Bremsen auf dem Bahnsteig aus. Ein kleiner Mann mit schwarzen Haaren und dunklem Teint springt etwas hektisch von seinem Sitz auf, holt sein Köfferchen aus der Gepäckablage und sammelt seine Jacke und die Tüte mit Proviant ein, die er den ganzen Weg von Anatolien bis hierher mitgeschleppt hat. Inzwischen ist die Tüte fast leer. Nur noch ein aufgeweichter Rest Sesamkringel ist darin und eine leere Trinkflasche. Er schiebt sich an einigen anderen Fahrgästen vorbei und wartet, bis die Tür aufgeht.
Gleich wird er aussteigen . hinein in eine komplett andere Welt, in der alles neu und fremd für ihn ist. Die Sprache, die Gepflogenheiten, einfach alles. Er ist allein, es gibt hier niemanden, den er kennt, nichts, woran er sich orientieren könnte. Er hat etwas Angst, aber auch Hoffnung: Schließlich ist er aufgebrochen, um ein besseres Leben zu finden als das, was ihm seine Heimat bieten konnte. Was wird ihn hier erwarten?
Die Tür geht zischend auf. Er hebt seinen Koffer an und macht den ersten Schritt hinaus in sein neues Leben.
*
Mit meinem Opa väterlicherseits hat alles angefangen, damals in den 1960er-Jahren. Wie anders wäre nicht nur sein, sondern auch mein Leben verlaufen, wenn er damals nicht den Mut aufgebracht hätte, ganz allein in ein fremdes Land zu gehen und von vorn anzufangen.
Mustafa war der älteste von vier Brüdern und ist ohne Vater in Anatolien aufgewachsen. Er hatte nur die Mutter - und die war extrem streng. Sie war die Krankenschwester und Hebamme seines Heimatdorfes. Elif hieß sie, und wenn man nur den Namen hörte, stand man schon stramm, so erzählte er. Liebevoll war sie nicht, auch nicht zu ihren eigenen Kindern. Aber das ist vielleicht irgendwie nachvollziehbar, weil sie vier Jungs allein großziehen musste, und das in einer nicht gerade einfachen Zeit und Gegend. Das Leben hatte sie sozusagen dazu gezwungen, so zu sein. Vielleicht kannte sie es auch nicht anders.
Mustafa fing früh an zu arbeiten, damit seine drei jüngeren Brüder studieren konnten. Er heiratete und wurde Vater von vier Kindern. Und als sich die Möglichkeit auftat, als Gastarbeiter nach Deutschland zu gehen, war er einer der Ersten, die herkamen. Seine Familie musste er in der Türkei zurücklassen, doch er schickte ihnen regelmäßig das Geld, das er in der Fabrik im Siegerland verdiente.
Nach einigen Jahren holte er dann seine Frau und die Kinder nach. Mein Vater, Faruk, war damals acht Jahre alt. Er war das dritte Kind und hatte einen Bruder und zwei Schwestern. Er hatte ähnliche gesundheitliche Einschränkungen wie ich, wenn auch nur an den Beinen, und mein Opa war überzeugt, dass man ihn hier deutlich besser medizinisch versorgen konnte als in der Türkei. Der Gendefekt, den mein Vater hatte, kam wohl über seine Mutter. In der Familie meiner Oma gab es einige Familienmitglieder, die ähnliche Symptome aufwiesen wie er.
Mein Opa war ein extrem fleißiger Mensch. Früh beschloss er, dass es ihm nicht reichte, gemeinsam mit meiner Oma in der Fabrik zu arbeiten, sich mit den Deutschen dort mit Händen und Füßen zu verständigen und sonst weiterhin zu leben wie in der Türkei, immer nur unter anderen Türken. Er sagte sich: "Wenn ich es hier zu irgendwas bringen will, muss ich die Sprache lernen." Deshalb befasste er sich intensiv mit der deutschen Sprache und besuchte später sogar eine Übersetzer-Schule und wurde Dolmetscher. Ich bin richtig stolz auf ihn, denn Deutsch ist als Fremdsprache ja wirklich nicht leicht zu lernen, das muss man erst mal schaffen.
Mein Opa hat mich als Kind mal zum Gericht mitgenommen, wo er in Verhandlungen als Dolmetscher tätig war. Ich war damals total beeindruckt, wie schnell er simultan übersetzen konnte. Ich denke, es ist unglaublich schwierig, gleichzeitig zuzuhören und zu reden.
Ich nannte ihn Dede, obwohl das die Bezeichnung für den Vater der Mutter ist. Aber weil die Kinder meiner Tante ihn so nannten, hat sich das bei uns auch eingebürgert. Dede wollte, dass alle in der Familie Sprachen lernen und Dolmetscher werden, auch die Enkelkinder. Wenn ich nachmittags aus der Schule zu den Großeltern kam, hat er mir oft eine Zeitung hingelegt, damit ich Artikel aus dem Türkischen ins Deutsche übersetze. Darauf hatte ich natürlich gar keine Lust, aber ich wusste: Wenn ich bei Dede bin, muss ich pauken. Der Mann war total verrückt mit seinem Sprachenlernen, Deutsch war ihm nicht genug. Er hatte von Montag bis Sonntag in seinem Kalender stehen, welche Sprachen wann dran waren: Russisch, Englisch, Arabisch .
Da ich nach der Schule nicht so recht wusste, was ich machen sollte, ging Dede mit mir zur IHK, damit ich mich zu verschiedenen Ausbildungsmöglichkeiten beraten lassen konnte. Das fand ich eine gute Idee. Aber als wir dran waren, behauptete Dede, bevor ich irgendwas sagen konnte, dass ich gern Dolmetscherin werden möchte, und fragte, was ich denn dafür brauche. Ich zischte ihm zu: "Dede, das stimmt doch gar nicht!" Da zwinkerte er mir nur zu und flüsterte zurück: "Jetzt lass mich mal." Das war irgendwie auf übergriffige Art süß. Ich wusste ja, dass es sein tiefster Wunsch war, dass wir alle Dolmetscher werden. Außer meinem Vater ist aber niemand in die Richtung gegangen und bei mir hat es auch nicht funktioniert.
Dede war sehr streng zu seinen vier Kindern und wollte, dass sie immer nur lernen, lernen, lernen. Mein Papa, Faruk, war jedoch ein bisschen faul. Er war sehr intelligent, hatte aber keinen Bock auf übermäßige Lernanstrengungen, sondern eher auf Frauengeschichten. Die wilde Zeit in den 70er-Jahren nahm er voll mit. Er war ein sehr charmanter, gut aussehender Kerl und lebte sich voll aus. Er war damals schon beinamputiert, aber das scheint nicht groß gestört zu haben. Mit mir hat er nicht darüber geredet, deshalb weiß ich nicht, ob es ihm viel ausgemacht hat und wie es für ihn war. Auf jeden Fall hat er sein Leben gelebt. Er war sehr selbstbewusst und ein bisschen ein Rebell.
Eines Tages, er war im Urlaub in der Türkei, irgendwo draußen auf dem Land, fuhr ein Traktor mit einem Anhänger vorbei, auf dem lauter Frauen saßen. Eine davon fiel ihm ins Auge, und er sagte sich: "Die ist die Hübscheste, die will ich!" Er muss zu der Zeit 19 oder 20 gewesen sein.
Vor Ort recherchierte mein Vater, wer dieses Mädchen auf dem Traktor gewesen war und zu welcher Familie sie gehörte. Und dann fuhr er dorthin und stellte sich den Eltern des Mädchens vor. Die waren gleich hin und weg von ihm. Mein Papa sah, wie gesagt, sehr gut aus und konnte gut quatschen, und als sie hörten, dass er aus Deutschland kam, gingen bei ihnen die Lichter an: Deutschland! Mercedes! Miele! Reichtum!
Ihre Tochter, also meine Mutter, war erst 15. Ihre Eltern haben sie halb überredet, halb gezwungen, meinen Vater zu heiraten. Eigentlich wollte sie lieber die Schule beenden und Anwältin werden, aber sie hatte ihren Eltern nicht wirklich etwas entgegenzusetzen. Ihre Eltern sagten: "Pass auf, der sieht gut aus, er ist fleißig und dir wird es in Deutschland gut gehen - den heiratest du." Damit war es entschieden und sie musste ihn heiraten.
Das war Anfang der 80er-Jahre. Mit 16 musste meine Mutter ihre Familie und ihr ganzes Leben in der Türkei zurücklassen und mit einem fremden Mann in ein fremdes Land mit einer anderen Kultur gehen, dessen Sprache sie nicht verstand. Sie wollte das nicht und sie wollte auch diesen Mann mit seiner Behinderung nicht heiraten. Das war einfach alles zu viel.
Meine Mutter hat mir später erzählt, dass mein Dede, also der Vater meines Vaters, alles andere als nett zu ihr war und ihr ständig vorgehalten hat, dass sie die Schule nicht abgeschlossen hatte. Dabei war das ja gar nicht ihre Entscheidung gewesen.
Und dann wurde sie schwanger. Mit 17.
Sie wusste nicht, dass die Behinderung meines Vaters eine genetische Ursache hatte und dass ich eine Behinderung haben könnte. Keine Ahnung, ob man ihr das absichtlich verheimlicht hat, ob es meiner Familie nicht bewusst war oder ob es einfach nicht zur Sprache gekommen war.
Ich kam am 8. Mai 1983, am Muttertag, auf die Welt, und für meine Mutter brach eine Welt zusammen. Kein Wunder, wenn ich darüber nachdenke: Ein junges Mädchen, das gegen seinen Willen verheiratet wurde, ohne Sprachkenntnisse, bekommt in einem fremden Land ein Kind, das ganz offensichtlich eine Behinderung hat. Sie versteht nicht viel von dem, was um sie herum passiert. Schwestern, Ärzte, alle reden durcheinander. Sie begreift, dass es sehr dramatisch ist, bekommt aber nur die Hälfte mit und kann nicht mal sicher sein, ob die Leute um sie herum richtig übersetzen, weil sie kein Vertrauen zu ihnen hat. Das muss alles sehr schwer für sie gewesen sein. Heute, wo ich selbst Mama bin, kann ich noch viel besser nachvollziehen, was das für sie bedeutet haben muss.
Kaum geboren, wurden bei mir 1001 Untersuchungen gemacht. Ich bin mit Dysmelie zur Welt gekommen, einem Gendefekt, der sich unterschiedlich äußert. Körperteile können vergrößert oder verkleinert sein, andere Formen aufweisen oder fehlen. Ich hatte - man möchte sagen: missgebildete Hände, aber das ist so ein blödes Wort. Sagen wir: Sie haben eine sehr spezielle Form. Auf Englisch nennt man es "Lobster Claw Syndrome" - also...
Dateiformat: ePUBKopierschutz: Wasserzeichen-DRM (Digital Rights Management)
Systemvoraussetzungen:
Das Dateiformat ePUB ist sehr gut für Romane und Sachbücher geeignet - also für „fließenden” Text ohne komplexes Layout. Bei E-Readern oder Smartphones passt sich der Zeilen- und Seitenumbruch automatisch den kleinen Displays an. Mit Wasserzeichen-DRM wird hier ein „weicher” Kopierschutz verwendet. Daher ist technisch zwar alles möglich – sogar eine unzulässige Weitergabe. Aber an sichtbaren und unsichtbaren Stellen wird der Käufer des E-Books als Wasserzeichen hinterlegt, sodass im Falle eines Missbrauchs die Spur zurückverfolgt werden kann.
Weitere Informationen finden Sie in unserer E-Book Hilfe.