Schweitzer Fachinformationen
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Mr Bernard Wilkes, seines Zeichens Verwalter und Archivar der berühmten altehrwürdigen Bibliothek der Universitäten von Oxford, zog die Schublade seines Schreibtisches auf, in der seine Taschenuhr lag.
Gleich fünf.
Die rechte Zeit, um nachzuschauen, ob sich noch jemand in den gut behüteten Räumen aufhielt, über die er wachte, ehe er die Türen schloss.
Das Aufziehen der Schublade war mehr eine Marotte als eine notwendige Handlung für ihn, denn Mr Wilkes hatte in den beinahe zwanzig Jahren, die er nun bereits im Dienste der Bibliothek stand, ein nahezu untrügliches Gespür für Zeit entwickelt. Es wäre nicht notwendig, auf die Uhr zu schauen. Ganz und gar nicht. Er hatte es im Gefühl, wenn die rechte Zeit gekommen war.
Mr Wilkes kannte keine Eile.
Eile war etwas, das nicht in diese Umgebung passte. Die ersten Steine des alten gotischen Gebäudes waren im Mittelalter gesetzt worden. Könige und berühmte Gelehrte hatten in diesen Räumen studiert und taten es noch. Nein, nichts und niemand gemahnte einen hier zur Eile. Zu Pünktlichkeit vielleicht, zu Ordnung und Anstand. Nicht jedoch zu Hast und Eile. Der Fluss der Zeit war ewig und konstant.
Wenn Mr Wilkes am späten Nachmittag seinen Rundgang antrat, die Lichter löschte, vergessene Bücher in die deckenhohen Regale zurückstellte und nachschaute, ob sämtliche Durchgänge und Türen sorgfältig verschlossen waren, spürte er jedes Mal sehr deutlich: Die Bibliothek mit all ihrem Wissen würde auch in fünfhundert Jahren noch genau hier an dieser Stelle stehen. Eine unsterbliche Göttin, unter deren Blick ein Menschenleben nicht länger währte als ein Wimpernschlag. Er und all die studierten Leute, die Studenten mit ihren Kladden und die Professoren mit ihren Macken und Schrullen, all die geduldeten Besucher wären dann längst nichts weiter mehr als bloß noch eine vage Erinnerung.
Er griff gelassen in die Schublade und nahm die Whiskyflasche und einen kleinen Silberbecher heraus, die darin lagen, dann schenkte er sich ein und stellte den kleinen Becher, ohne davon zu trinken, auf den Schreibtisch, ehe er sich erhob, um seine letzte Runde anzutreten. Wie alles um ihn herum wäre auch der Whisky noch hier, wenn er zurückkam.
Wenn er zurückkam.
Soweit er sagen konnte, hielten sich zu diesem Zeitpunkt noch drei Personen im Lesesaal auf.
Carstairs, ein Student der Rechtswissenschaften, den die Bibliothek für Hilfsarbeiten bezahlte und der sicherlich nach Schließung der Räume noch bis halb sieben blieb, um Papiere zu sortieren und abzuheften. Professor William Glaister, der Altgrieche, wie Mr Wilkes ihn insgeheim nannte - ein Mann, der Sonderrechte genoss, weil seine Familie jährlich eine stattliche Summe Geldes an die Bibliothek spendete - und Professor Alistair Hargraves.
Der hatte vor etwa einer halben Stunde nach einem Buch gefragt. Wilkes hatte ihm die Regalnummer herausgesucht und ihn daran erinnert, dass ihm nicht mehr als dreißig Minuten blieben.
Hargraves, der dafür bekannt war, kaum noch auf seine Uhr zu achten und Raum und Zeit zu vergessen, sobald er erst mal in der Bibliothek an etwas arbeitete, hatte ihm versichert, er würde nicht mehr als fünfzehn, allerhöchstens zwanzig Minuten benötigen. Und nun war er noch immer nicht wieder zurück.
Mr Wilkes seufzte, dachte, dass er mal wieder ein ernstes Wort mit dem Professor würde sprechen müssen, und wollte eben nach seinem Schlüsselbund greifen und sich auf den Weg machen, als die Tür zur Eingangshalle geöffnet wurde und Miss Hill den Empfangsraum betrat.
Bernard Wilkes, unverheiratet und mit seinen zweiundfünfzig Jahren weit über das Alter hinaus, wo er noch damit rechnete, eines Tages zu heiraten, geschweige denn eine Familie zu gründen, spürte, wie sein Herz beim Anblick der jungen Frau einen freudigen Sprung machte.
»Guten Abend, Miss Hill«, sagte er in einem Ton, der, wie er hoffte, nicht verriet, was in ihm vorging, und tippte sich mit zwei Fingern zum Gruß an die Stirn. »Herrlicher Tag, nicht wahr?«
Miss Hills strahlend blaue Augen leuchteten wie kostbare Aquamarine. »Oh ja, Mr Wilkes«, entgegnete sie lächelnd und deutete einen Knicks an, wobei sie den Saum ihres schlichten Kleides ein wenig anhob.
Mr Wilkes wusste kaum etwas über sie. Dem Akzent nach musste sie gebürtig aus Irland stammen. »Ein besonders schöner Tag. Vielleicht eine Spur zu heiß um die Mittagsstunde.«
»Gewiss.«
Jedes Mal, wenn er Miss Hill sah, ging ihm das Herz auf. Er war indes stets sorgsam darauf bedacht, unverfänglich zu bleiben und sich nicht anmerken zu lassen, welche Gefühle sie in ihm auslöste.
Sie war wunderschön, hatte makellose weiße Haut, lustige Sommersprossen auf der Stirn und feuerrotes Haar, das ihre blauen Augen noch mehr zur Geltung brachte, und das sie für gewöhnlich offen trug. Eine Ungezogenheit, die sich keines der Hausmädchen erlaubt hätte, die in den Familien der Professoren ihren Dienst taten. Und dann ihr Lächeln. Sie hatte das bezauberndste Lächeln, das Mr Wilkes jemals gesehen hatte. Ohne indiskret zu werden, hatte er nicht in Erfahrung bringen können, wie alt sie war. Er schätzte sie auf Anfang dreißig.
Obwohl Mr Wilkes nicht einmal ihren Vornamen kannte, malte er sich gelegentlich aus, wie es sein würde, Miss Hill einmal bei Kerzenschein gegenüberzusitzen.
Wie gerne würde er sie eines Tages fragen, ob sie ihn ins Pub begleiten oder mit ihm ein Restaurant aufsuchen würde. Sie war eine von seinesgleichen. Standesschranken gab es zwischen ihnen nicht zu beachten. Wäre er nur mutiger gewesen. Doch er war sich nicht sicher, wie sie darauf reagierte. Sie nach einer Verabredung zu fragen, hatte er noch nicht gewagt. Und würde es vermutlich niemals tun. Er neigte nicht zu Leidenschaft, Mut und Abenteuer, war kein feuriger Liebhaber, war es nie gewesen.
Er liebte die Romantik.
Und so hatte er sich nie ein Herz gefasst und ihr gestanden, wie gern er sie mochte. Seit er ihr vor etwa einem Jahr das allererste Mal begegnet war, begnügte er sich damit, sie in aller Stille und aus der Ferne zu verehren.
Bis auf einige kurze Konversationen, in denen es lediglich um die Arbeit für die Bibliothek, das Wetter oder eine kleine Besorgung gegangen war, hatte er noch kein privates Gespräch mit ihr geführt.
Er legte den Federhalter vor sich auf die Schreibtischunterlage. »Äh, Miss Hill?«
Sie blieb stehen und wandte sich zu ihm um. »Ja, Mr Wilkes?«
Er versuchte, sich seine Nervosität nicht anmerken zu lassen. »Ich frage mich, ob es Ihnen etwas ausmachen würde, mir einen Tee zu bringen?«
»O, gewiss nicht. Liebend gerne. Ich wollte ohnehin eben in die Küche hinübergehen.« Sie schenkte ihm ein Lächeln, das ihre Nase kräuselte, und strich sich eine widerspenstige rote Locke aus dem Gesicht. Mr Wilkes wurde ganz warm ums Herz. Sie kam näher, trat ganz dicht an seinen Schreibtisch heran. Den Kopf schief gelegt wie eine junge Katze sagte sie dann: »Wenn Sie mögen, bringe ich Ihnen auch noch ein paar Kekse mit.«
»Das .« Er schluckte und während er spürte, wie er errötete, blinzelte er nervös. »Das ist sehr freundlich von Ihnen. Aber nur, wenn es Ihnen nicht zu viele Umstände macht, Miss Hill. Dann wäre das wirklich wunderbar, ja.«
Wieder lächelte sie ihn an, eine Spur verlegen diesmal. »Es macht mir überhaupt keine Umstände, Mr Wilkes. Das tue ich doch gerne für Sie.«
»Das weiß ich sehr zu schätzen, Miss Hill.« Er hätte sich auf die Zunge beißen mögen, weil er es nicht wagte, ihr zu sagen, was er für sie empfand. Was wäre so schlimm daran, es einfach zu tun, fragte er sich in einem Anflug seltener Kühnheit. Doch sein Verstand kam ihm auch diesmal dazwischen. Der und sein Anstand.
»Sie sind so ein freundlicher Mann, Mr Wilkes, da mache ich das doch gern.« Sie nahm eine Strähne ihres Haars und wickelte sie sich gedankenverloren um den rechten Zeigefinger. »Immer höflich und immer so zuvorkommend. Das kann man beileibe nicht von jedem Mann hier sagen.«
Das Herz wurde ihm schwer. Plötzlich hatte er das Gefühl, einen Teerklumpen verschluckt zu haben. »Was meinen Sie damit, Miss Hill?«
Sie errötete und senkte den Blick. »Ach nichts, Mr Wilkes. Ich stelle mich bloß an.« Dann lächelte sie wieder »Es ist wirklich nichts weiter.«
Mr Wilkes war mit der Antwort nicht zufrieden. »Hat sich jemand Ihnen gegenüber ungebührlich verhalten?«
»Nicht gerade ungebührlich«, antwortete sie. »Aber...
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